Chr. Mann: Die Demagogen und das Volk

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Titel
Die Demagogen und das Volk. Zur politischen Kommunikation im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr.


Autor(en)
Mann, Christian
Reihe
Klio. Beihefte 13
Erschienen
Berlin 2007: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfried Schmitz, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich Wilhelms-Universität Bonn

Die Demagogen stellen ein Spezifikum der attischen Demokratie dar. Sie übten kein Amt im engeren Sinne aus und unterlagen keiner formalen Rechenschaftspflicht, bestimmten aber wesentlich die Richtung der athenischen Politik und stellten in vielen Fällen überhaupt erst Handlungsfähigkeit her. Mit seiner Untersuchung zum Verhältnis von Demagogen und Volk behandelt Christian Mann also ein wichtiges Strukturmerkmal der politischen Ordnung Athens. Insbesondere geht es ihm um die Frage, ob die Zugehörigkeit vieler Demagogen zur sozialen Elite ein Fremdkörper in der ansonsten auf Gleichheit und gleichem Zugang zur politischen Partizipation ausgerichteten attischen Demokratie war, also von einer voll ausgebildeten (bzw. radikalen) Demokratie erst gesprochen werden kann, nachdem diese Reminiszenzen einer aristokratischen Herrschaft am Ende des 5. Jahrhunderts v.Chr. überwunden waren.

Ausgangspunkt der Arbeit ist die These von Walter Robert Connor 1, wonach mit dem Tod des Perikles 429 v.Chr. ein markanter Wechsel hinsichtlich der sozialen Herkunft der Demagogen zu verzeichnen ist, der mit einer neuen Form politischen Agierens und einer politischen Kommunikation einherging, die nicht mehr an adeligen Verhaltenscodes orientiert war, sondern bei der die neuen Demagogen vom Schlage eines Kleon, Kleophon oder Hyperbolos in populistischer Manier dem Volk nach dem Mund redeten und eine stark emotional aufgeladene Stimmung erzeugten. Erst mit diesem neuen Politikstil, der wesentlich auf die unterschiedliche Herkunft und Sozialisation der neuen Demagogen zurückzuführen sei, hätte die attische Demokratie verbliebene Elemente aristokratischer Herrschaft hinter sich gelassen und ein letztes aristokratisches Monopol in der Politik beseitigt. Dieser Wechsel im Politikstil, der sich auch auf die Inhalte der Politik auswirkte, lässt sich mit Quellen aus Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges, der aristotelischen Verfassung der Athener und aristophanischen Komödien belegen und ist von der Forschung weithin akzeptiert worden. Diesen zentralen Quellen wendet sich Mann in einem auf die Einleitung folgenden Kapitel unter der Fragestellung zu, ob dieses Bild nicht den tagespolitischen Ereignissen am Ende des 5. Jahrhunderts v.Chr. geschuldet ist.

Mann kann die Ansicht, dass das Jahr 429 v.Chr. einen derart tief greifenden Einschnitt gebildet hätte, überzeugend widerlegen. In einer breit angelegten Strukturanalyse (S. 97–190) untersucht er in systematischer Form vier Bereiche, die für griechische Adelige im 6. und 5. Jahrhundert v.Chr. von großer Bedeutung waren, wollten sie ihre soziale Stellung demonstrieren und damit soziale Distinktion herstellen: (politische) Freundschaften, die Abstammung von einer adeligen Familie (also die eugéneia), Reichtum und höhere Bildung. Zweifelsohne hätten diese Kriterien den Demagogen des frühen und mittleren 5. Jahrhunderts v.Chr. soziales Ansehen verschafft, doch für die Durchsetzung politischer Ziele sei die soziale Verankerung nicht wesentlich gewesen. Ganz im Gegenteil hätte dem in der Ekklesie versammelten Volk vermittelt werden müssen, dass politische Freundschaften oder Reichtum keinerlei Einfluss im politischen Raum haben durften. So lässt sich bereits für die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts ein inszenierter Verzicht auf politisch relevante Freundschaften belegen; der eigene Reichtum wird demonstrativ dem Demos zur Verfügung gestellt.

In diesem Teil der Arbeit gelingt Mann der Nachweis, dass eine strikte Trennung von politischer und sozialer Ordnung ein Wesensmerkmal der attischen Demokratie war. Persönliche Bindungsverhältnisse vertikaler oder horizontaler Art, Reichtum und Bildung waren zumindest auf der institutionellen politischen Ebene nicht unmittelbar wirksam. Eine Veränderung in der sozialen Herkunft der Demagogen tangierte daher die Spielregeln in der Politik nicht. Dieses Ergebnis, das auf einer Linie mit Beiträgen von Moses I. Finley, Christian Meier, Jochen Martin und Sally Humphreys liegt, die ebenfalls – ganz im Gegensatz zur politischen Ordnung der römischen Republik – die Trennung von politischem Raum und sozialer Ordnung betont haben, ist von Mann überzeugend herausgearbeitet und durch viele Einzelbelege gestützt worden. Mit diesem Ansatz gelingt es, eine (scheinbare) Paradoxie der attischen Demokratie, die politische Gleichheit aller Bürger bei einer gleichzeitigen starken sozialen Ungleichheit, aufzulösen.

In Athen achtete das Volk peinlich genau darauf – und die Demagogen ließen sich auf dieses Spiel ein –, dass keinerlei soziale Vorteile die nominelle politische Gleichheit störten. Wer durch politische Freundschaften, Reichtum, Verweis auf seine edle Abkunft oder höhere Bildung politische Vorteile zu erringen versuchte, wurde durch Ostrakismos oder ein Rechts- bzw. Rechenschaftsverfahren abgestraft. Die Radikalität der attischen Demokratie wird mit dieser konsequenten Ausschaltung alles Sozialen deutlich vor Augen geführt. Für unser Bild von der attischen Demokratie hat dies weitreichende Konsequenzen. So ergeben sich daraus neue Argumente für die Frage, wann die Demokratie in Athen voll ausgebildet war. Die Meinung, dass dies erst mit den Reformen des Ephialtes der Fall war, gerät ins Wanken, wenn nachzuweisen ist, dass eine solche politische Kultur, wie Mann sie herausarbeitet, bereits vorher wirkmächtig war.

Die Ergebnisse von Mann legen zudem eine neue Bewertung nahe, welche politischen Reformen und Ereignisse im Laufe des 5. Jahrhunderts v.Chr. Zäsuren in der Entwicklung der attischen Demokratie darstellen. Nicht die Reformen des Ephialtes bzw. der Tod des Perikles hätten einschneidende politische Änderungen in den Strukturen der attischen Demokratie mit sich gebracht, sondern die Einführung des Ostrakismos und die Verbannung von Demagogen in der Zeit zwischen und unmittelbar nach den Perserkriegen.

Ergänzt wird die strukturelle Analyse durch eine Prozessanalyse, die dazu dient, die Ergebnisse aus dem ersten Teil einer Kontrolle zu unterziehen. Mann wendet sich in einem weiteren Hauptteil der Arbeit (S. 191–289) den Ereignissen der Jahre 415–411 v.Chr. zu. Es war die Zeit, in der Angehörige adeliger Familien, organisiert in Hetairien, also verschworenen Freundschaftszirkeln, in die Politik eingriffen. Durch einen gezielt herbeigeführten Skandal bewirkten sie eine politische Verunsicherung in einer außenpolitisch brisanten Situation. Kennzeichnend ist, dass diese Personen außerhalb der politischen Institutionen und unabhängig von den politischen Handlungsmaximen agierten. Mann bezeichnet dies als einen „Einbruch des sozialen Systems in die Politik“. Denn die Hetairien arbeiteten darauf hin, die politische Ordnung so zu verändern, dass sozialer Zugehörigkeit wieder Bedeutung in der Politik zukam.

Die Oligarchen von 411 v.Chr. räumten einer sozialen Elite Vorrechte ein und beschränkten das volle Bürgerrecht auf diejenigen, die in der Lage waren, sich als Hopliten auszurüsten. Politische Partizipation war wieder, allerdings nur kurzfristig, abhängig vom sozialen Status. Dieser „Einbruch des sozialen Systems in die Politik“ ist auch an der Person des Alkibiades zu verfolgen, der ganz im Gegensatz zu den anderen Demagogen des 5. Jahrhunderts v.Chr. seinen Reichtum, seine Siege bei panhellenischen Spielen, sein aristokratisches Gebaren inszenierte. Er sollte dafür zwar durch Ostrakismos gestraft werden, doch gelang es stattdessen, Hyperbolos zum Opfer des Scherbengerichts zu machen. Trotz seiner Flucht nach Sparta, anschließend zu den persischen Satrapen gelang es Alkibiades erneut, in führender Position die Politik Athens zu bestimmen und wiederum einer der einflussreichsten Demagogen zu werden. Mann sieht Alkibiades als denjenigen, der den Aristokraten den Weg ebnete, einen oligarchischen Putsch zu wagen.

Trotz der großen Zahl von Arbeiten zur attischen Demokratie gelingt Mann mit seinem Ansatz ein neuer Blick auf grundlegende Strukturprinzipien. In klarer Systematik werden die sozialen Voraussetzungen, die in archaischer Zeit die Position eines Aristokraten ausgemacht haben, für das 5. Jahrhundert v.Chr. untersucht. Mann kommt zu dem Schluss, dass bereits unmittelbar nach den Perserkriegen diese grundlegenden Prinzipien der attischen Demokratie, insbesondere die Etablierung eines autonomen politischen Raums, ausgebildet waren. Diese Ansicht ist sicherlich zu einem Gutteil dem konsequent als Systemanalyse angelegten Ansatz im ersten Teil geschuldet.

Dabei scheinen mir allerdings einige historische Prozesse zu gering gewichtet zu sein, wie z.B. die Reformen des Ephialtes und Perikles. Gerade bei den Reformen der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr. wäre eine stärkere Auseinandersetzung mit den Ausführungen Jochen Martins 2 wünschenswert gewesen, der gewichtige Argumente für die Sicht darlegt, wie stark ein Einfluss von Adeligen in dieser Zeit noch gewesen sein dürfte. Indem Ephialtes die Rechenschaftspflicht vom Areopag auf Rat und Volk übertrug und Perikles für politische Tätigkeiten Diäten einführte, wurden wesentliche Beiträge geleistet, soziale Ungleichheiten aus dem politischen Raum weiter zurückzudrängen. Auch wendet sich Mann nicht der Frage zu, warum in Athen dieser für vormoderne Gesellschaften so außergewöhnliche Weg einer strikten Trennung von politischem und sozialem System gegangen wurde, und wo die historischen Bedingtheiten für diesen „Sonderweg“ liegen. Auch daraus hätten sich noch einmal zusätzliche Argumente für seine Position gewinnen lassen.

Anmerkungen:
1 Connor, Walter Robert, The new politicians of fifth-century Athens, Cambridge/Mass. 1968.
2 Martin, Jochen, Von Kleisthenes zu Ephialtes. Zur Entstehung der athenischen Demokratie, in: Chiron 4 (1974), 5–42 (wiederabgedruckt in: Kinzl, Konrad [Hrsg.], Demokratia. Der Weg zur Demokratie bei den Griechen, Darmstadt 1995, 160–212).

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