Á. Pogány u.a. (Hrsg.): Für eine nationale Wirtschaft

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Titel
Für eine nationale Wirtschaft. Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg


Herausgeber
Pogány, Ágnes; Kubù, Eduard; Kofman, Jan
Anzahl Seiten
181 S.
Preis
€ 33,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mária Hidvégi, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

In der überaus reichen Literatur über den Nationalismus wird bevorzugt dessen politische Seite analysiert während man dem Wirtschaftsnationalismus weniger Aufmerksamkeit im Sinne systematischer, theoretischer Untersuchungen schenkte. Maßgeblich von unterschiedlichen Policy-Reaktionen auf die Herausforderungen der aktuellen Globalisierungswelle beeinflusst, wuchs seit den 1990er-Jahren auf den Themenfeldern der politischen Ökonomie und der internationalen Beziehungen ein erneutes Interesse an der Problematik.1 Im Gegensatz zu traditionellen Konzepten wird die Nation in die Analyse des Wirtschaftsnationalismus „zurückgebracht“ und hervorgehoben, dass mit dem ökonomischen Nationalismus eine Reihe unterschiedlicher, darunter auch liberaler Wirtschaftspolitiken verknüpft werden können. Angestrebt ist dabei die Ausarbeitung eines präziseren theoretischen Rahmens.2

Das an der Europa-Universität Viadrina in internationaler Kooperation in den vergangenen Jahren realisierte Forschungsprojekt „Wirtschaftsnationalismus in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert“ untersuchte den Wirtschaftsnationalismus in Richtung seiner historischen Dimensionen, als eine Reaktion auf die Herausforderung der Globalisierung, als Entwicklungsstrategie sowie als prägende Wirtschaftskultur der Region.3 Der vorliegende Band ist im Umfeld des Projektes entstanden. Die im Buch enthaltenen drei Abhandlungen ergänzen die vorherigen einschlägigen Sammelbände der Frankfurter Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas 4 um einige weitere Aspekte.

Das Erscheinen in der Publikationsreihe mag erklären, dass die drei Aufsätze mit einem nur knappen Vorwort und ohne Zusammenfassung der Forschungsergebnisse herausgegeben wurden. Die Autoren untersuchen unterschiedliche Facetten des Wirtschaftsnationalismus in den ostmitteleuropäischen Kernländern vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Daraus ergibt sich insgesamt ein ziemlich detailliertes Bild des ostmitteleuropäischen Wirtschaftsnationalismus. Dies gelang gerade auch dadurch, dass – wie von den Verfassern der letzten beiden Aufsätze ausdrücklich betont – zahlreiche Gemeinsamkeiten in der Entwicklung der unterschiedlichen Staaten der Region zu erkennen waren. Dennoch haben alle drei Autoren, bestimmt durch ihren jeweiligen Untersuchungsgegenstand, dem Gesamtkonzept des Forschungsprojektes sehr unterschiedlich Rechnung getragen.

Die Studie von Ágnes Pogány (Budapest) ist eine zeitlich ausgedehnte Variante ihres Beitrages „Economic Anti-Semitism in Hungary after Trianon”, erschienen in einem früheren Band der Frankfurter Studien.5 Sie zog darin einen Vergleich unterschiedlicher Erscheinungsformen des Phänomens vor und nach dem Ersten Welkrieg. Die im vorliegenden Aufsatz „Wirtschaftsnationalismus in Ungarn im 19. und 20. Jahrhundert” untersuchten Phänomene standen nach der These der Autorin vor dem Ersten Weltkrieg mit den Marktintegrationsprozessen Österreich-Ungarns in Zusammenhang: Das Auftreten kapitalstarker Konkurrenz hat die durch Rückständigkeit bedingten Probleme verschärft und offenbarte die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der ungarischen Wirtschaft als Kernproblem. Wie dieser Konflikt häufig in Form eines Kampfes um das nationale Überleben ausgetragen wurde, wird anhand der um die Geldinstitute der Minderheiten ausgebrochenen politischen Hysterie aufgezeigt. Im Ergebnis ihrer Darstellung über weitere Formen der Mobilisierung der Bevölkerung mittels einer wirtschaftsnationalistischen Ideologie (wie die Förderung der nationalen Industrie mit einem gelungenen Exkurs über die Rolle der Frauen in diesen Bewegungen) oder allgemein über die Prinzipien und die Praxis der staatlichen Industrieförderung gelangt Pogány zur Schlussfolgerung, dass der Wirtschaftsnationalismus „im Vielvölkerland Ungarn die Integration der Güter- und Finanzmärkte vertiefen und gleichzeitig die nationale Wirtschaft gegen die österreichische Konkurrenz auf diesen Märkten schützen” sollte (S. 70). Nach dem Ersten Weltkrieg und den Territorialveränderungen zeigte sich der Wirtschaftsnationalismus in Ungarn dagegen vorrangig in Form des wirtschaftlichen Antisemitismus: Mit dem Vermögen der Juden sollten Programme der sozialen und wirtschaftlichen Modernisierung finanziert werden, die auf eine radikale ethnische Homogenisierung der Gesellschaft zielten. Gerade die Hervorhebung der ökonomischen Beweggründe der Judengesetze und ihre Erklärung im Rahmen des Konzepts des Wirtschaftsnationalismus kann zu einer weiteren kritischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Ungarn beitragen.

Eduard Kubù (Prag) bearbeitet ein bisher vernachlässigtes Forschungsfeld indem er den „Wirtschaftsnationalismus in Parteiprogrammen der böhmischen Länder und der ersten Tschechoslowakischen Republik“ untersucht. Wegen des Charakters der Parteiprogramme als „eine bestimmte Verallgemeinerung von Erfahrungen und intellektuellen Orientierungen der Parteiklientel sowie Ausdruck ihrer Wünsche und Forderungen“ (S. 131), geht er von einer besonderen Aussagekraft dieser Dokumente in Bezug auf Einstellungen, Probleme und Ziele großer gesellschaftlicher Gruppen aus. Kubù stellt das Problem in den Kontext der gegenläufigen Tendenzen von Globalisierung und Nationsbildung, die einen „innere[n] Wirtschaftsnationalismus mitteleuropäischen Typs“ ins Leben gerufen haben. Die Analyse der Programme der jeweils fünf großen tschechischen und deutschböhmischen Parteien bestätigt, dass der Wirtschaftsnationalismus die wirtschaftliche und politische Entwicklung in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie wesentlich beeinflusst hat, was sich in der „Mentalität der konkurrierenden Nationalgemeinschaften und ihren Konsumgewohnheiten“ niederschlug (S. 85). Der offensive tschechische Wirtschaftsnationalismus, der als eine Strategie zur wirtschaftlichen Emanzipation, zur Stärkung des tschechischen Unternehmertums und als Möglichkeit zum Ausgleich historischen Unrechts angesehen wurde, rief eine Gegenbewegung auf deutsch-böhmischer Seite hervor, die auf eine Aufrechterhaltung traditioneller Positionen in der Wirtschaft Böhmens zielte. In der Zeit der Ersten Republik nahm der Wirtschaftsnationalismus vor allem bei den autoritären Bewegungen beider Volksgruppen eine aggressivere Form an. Gleichzeitig verschwand aber die wirtschaftsnationalistische Ideologie aus den Programmen der tschechischen demokratischen Parteien, namentlich nachdem ein Elitenwechsel vollzogen worden war. Bemühungen um eine Zusammenarbeit mit den deutschen Parteien zur Lösung aktueller sozialer Probleme sollten der inneren Stabilisierung des Staates dienen. Im Gegensatz dazu – das zeigt die Analyse des Programms der Sudetendeutschen Partei – war der Wirtschaftsnationalismus in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre wieder zu einem Instrument des allgemeinen politischen Kampfes geworden.

In seiner Studie „Die nationale Wirtschaftspolitik der Zweiten Republik Polen (1918 bis 1939)“ behandelt Jan Kofman (Białystok) Wirtschaftsnationalismus mit dem Ziel des besseren Verständnisses von Entwicklungstendenzen der polnischen Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit. Dazu untersucht er das Ausmaß und die Bedeutung staatlicher Einwirkung auf die Ökonomie sowie die der Wirtschaftspolitik zugrunde liegende Ideologie. Dem Autor ist es gelungen, sowohl die externen Faktoren als auch die internen strukturellen Bedingungen aufzuzeigen, nach denen die strategischen wirtschaftspolitischen Aufgaben abgesteckt wurden, und die die grundlegenden entwicklungspolitischen Entscheidungen (Schwerpunkt Landwirtschaft oder Industrie, bzw. freie Marktkräfte oder Interventionismus und Protektionismus) ausschlaggebend beeinflussten. Wirkung und Wesen wirtschaftsnationalistischer Tendenzen wurden dabei gleichwohl weniger klar dargestellt. Der Wirtschaftsnationalismus in Polen erscheint als eine „ganzheitliche Ideologie der ökonomischen Entwicklung“, die „sich in letzter Instanz auf außerökonomische Prinzipien beruft“ und „vom Protektionismus zusammengehalten“ wurde (S. 160). Auch betont der Autor, dass sich die Anhänger des Wirtschaftsnationalismus in Polen ohne ein umfassendes Konzept nur auf einige einfache Punkte berufen haben: „Industrialisierung, Schutz der einheimischen Produktion, Wirtschaftsinterventionismus, Etatismus, Vorbehalte gegenüber ausländischem Kapital (besonders in den dreißiger Jahren) und manchmal Abneigung gegen nationale Minderheiten.“ (S. 166) Wenn aber die Grundideologie der Wirtschaftspolitik trotz wachsendem Interventionismus und häufiger Vorbehalte gegenüber ausländischem Kapital als eher liberal bewertet wird, bleibt doch die Frage offen, woran der Bedeutungszuwachs des Wirtschaftsnationalismus im obigen Sinne gemessen werden könnte. Wie Kofman ausführt, hätte der Wirtschaftsnationalismus vor 1935 keine breiteren Kreise mobilisiert, allerdings „waren in den dreißiger Jahren verschiedene Schichten und gesellschaftliche Gruppierungen daran interessiert, dass gerade der Staat im Namen einer Politik des Wirtschaftsnationalismus gegen ethnisch fremde oder für in diesem Sinne fremd erklärte Bürger […] eindeutig Position bezog“ (S. 162). Die weitere konkrete Beschreibung dieser Gruppen, ihrer Interessen, Forderungen, sowie ihrer Größe und ihres gesellschaftlichen Gewichts, wie es auf Seite 161 hinsichtlich Staatsbürokratie und Bourgoisie teils passiert, hätten dem Leser geholfen, den Charakter und die Reichweite der wirtschaftsnationalistischen Ideologie besser einschätzen zu können. Am Ende seiner Fallstudie zur Modernisierung einer rückständigen Wirtschaft bilanziert der Verfasser, dass das lange Festhalten an Grundsätzen der liberalen Ökonomie in einer protektionistischen Weltwirtschaft für Polen unvorteilhaft war und „die relativ gemäßigte polnische Version des Wirtschaftsnationalismus unter den damaligen Bedingungen unzweifelhafte Vorteile hatte“ (S. 165). Durch die Förderung der Modernisierung der polnischen Wirtschaft hätte es dazu beitragen können, mit der Zeit Anschluss an die Weltwirtschaft zu erreichen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die drei Aufsätze wichtige Ansatzpunkte zu einem besseren und historisch vertieften Verständnis des ostmitteleuropäischen Wirtschaftsnationalismus liefern, auch wenn dem Begriff drei unterschiedliche, doch verwandte Konzepte zugrunde gelegt wurden. Während den Studien von Kubù und Kofman – wie oben geschildert – ein mehr oder weniger scharf umrissenes Konzept des Wirtschaftsnationalismus als Wirtschaftsideologie zugrunde lag, erweiterte Pogány das Konzept der Ideologie indem sie Wirtschaftsnationalismus als einen Prozess interpretiert, „in dessen Verlauf die auf einem Gebiet lebenden Menschen eine auch wirtschaftlich homogene Gesellschaft formen und ihre wichtigsten wirtschaftlichen Institutionssysteme im nationalen Rahmen aufbauen” (S. 13). Die Analyse des Phänomens als Schnittstelle zwischen wirtschaftlicher Globalisierung und politischer Nationalisierung konnte von allen drei Autoren fruchtbar gemacht werden, um Beweggründe und Erscheinungsform des Wirtschaftsnationalismus besser zu beleuchten. Weitere Studien wären wünschenswert, um die gesellschaftlichen Hintergründe des unterschiedlichen Mobilisierungserfolgs der Ideologie und die Weiterentwicklung des Konzeptes nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. nach 1989 zu untersuchen. Erste Schritte in dieser Richtung wurden im Rahmen des oben genannten Frankfurter Forschungsprojekts bereits getan.

Eine sorgfältigere redaktionelle Arbeit hätte der Übersetzung des ersten Aufsatzes gut getan. Positiv hervorzuheben ist die äußerst leserfreundliche Gestaltung. Ein Index sowie auch Tabellen und Abbildungen erleichtern das Verständnis und die Orientierung im Band. Eine Literaturauswahl in westlichen Sprachen wird dem Leser helfen, sich weiter in das Thema Nationalismus und Wirtschaftsnationalismus allgemein und regionsspezifisch, das heißt in die Wirtschaftsgeschichte der Region, zu vertiefen.

Anmerkungen:
1 Crane, George, Economic Nationalism. Bringing the Nation back in, in: Millenium 27 (1998), S. 55-76; Shulman, Stephen, National soures of international economic integration, in: International Studies Quarterly 44 (2000), S. 365-390; Abdelal, Rawi, National Purpose in the World Economy. Post-Soviet States in Comparative perspective, Ithaca, N.Y. 2001; Helleiner, Eric; Pickel, Andreas (Hrsg.), Economic nationalism in a globalizing world, Ithaca, N.Y. 2005.
2 Nakano, Takeshi, Theorizing Economic Nationalism, Nations and Nationalism 10 (2004), 3, S. 211-229; Pickel, Andreas, Explaining, and explaining with, economic nationalism, Nations and Nationalism 9 (2003), 1, S. 105-127.
3 Siehe: <http://www.kuwi.euv-frankfurt.de/de/lehrstuhl/kg/wisogeschi/downloads/abschlussbericht_wirtschaftsnationalismus.pdf>.
4 Band 13 (2006): Müller, Uwe (Hrsg.), Ausgebeutet oder alimentiert? Regionale Wirtschaftspolitik und nationale Minderheiten in Ostmitteleuropa (1867-1939); Band 14 (2006): Schultz, Helga; Kubù, Eduard (Hrsg.), History and Culture of Economic Nationalism in East Central Europe; Band 15 (2006): Lorenz, Torsten (Hrsg.), Cooperatives in Ethnic Conflicts. Eastern Europe in the 19th and early 20th Century.
5 Erschienen in Schultz, Helga; Kubù, Eduard (Hrsg.), History and Culture of Economic Nationalism in East Central Europe, Berlin 2006, S. 219-229.

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