H. Lübbe: Vom Parteigenossen zum Bundesbürger

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Titel
Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten


Autor(en)
Lübbe, Hermann
Erschienen
München 2007: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
143 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Aus dem Schatten des 11. September 2001 und seiner katastrophalen Folgen tritt die Bundesrepublik dieses Jahr ein Stück weit in die Erinnerung eigener Traditionen des Terrorismus zurück und diskutiert den Höhepunkt des RAF-Terrors im Krisenjahr 1977. Soll der Bundespräsident Christian Klar, die damalige Zentralfigur, vorzeitig begnadigen? Claus Peymann, Intendant am Berliner Ensemble, erklärte sich in diesem Zusammenhang die initialen Motive der RAF wieder einmal aus Demokratisierungsdefiziten und der Faschismusvergessenheit der 1960er-Jahre. In einer TV-Diskussion (ZDF-Talk mit Maybrit Illner am 29. März 2007) meinte er den Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch sogar mit abgestandenen Versatzstücken eines eingefahrenen Antifa-Geschichtsbildes belehren zu können.

Gegen solche Zerrbilder richtet sich Hermann Lübbes geschichtspolitische „These“. 1983 konstatierte er in einem vielbeachteten Vortrag „Der Nationalsozialismus im politischen Bewusstsein der Gegenwart“ eine offensive und öffentliche „Diskretion“ im „Beschweigen“ nationalsozialistischer Vergangenheit im Interesse gesellschaftlicher Integration und Zukunft. Diese Diskretion betrachtete er zugleich als Chance und „Medium der Verwandlung“ (S. 20). Er formulierte damit aber nicht nur eine moralphilosophisch gehaltvolle These zur Frühgeschichte der Bundesrepublik, sondern auch eine polemische Antithese zur Faschismustheorie und „Verdrängungsthese“ im „Bewusstsein der deutschen Gegenwart“ nach 1968. Lübbe trat der Legende von der gescheiterten normativen Gründung der Bundesrepublik entgegen. Er adressierte seine These nicht primär an die Historiker, die den Nationalsozialismus vom Beginn der Bundesrepublik an zeitgeschichtlich gründlich erforschten, sondern an die öffentliche Geschichtspolitik der 1980er-Jahre.

Mit seinem jüngsten Buch prüft Lübbe denn auch seine These nicht weiter, sondern analysiert deren „Wirkungsgeschichte“. Der Band enthält ein Vorwort, den Vortrag von 1983, eine eingehende Analyse der Wirkungsgeschichte, ein Interview mit Jens Hacke sowie ein kurzes Nachwort.1 Lübbe diskutiert zunächst insbesondere die Einwände von Carola Stern und Hans-Ulrich Wehler als „Sehnsucht nach einer anderen Republik“. Er kontrastiert Helmut Schelskys gelungene Integration seiner NS-Biographie mit dem verleugnenden Identitätswechsel des Germanisten Hans Schneider zu Hans Schwerte und geht dann zur Analyse der neueren Wirkungsgeschichte über. Für die Zeit nach 1989 konstatiert er eine größere Akzeptanz seiner These infolge des Zerfalls ideologischer Alternativen. Weiterhin sieht er aber erhebliche Widerstände gegen seine These unter dem Druck der ‚political correctness’. Auf die Konfrontation des politisch-pragmatischen common sense mit der ideologischen Moralisierung der political correctness zielt seine ganze Darstellung. Im Interview profiliert er sein Denken dabei auch deutlich gegen Jürgen Habermas.

Die Analyse der Wirkungsgeschichte streicht die geschichtspolitische Stellung seiner umstrittenen These in der Bundesrepublik heraus. Lübbe zielt dabei ganz auf die polemischen Widerstände gegen seine Interpretation. Die Auseinandersetzung gilt weniger dem Nationalsozialismus als der politischen Gegenwart. Man könnte die Wirkungsgeschichte noch breiter dokumentieren. Lübbe zielt aber auf die politische Profilierung der Widerstände. Mit der klaren Gegnerschaft der Linken verblasste dieses Profil in den 1990er-Jahren etwas. Die ideologischen Hypotheken des Geschichtsbildes lassen sich heute zwar nicht einfach auf „1968“ zurückführen. Ein Schattengespräch wie die Begnadigungsdebatte um Christian Klar zeigt aber, dass altlinke Geschichtsklitterungen noch zirkulieren. Der wichtigste Beitrag von Lübbes These liegt jedoch jenseits solcher Grabenkämpfe in der Umstellung von einer sozialpsychologischen auf eine sozialphilosophische Auffassung des normativen Umgangs mit geschichtlichen Hypotheken.2

Anmerkungen:
1 Hacke, Jens, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006. Vgl. die Rezension des Verfassers in: Philosophischer Literaturanzeiger 59, 2006, S. 214-218.
2 Dazu auch Albrecht, Clemens u.a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt 1999. Dazu die Rezension des Verfasser in: Philosophischer Literaturanzeiger 54, 2000, S. 15-20.

Kommentare

Von H-Soz-Kult, Redaktion01.04.2008

Aufgrund redaktionsinterner Verzögerungen wurde die Ende März 2007 eingereichte Rezension leider erst im März 2008 veröffentlicht. Wir bitten, die Verzögerung zu entschuldigen.
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