A. Lindner: 100 Jahre Frauenkriminalität

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Titel
100 Jahre Frauenkriminalität. Die quantitative und qualitative Entwicklung der weiblichen Delinquenz von 1902-2002


Autor(en)
Lindner, Andrea
Reihe
Würzburger Schriften zur Kriminalwissenschaft
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
XXII, 289 S.
Preis
€ 51,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Schneider, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

In ihrer 2005 an der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg eingereichten Dissertation hat sich Andrea Lindner ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Anhand statistischer Quellen möchte die Autorin über einen Untersuchungszeitraum von nicht weniger als einem Jahrhundert den Wandel und die Kontinuität der Kriminalität von Frauen darstellen und analysieren. Ihr Erkenntnisinteresse fokussiert dabei einerseits auf die Frage, ob sich während dieser Zeit die Zahl der Täterinnen (in allen Altersgruppen und bei sämtlichen Straftaten) im Vergleich zu männlichen Delinquenten geringer ausnahm. Andererseits möchte Lindner ausloten, ob sich die Zahl der von Frauen begangenen Straftaten im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts erhöht hat und deren Gewaltbereitschaft gestiegen ist.

Zur Beantwortung dieser Fragen bezieht sich die Autorin neben zeitgenössischen und aktuellen kriminologischen Studien vor allem auf das Datenmaterial der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) sowie der Strafverfolgungsstatistik (StVStat). Ihre Arbeit gliedert sie in drei große Blöcke, wobei der erste sich mit möglichen Definitionsversuchen des Phänomens Frauenkriminalität beschäftigt, das (aktuelle) Erscheinungsbild weiblicher Delinquenz darstellt und unterschiedliche Erklärungsansätze zur Kriminalität sowie Kriminalisierung von Frauen erörtert. Der zweite Block verfolgt die Entwicklung der quantitativen Straffälligkeit von Frauen im 20. Jahrhundert, und der dritte schließlich widmet sich am Beispiel ausgewählter Delikte (das Spektrum reicht von Meineid über Beleidigungsdelikten bis hin zu Mord) den qualitativen Dimensionen der Frauenkriminalität.

Um es sogleich vorwegzunehmen: Die Antworten auf die von Lindner gestellten Fragen fallen erwartungsgemäß wenig überraschend aus. Dass die Frauenkriminalität während des gesamten Untersuchungszeitraumes „durch ihren niedrigen Anteil an der Gesamtkriminalität und ihre spezifische Deliktstruktur gekennzeichnet“ (S. 265) gewesen sei, ist keine neue Erkenntnis. Auch die Beobachtung, dass die Statistiken keine schrittweise Angleichung der Straftaten von Frauen an die der Männer dokumentieren, ist kaum eine bahnbrechende Einsicht. Dies gilt gleichermaßen für die Feststellung, dass Frauen im Vergleich zu Männern bei Straftaten viel seltener zum Mittel der physischen Gewalt zu greifen scheinen. Die am häufigsten bei Frauen registrierten Verstöße waren und sind somit dem Bereich der Eigentums- und Vermögensdelinquenz zuzuordnen.

Diese Befunde zusammengetragen zu haben und somit einen raschen Zugriff zu ermöglichen, ist das Verdienst von Lindners Dissertation. In analytisch-methodischer Hinsicht nimmt sich ihre Arbeit allerdings mehr als bescheiden aus. Insbesondere der von der Verfasserin praktizierte Umgang mit Statistiken erscheint wenig überzeugend. Zwar stellt Lindner in Rechnung, dass die Aussagekraft von Statistiken eingeschränkt sei, weil es nicht unerhebliche Vergleichsschwierigkeiten und Unzulänglichkeiten bei der statistischen Erhebung gebe; zudem würden viele Straftaten gar nicht angezeigt und verblieben somit im Dunkelfeld. Komme es hingegen zu einer Anzeige, seien bis zur rechtskräftigen Erledigung eines Falles umfangreiche „Selektionsprozesse“ (S. 9) am Werke. Gleichwohl sieht die Autorin hierin lediglich technische Unwägbarkeiten. Grundsätzlich geht Lindner jedoch davon aus, dass Statistiken ein Abbild der ,Kriminalitätswirklichkeit‘ vermitteln könnten. So ist die Rede von einer „tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung“ (S. 84), einer (in Bezug auf das 1939 vom NS-Regime erlassene Straffreiheitsgesetz) „unechten Verminderung der Verurteiltenzahlen“ (S. 89) oder einer „Annäherung an die Realität“ (S. 8). Dieser von Lindner praktizierten Gegenüberstellung einer ,realen‘ Kriminalitätsrate und ihrer statistischen Erfassung – die umso objektiver auszufallen scheint, je mehr potentielle „Fehlerquellen“ (S. 93) ausgeschlossen werden – korrespondiert mit einer dezidiert rechtspositivistischen Auffassung von (Frauen)Kriminalität: Diese setzt sich für Lindner aus der „Summe der registrierten Straftaten von Personen weiblichen Geschlechts“ (S. 2) zusammen. Dass es sich womöglich bei Kriminalität nicht um eine „Wirklichkeit sui generis“, sondern vielmehr um ein „gesellschaftliches Konstrukt“1 handeln könnte, welches auf historisch variablen Normen und Ordnungsvorstellungen basiert, wird von der Autorin nicht bedacht. Gleichfalls reflektiert Lindner nicht den Umstand, dass die Technik der Statistik Wissen über soziale Devianzen überhaupt erst erzeugt und somit das „epistemische Ding“ Kriminalität in seinem quantitativen und qualitativen Ausmaß sichtbar macht.2 Hinsichtlich konstruktivistischer Zugänge kann man geteilter Meinung sein. Jedoch ist es inakzeptabel, diese erkenntnistheoretische Perspektive nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen – zumal solche Ansätze in der sozialwissenschaftlich orientierten Kriminologie in jüngster Zeit verstärkt diskutiert worden sind.3

Darüber hinaus bietet Lindners Arbeit wenig plausible Begründungen für die ungleiche statistische Kriminalitätsverteilung zwischen den Geschlechtern. Die Verfasserin räumt dementsprechend ein, dass bislang kein konziser Erklärungsansatz in Sicht sei, der „die weibliche Kriminalität mit ihren qualitativen und quantitativen Besonderheiten befriedigend […] begründen“ (S. 270) könnte. Vielleicht ist es aber auch gar nicht möglich, die Eigenheiten der Frauenkriminalität in holistischer Manier adäquat zu erklären. Mit dieser Frage haben sich schließlich schon Kriminalwissenschaftler des 19. Jahrhundert beschäftigt, ohne eine abschließende Antwort zu gewinnen. Vielmehr formierte und etablierte sich ein wuchernder Diskurs über das „verbrecherische Weib“4, der die Klassische Moderne maßgeblich geprägt hat. Dieser Umstand wird von Lindner gänzlich verkannt, etwa wenn sie die biologisch-anthropologischen Erklärungsmodelle kriminologischer Autoren des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wie Cesare Lombroso oder Erich von Wulffen völlig aus ihrem diskursiven und kulturellen Kontext reißt. So kritisiert Lindner zwar die Ansichten der beiden Wissenschaftler als „einseitig“ bzw. „sexistisch“, reduziert sie jedoch in unzulässiger Weise auf ein „persönliches Frauenbild“ (S. 28).

Die Tendenz, ältere kriminologische Darstellungen nicht als Quelle, sondern unkritisch als Sekundärliteratur zu rezipieren, durchzieht die Arbeit wie ein roter Faden. Ein besonders ärgerliches Beispiel stellt dabei Lindners Versuch dar, den signifikanten Zuwachs der statistisch ausgewiesenen Jugenddelinquenz während des Zweiten Weltkriegs mit dem Verweis auf einen kriminalwissenschaftlichen Aufsatz aus den frühen 1950er-Jahren zu erklären: Der Anstieg der Jugendkriminalität in dieser Zeit sei, so Lindner, vor allem das Resultat einer „zunehmende[n] Verwahrlosung der Jugendlichen“ gewesen, „welche durch fehlende Erziehung und ungenügende väterliche Aufsicht im Laufe der Kriegsjahre hervorgerufen“ (S. 91, S. 265) worden sei. Sieht man einmal davon ab, dass an dieser Stelle die rigide Disziplinarpolitik des Nationalsozialismus insbesondere gegenüber Jugendlichen überhaupt nicht in Rechnung gestellt wird, schreibt die Verfasserin hier kritiklos jenen zeitgenössischen Diskurs der 1950er-Jahre fort, der alleinerziehenden Müttern jegliche Fähigkeit absprach, auch ohne Ehemann den Nachwuchs großzuziehen. Lindner ist zwar keine Historikerin, trotzdem sollte sie aber die von ihr thematisierte Entwicklung der Frauenkriminalität in ihrem historischen Kontext betrachten und die Sicht sowie die Sprache der von ihr benutzten Quellen nicht einfach übernehmen.

Darüber hinaus kann der hier besprochenen Arbeit auch vorgehalten werden, dass sie geschlechtertheoretische Überlegungen in jeder Hinsicht ausblendet. In Lindners Studie werden Frauen nicht nur als biologische Subjekte stillschweigend vorausgesetzt; das vollständige Nichtreflektieren der Kategorie Gender führt zudem in geradezu erschreckender Weise zu einer wissenschaftlichen Reproduktion und Revitalisierung längst überwunden geglaubter Geschlechterstereotype. So behauptet Lindner mit Bezugnahme auf kriminologische Studien der 1960er- und frühen 1970er-Jahre, dass Frauen vorwiegend wegen emotionaler Motive zu Körperverletzungs- und Beleidigungsdelikten veranlasst würden (S. 169, S. 180). Hierbei drängt sich die Frage auf, ob Männer demzufolge in erster Linie aus `rationalen’ Motiven beleidigten bzw. zuschlugen?

Abgesehen davon, dass diese Überlegungen die Wissensbestände der Geschlechterforschung gänzlich missachten, untergraben sie auch eine der Kernthesen des Buches. Schließlich betont Lindner, „dass es keine geschlechtsspezifischen Ursachen der Kriminalitätsentstehung“ gebe, sondern sowohl bei „Männern wie auch bei Frauen […] die gleichen kriminogenen Faktoren zur Entstehung von kriminellem Verhalten“ führten. Inwieweit ein Individuum diesen Faktoren (die jedoch nirgendwo expliziert werden) ausgesetzt sei, hänge vor allem von der „Rolle und Sozialisation dieser Person“ ab (S. 37f.). Neben dieser durchaus nachvollziehbaren These argumentiert die Verfasserin schlussendlich, „dass generelle Aussagen zur Frauenkriminalität nicht getroffen werden“ könnten. Man könne diesem Gegenstand „nur durch eine differenzierte und deliktspezifische Betrachtung gerecht werden“ (S. 271). Entgegen diesem Postulat unterscheidet Lindner Frauen in ihrer Untersuchung aber lediglich nach dem Alter. Andere Faktoren wie etwa soziale Herkunft bleiben vollkommen ausgespart. Fazit: Um zu erkennen, dass für die angemessene Bearbeitung der Thematik Frauenkriminalität eine differenzierte und reflektierte Herangehensweise vonnöten ist, hätte es dieser Arbeit kaum bedurft.

Anmerkungen:
1 Schwerhoff, Gerd, Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung, Tübingen 1999, S. 10.
2 Vgl. hierzu in Bezug auf die Bevölkerungswissenschaft Schlimm, Anette, Das „epistemische Ding“ Bevölkerung. Möglichkeiten einer kulturgeschichtlichen Betrachtung der Bevölkerungswissenschaft, in: Langner, Ronald u.a. (Hrsg.), Ordnungen des Denkens. Debatten um Wissenschaftstheorie und Erkenntniskritik, Münster 2007, S. 97-107.
3 Siehe z.B. Krasmann, Susanne, Die Kriminalität der Gesellschaft. Zur Gouvernementalität der Gegenwart, Konstanz 2003.
4 Uhl, Karsten, Das „verbrecherische Weib“. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800-1945, Münster 2003.

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