Geschichte der Juden in Polen im 20. Jahrhundert

: Die "Judäo-Kommune" - ein Feindbild in Polen. Das Polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939-1948. Paderborn 2007 : Ferdinand Schöningh, ISBN 3-7705-3960-5 284 S. € 39,90

: Zwischen Davidstern und Roter Fahne. Die Juden in Polen im XX. Jahrhundert. Berlin 2007 : Kai Homilius Verlag, ISBN 3-89706-865-6 278 S. € 19,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Vor dem Völkermord war Polen das Land mit der größten jüdischen Bevölkerung. Über drei Millionen Juden lebten dort als religiöse wie als nationale Gemeinschaft. Doch galten sie zumeist als Fremde, oft als Feinde. Ihre großen Kulturleistungen waren weltweit anerkannt, wurden aber nur selten von ihren nichtjüdischen Nachbarn entsprechend wahrgenommen. Sogar nach dem Holocaust verschwanden die Probleme nicht. Zwischen 1946 und 1968 verließen die meisten der Überlebenden aus Polen, und dies nicht immer freiwillig. Die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in Polen ist zu Ende, doch keineswegs die emotionsgeladene Debatte um sie.1

Ein Schlüsselwort dieser Kontroversen ist der abwertende Terminus „Żydokomuna”, meist als „Judenkommune”, bisweilen auch als „Judäo-Kommune” übersetzt. Das Schlagwort entstand im Polnisch-Sowjetischen Krieg (1919-1921), in dem die Juden pauschal der Unterstützung für die Bolschewiki angeklagt wurden.

In der Tat besaß die polnische kommunistische Partei in der Zwischenkriegszeit Ansehen unter der jüdischen Bevölkerung, nahm sie doch, ebenso wie die polnische Sozialdemokratie, eindeutig gegen den grassierenden Antisemitismus Stellung. 1936 waren acht der fünfzehn KP-Leitungsmitglieder Juden; fast alle von ihnen wurden unter Hitler oder Stalin ermordet. Ein Viertel der Parteimigliedschaft war jüdischer Herkunft, in den Parteizellen der Großstädte lag der jüdische Anteil deutlich höher.

Im September 1939 sahen die meisten Polen die sowjetische Armee, die den Ostteil des Landes besetzte, als Invasionsarmee, ähnlich der deutschen Wehrmacht. Viele dort lebende Juden, bezeugt ist dies von Stanisław Jerzy Lec und Adam Schaff, erblickten in der Roten Armee jedoch eine Kraft, die sie vor den Nazis schützte.

Hier setzt das Buch von Agnieszka Pufelska ein, das aus einer 2005 an der Universität Frankfurt (Oder) verteidigten Dissertation hervorging. Die Vorstellung, Juden seien für den Kommunismus besonders anfällig, während zum guten Polentum der Antikommunismus wie selbstverständlich dazugehöre, war vor 1939 eine Denkfigur nicht nur der nationalistischen polnischen Rechten, sondern sogar mancher Liberaler. Die Anwesenheit sowjetischer Truppen, die oft von russischsprechenden, wenngleich aus Polen stammenden Juden assistiert wurden, gab dieser Denkfigur dann gewaltigen Auftrieb. Doch obwohl manche Polen unter deutscher Herrschaft ein nur wenig besseres Schicksal als die Juden erwartete, blieb die Kluft zwischen Juden und nichtjüdischen Polen unüberbrückbar. Der jüdischen Hoffnung auf die Rote Armee (und selbst auf Stalin) als echter Alternative zu Hitler stand die Vorstellung einer jüdischen Fünften Kolonne entgegen: Juden würden sich zu Handlangern eines Regimes machen, das ebenso wie die Nazis zu bekämpfen sei. So erfüllte, während die jüdische Bevölkerung Polens ausgerottet wurde, die Idee einer jüdisch-kommunistischen Verschwörung geradezu „die Funktion einer identitätsstiftenden Weltanschauung” – so das Fazit der Autorin (S. 251). Dagegen stellt sie die (allerdings kritisch zu diskutierende) These, die meisten Juden seien gerade in den von der Sowjetunion besetzten Gebieten „vehemente Antikommunisten” gewesen oder geworden, da ihr Anteil unter den ins Landesinnere der UdSSR Deportierten gegenüber den Nichtjuden um das Dreifache höher gewesen sei (S. 88). Nicht selten rechneten sowjetische Geheimdienstler dabei mit wirklichen oder angeblichen Trotzkisten wie mit sonstigen kommunistischen Oppositionellen ab, unter denen der jüdische Anteil tatsächlich bemerkenswert hoch war (S. 84).

Mit großer Detailkenntnis rekonstruiert Agnieszka Pufelska ein besonders dunkles Kapitel polnisch-jüdischer Beziehungen: die Legitimierung von Judenmorden unter deutscher Besatzung. „Wenn die Deutschen zu uns kommen”, schrieb am 29. Juni 1941 ein polnischer Priester in sein Tagebuch, „kann mit den Juden was Böses passieren, zumal die Juden eng mit den Kommunisten und dem NKWD zusammengearbeitet haben. Die durch die bolschewistischen Verbrecher verfolgte Bevölkerung hat ihnen viel vorzuwerfen.” (S. 88) Nicht nur in Jedwabne, sondern in rund fünfzig weiteren Orten verübten Polen nach dem deutschen Einmarsch Pogrome an ihren jüdischen Mitbewohnern. Noch sechzig Jahre später sah der Historiker (und einstige Solidarność-Aktivist) Tomasz Strzembosz darin lediglich einen „Racheakt“ für die Kollaboration von Juden mit der sowjetischen Armee (S. 90). Doch wurden durch polnische Hilfe zwischen zwanzigtausend und vierzigtausend Juden gerettet, und mindestens eintausend Polen wurden als Helfer der Juden von den deutschen Besatzern hingerichtet (S. 187). Im Warschauer Ghettoaufstand leisteten Untergrundkämpfer der Polnischen Heimatarmee den jüdischen Märtyrern Unterstützung, doch sogar dann blieb der Argwohn bestehen, diese Unterstützung könne in erster Linie Kommunisten gelten (S. 135f.).

Zur gleichen Zeit nutzte die deutsche Propaganda die Toten von Katyń, „um antikommunistische wie antisemitische Ressentiments und Ängste der polnischen Bevölkerung vor der näher rückenden Roten Armee für eigene Zwecke zu mobilisieren“, so die Autorin (S. 138). In polnischsprachigen, aber in deutschem Auftrag verfassten Broschüren wurden jüdische Sowjetfunktionäre wie Lazar Kaganowitsch als Schreckbilder gezeichnet, gegen deren drohende Herrschaft Polen und Deutsche zusammen kämpfen sollten.

Doch auch die polnische Exilregierung war über der Frage eines künftigen Verhältnisses zu den Juden gespalten: Während Premier Sikorski den Antisemitismus klar verurteilte, hielt eine Reihe seiner Anhänger am Mythos der Juden als Inkarnation des Bösen fest. Das Zerrbild vom verräterischen Juden blieb sogar dann bestehen, als der Anteil jüdischer Freiwilliger in einigen Einheiten der Anders-Armee bis auf vierzig Prozent anstieg. General Anders selbst hegte keinen Zweifel, dass sich unter ihnen zahlreiche sowjetische Agenten befänden (S. 151). Mit der Verlegung der Anders-Armee in den Nahen Osten desertierte ein hoher Prozentsatz der wenigen jüdischen Soldaten, denen die Sowjetunion die Ausreise erlaubt hatte, nach Palästina. Dort verstärkten viele von ihnen die jüdischen paramilitärischen Organisationen. Doch trug auch dies zur Verschärfung des polnisch-jüdischen Konfliktes bei. Die auf Anordnung Stalins in der UdSSR neu formierte polnische kommunistische Partei suchte sich ebenfalls zum Sprecher nationaler Interessen zu machen und hielt sich gegenüber den berechtigten Wünschen der Juden nach angemessenem Schutz in einem künftigen Polen öffentlich zurück. Auch fanden Juden in kommunistischen (wie nichtkommunistischen) Publikationen als von den Nazis besonders verfolgte Gruppe relativ selten Erwähnung, sollte doch das Bild der Polen als Hauptopfer erhalten bleiben.

Nachdem die polnischen Kommunisten im Gefolge der Roten Armee zum wichtigsten inneren Machtfaktor im neuen Staat geworden waren, rekrutierten sie eine beträchtliche Anzahl von Juden für die zu besetzenden Funktionen in Armee, Verwaltung und Geheimpolizei. Zur Symbolfigur für den hohen kommunistisch-jüdischen Geheimdienstmann wurde Politbüromitglied Jakub Berman. So besaß der antikommunistische Untergrundkampf, der noch bis in die zweite Hälfte der 1940er-Jahre andauerte, eine starke antisemitische Note. „Weg mit dem judäo-bolschewistischen System und seinen Dienern!“, hieß es in einem der zahlreichen Flugblätter (S. 196). Judenfeindliche Exzesse, so im Juli 1946 in Kielce, folgten. Auf wessen Konto das Kielcer Pogrom geht, kann auch Agnieszka Pufelskas Buch nicht eindeutig beantworten.

Beim Übergang zum Stalinschen Einparteisystem suchten sich die polnischen Kommunisten des Stigmas der „Żydokomuna” zu entledigen. Kein anderer als Jakub Berman schrieb, die polnische KP sei eine “nationale Partei”, und Władysław Gomułka befleißigte sich in einem Brief an Stalin antisemitischer Rhetorik, was freilich seine (zeitweilige) Entmachtung nicht verhinderte (S. 231f.). Aber nicht in Warschau, sondern in Prag wurde der erste antisemitische Schauprozess des Kommunismus in Szene gesetzt.

Die Vorgeschichte der Ereignisse, die Agnieszka Pufelska in ihrem Buch thematisiert, behandelt auch Holger Michaels Darstellung über Juden und Polen im 20. Jahrhundert. Sein Buch füllt vor allem im deutschsprachigen Raum eine empfindliche Lücke, denn eine umfassende Darstellung der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in Polen fehlte hier bislang. Zudem enthält es im Anhang eine Liste bedeutender polnisch-jüdischer Persönlichkeiten.2 Das Buch beruht zumeist auf gedruckten Quellen und Sekundärarbeiten aus Polen (Da die Arbeiten von Agnieszka Pufelska und Holger Michael zeitgleich erschienen sind, konnten die Forschungsergebnisse der jeweils anderen Darstellung nicht verwertet werden.).

Michaels Buch ist in vier Teile gegliedert: die Zwischenkriegszeit 1918-1939, die Katastrophe 1939-1945, das Schicksal der Überlebenden 1945-1952 sowie den „Exodus der Letzten“. Der Autor konzentriert sich auf die Analyse der polnisch-jüdischen Beziehungen im Polen der Zwischenkriegszeit sowie der Volksrepublik, während die Ausführungen zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust vorhandene Forschungsergebnisse zusammenfassen.

Stärker noch als Agnieszka Pufelska betont Holger Michael, dass Juden und Polen zwei eigenständige Nationen waren, die trotz vieler Beziehungen in separaten kulturellen Milieus existierten. Ohne die Anerkennung dieser Tatsache sei eine Analyse der polnisch-jüdischen Beziehungen unmöglich. In Westeuropa, doch auch in Deutschland und Österreich, suchten sich die Juden in ihrer nichtjüdischen Umwelt zu assimilieren. Die Sowjetunion habe hingegen die Juden als Nationalität anerkannt und zugleich ihre Lebensbedingungen denen der russischen oder ukrainischen Umwelt anzugleichen gesucht. Dies verlief indes konfliktreicher, als bei Michael nachzulesen ist.

Keiner der beiden Wege war in der Zweiten Polnischen Republik vor 1939 denkbar gewesen, so der Verfasser. Vielmehr habe die historische Entwicklung, die den Juden einen Platz vor allem im städtischen Handel und den freien Berufen zuwies, für ein Fortbestehen der nationalen Merkmale des jüdischen Volkes gesorgt. Juden stellten in der Zwischenkriegszeit über fünfzig Prozent der Handelsbourgeoisie, und zwei Drittel der kleineren Geschäfte befanden sich in jüdischem Besitz. In den 1930er-Jahren gehörten ihnen aber auch ein Drittel aller Industriebetriebe, was von ihrem wirtschaftlichen Aufstieg zeugt, der wiederum Neidgefühle hervorrief (S. 19). Zwar begrüßten 1917-18 die Juden das Ende der zaristischen Herrschaft und die Errichtung eines eigenständigen polnischen Staates. Zugleich aber stieß der betont national-polnische Charakter der neuen Republik unter ihnen auf Skepsis. Dies führte, so Michael, unter den Polen zur weitverbreiteten Ansicht, die Juden nach der Unabhängigkeit 1918 pauschal als Fremdkörper zu betrachten. Als nichtchristliche Volksgruppe waren sie zudem religiösen Vorurteilen ausgesetzt. Die aus all dem resultierenden Spannungen entluden sich bereits 1918 in einer Reihe blutiger Pogrome. Diese stellten die Weichen für eine fortdauernde Distanz der meisten Juden zum polnischen Nationalismus, als dessen Produkt der neue Staat galt.

Der spätere Staatschef Józef Piłsudski war jedoch ein Gegner des Antisemitismus und suchte judenfeindliche Vorurteile zuerst in der Polnischen Legion, dann in der Armee des neuen Staates zurückzudrängen. So stiegen immerhin fünf Juden bis in Generalsränge auf (S. 69). Doch der entsprechende Passus in der Verfassung vom März 1919, die die Gleichberechtigung aller Volksgruppen festlegte, galt vielen polnischen Nationalisten als ein von den Westmächten aufgenötigtes Zugeständnis, dessen man sich rasch entledigen könne. So brandmarkten vor allem Politiker der rechtsstehenden Nationaldemokratischen Partei den Gebrauch des Jiddischen in Bildungseinrichtungen als „mitteldeutschen Dialekt“ und als Ausdruck einer „Germanisierung“, die den nationalen Interessen Polens zuwiderlaufe (S. 100).

Bedrückend lesen sich die zahlreichen Beispiele antisemitischer Agitation von Seiten katholischer Geistlicher wie auch an den Hochschulen. Dabei betont Michael, dieser habe kein mit dem deutschen Faschismus vergleichbarer Antisemitismus der Ausrottung zugrunde gelegen. Hingegen sei der Kampf um eine wirkliche Gleichberechtigung der Juden im gesellschaftlichen Leben Polens von nationalistischer Seite immer wieder als Ausdruck angeblicher „Überfremdungsbestrebungen“ geschmäht worden. So nimmt es nicht Wunder, das die Arbeiterbewegung, und dies schloss Kommunisten, Sozialdemokraten und den internationalistisch orientierten Jüdischen Arbeiterbund ein, viele Anhänger unter den Juden fanden, wenngleich die Mehrheit von ihnen an bürgerlichen Denk- und Verhaltensweisen festhielt. Der Zionismus hatte sowohl im bürgerlich-jüdischen Milieu wie in seiner sozialistischen Variante zwar eine nennenswerte Anhängerschaft, blieb jedoch insgesamt eine Minderheitenströmung. Der Gedanke einer Auswanderung nach Palästina lag den meisten Juden fern. Kein polnischer Jude (oder Nichtjude) in Polen vermochte sich vorzustellen, dass eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes diese Frage auf eine neue Ebene heben könnte.

Der Autor schildert Vernichtung, polnische Kollaboration und jüdischen Widerstand. Er zeigt das tödliche Dilemma, vor denen die Vertreter der Judenräte in ihrer von den Besatzern erzwungenen Zusammenarbeit standen. Er nennt polnische Denunzianten aber auch polnische Helden, die verfolgten Juden halfen. Hier hätte eine genauere Auswertung der Forschungsergebnisse, die Władysław Bartoszewski (auch in deutscher und englischer Sprache) vorgelegt hat, das Bild noch abrunden können.3 Wie Agnieszka Pufelska unterstreicht auch Holger Michael, dass die Juden zuallererst die Rote Armee als Befreier ersehnten, und dies unabhängig von ihrer allgemeinen politischen Haltung. Auch ansonsten decken sich die Befunde beider Verfasser in Bezug auf die Ereignisse der Jahre 1939 bis 1945 weitgehend.

Im Kapitel über die Volksrepublik schildert Michael, wie sich die überlebenden oder nach Polen zurückgekehrten Juden, etwa 200.000, unter den neuen Verhältnissen zurechtfinden mussten. Wer im Lande blieb, war bereit, sich auf das sozialistische Experiment einzulassen. Dies betraf auch die Mitarbeit in Partei-, Polizei- und Sicherheitsorganen. Jüdische Sicherheitsbeamte verfolgten mit besonderer Härte die Reste des ebenso antikommunistischen wie antisemitischen Widerstandes. Doch sie waren auch, und dieses bis heute sehr umstrittene Kapitel hätte eine Behandlung im Buch verdient, maßgeblich an der Vertreibung der Deutschen beteiligt.4

Hat KP-Chef Bolesław Bierut, wie der Autor hervorhebt, aber leider nicht genau belegt, ein Übergreifen des stalinistischen Antisemitismus 1952 auf Polen verhindert (S. 223)? Es war der „Polnische Oktober” von 1956 mit seinen Massenprotesten gegen die Erbschaft des Stalinismus, die zur Herausbildung zweier Gruppierungen in der Partei führten (S. 224). Dies waren die „Pulawy-Gruppe” (benannt nach der Pulawska-Straße in Warschau, der Adresse von Leon Kasman, dem ehemaligen Redakteur des KP-Organs „Tribuna Ludu”) und die „Natoliner” (benannt nach dem Ort Natolin bei Warschau). Zur Pulawy-Gruppe gehörten jüdische Parteifunktionäre, so Jakub Berman und Hilary Minc, „die in der Vergangenheit Vertreter eines harten Kurses [gewesen] waren und nun zu ‘Demokraten’ und ‘Reformatoren’ mutierten” (S. 226f.). Ihre Gegner, die „Natoliner”, waren gegen die Liberalisierung. Zu ihnen gehörten General Józwiak und Vize-Innenminister Witaszewski, doch schob sich bald General Mieczysław Moczar, ein Partisanenführer des Krieges, in den Vordergrund.

Dessen Stunde schlug im Frühjahr 1968: Moczar, der nunmehrige Innenminister, spielte eine maßgebliche Rolle bei der antisemitischen Kampagne in Folge der studentischen März-Unruhen. Dargestellt wird der Grad an moralischer Verkommenheit innerhalb der Parteiführung, des Apparates, aber auch der Arbeiterschaft. Dies wurde zum Wendepunkt in der Haltung der polnischen Rechten gegenüber den Juden: Nunmehr galt, laut Michael, die Solidarität mit jenen Juden, die Polen verließen, als Ausweis antikommunistischer Gesinnung. Der Autor verwendet indes die Begriffe „Rechte“ und „Linke“ zu undifferenziert, gelten ihm doch auch liberale Kritiker des Kommunismus als „rechts“. Der Exodus nunmehr auch jener Juden, die ursprünglich mit den Kommunismus verbunden waren, ließ nur eine verschwindend kleine Zahl in Polen zurück; die Schätzungen reichen von fünf- bis fünfzehntausend. Doch auch diese winzige Minderheit wurde Gegenstand antisemitischer Vorurteile.

Schließlich geht der Verfasser noch mit jenem Teil der katholischen polnischen Geistlichkeit scharf ins Gericht, der sich um den Rundfunksender „Radio Maryia“ und die Zeitung „Nasz Dziennik“ gruppiert hat. Dieses Blatt kommentierte 2007 die Ernennung des neuen polnischen Botschafters in Berlin, Marek Prawda, mit den Worten, ihm stünden die Interessen von Deutschen und Juden näher als diejenigen Polens.5 Die wahren Interessen von Polen, Juden oder Deutschen liegen aber in der Aufarbeitung der Vergangenheit. Deren Kenntnis ist allein keine hinreichende, aber notwendige Bedingung, Antisemitismus und jedem Rassismus zu begegnen. Die beiden hier besprochenen Bücher können dafür wichtiges Wissen vermitteln, aber viel bleibt noch zu tun.

Anmerkungen:
1 Dies zeigen auch die Kontroversen um das Buch von Gross, Jan T., Fear. Anti-Semitism in Poland After Auschwitz. An Essay in Historical Interpretation, New York 2006, dessen polnische Ausgabe zu Beginn des Jahres 2008 erschien.
2 Hier fehlt es bei der Erstellung der Todesdaten mitunter an Sorgfalt. Zudem wurde Julian Marchlewski, der kein Jude war, in der Reihe aufgeführt. Hingegen fehlen bedeutende Naturwissenschaftler, so die Nobelpreisträger Tadeusz Reichstein und Joseph Rotblat, doch z.B. auch der Soziologe Feliks Gross und der Dokumentarfilmer Jerzy Bossak.
3 Bartoszewski, Władysław, Vergossenes Blut uns verbrüdert. Über die Hilfe für Juden in Polen während der Okkupation, Warszawa 1970; ders.; Lewin, Zofia (Hrsg.), Righteous Among Nations. How Poles Helped the Jews, 1939-1945, London 1969.
4 Vgl. hierzu Sack, John, Auge um Auge. Die Geschichte von Juden, die Rache für den Holocaust suchten, Hamburg 1995 (amerikan. Ausgabe: New York 1993).
5 Nach einer Mitteilung der Zeitschrift „Polen und wir“ 4 (2006), S. 6.

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