Fritz Bauer Institut u.a. (Hrsg.): Zeugenschaft des Holocaust

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Titel
Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung


Herausgeber
Fritz Bauer Institut; Elm, Michael; Kößler, Gottfried
Reihe
Jahrbuch 2007 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
285 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk Rupnow, Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), Wien

Das bevorstehende Ende unmittelbarer Zeugenschaft des Holocaust und seine Auswirkungen werden schon seit Beginn der 1980er-Jahre diskutiert. Zu beobachten ist in den vergangenen Jahren vor allem, dass das Schicksal und die Perspektive von Kindern immer deutlicher in den Vordergrund treten, den letzten Überlebenden der Verbrechen. Das Wissen über den systematischen Massenmord an den europäischen Judenheiten ist jedoch bereits seit langem keineswegs vorrangig durch familiäre Erzählungen, Gespräche mit „Zeitzeugen“ oder auch Gerichtsverfahren vermittelt worden, sondern vielmehr medial – durch Museen und Ausstellungen, Filme und Bücher, seien sie wissenschaftlich, autobiographisch oder literarisch. Dem Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis kommt somit wohl vor allem eine symbolische Bedeutung zu. Das Sterben der „Zeitzeugen“ scheint dabei nicht ausschließlich mit Bedauern erwartet, sondern teilweise – natürlich unausgesprochen und unbewusst – sogar herbeigesehnt zu werden. Der Soziologe und Forschungsanalytiker Christian Schneider spricht diese nur schwer einzugestehende Ambivalenz in seinem Beitrag zum neuen Jahrbuch des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts an. Der moralische Reflex auf seine These ist vorprogrammiert. Doch als Entronnene exzessiver Gewalt überfordern die Überlebenden ihr Publikum; sie konfrontieren uns mit einer monströsen Destruktivität, der wir uns letztlich immer noch nicht angemessen zu stellen vermögen.

Michael Elm und Gottfried Kößler haben eine breite Palette von Aufsätzen versammelt, die das wichtige und aktuelle Thema „Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung“ auszuleuchten versuchen. Beteiligt sind Kultur-, Literatur- und Filmwissenschaftler, Historiker und Judaisten, Pädagogen und Juristen. Im Mittelpunkt der Beiträge stehen Beispiele aus Deutschland, Israel und Polen. Tatsächlich kann nur ein interdisziplinärer und komparativer Zugriff diesem vielschichtigen Thema gerecht werden.

In vier Kapiteln werden unterschiedliche Aspekte behandelt. Im Abschnitt „Konzept und Tradition der Zeugenschaft“ beschreibt Daniel Krochmalnik unter Rückgriff auf biblische und rabbinische Quellen zunächst die grundlegende Bedeutung von Zeugenschaft für das Judentum. Die religiöse Dimension einer Pflicht zum Zeugnis findet sich noch im Verständnis der Zeugenschaft und der damit verbundenen Verantwortung bei den Überlebenden des Holocaust. Aleida Assmann unterscheidet in ihrem Beitrag vier Grundtypen von Zeugenschaft: den juridischen, den religiösen, den historischen und schließlich den moralischen Zeugen. Die Überlebenden des Holocaust sind solche moralischen Zeugen, die einzelne Züge der anderen Typen in sich vereinen. Sie sind Opfer und Zeugen zugleich, zeugen aber durch ihr Überleben, nicht durch ihr Sterben. Im Gegensatz zum religiösen Zeugen verkünden sie jedoch keine positive, sondern eine negative Botschaft. Sie sind Sprachrohre der Ermordeten, die aus dem Zentrum der Vernichtung kein Zeugnis mehr ablegen können.

Der zweite Abschnitt ist dem Thema „Zeugenschaft vor Gericht“ gewidmet. Thomas Henne beschreibt Stellung und Funktion von Zeugen aus juristischer Perspektive und verweist dabei auf die Täterzentriertheit des modernen Strafprozesses. Nicht der Zeuge, der zum Opfer geworden ist, und sein Leiden stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Prozessgeschehens, sondern der Täter, der als Angeklagter noch einen besonderen Schutz genießt – ein Erfolg rechtsstaatlicher Reformen des 19. Jahrhunderts, der bei Strafverfahren für NS-Verbrechen unangemessen erscheinen kann. Darüber hinaus untersucht Henne die konkurrierenden Wahrheitsbegriffe von Zeugen, die sich aus persönlicher Erinnerung einer subjektiven Wahrheit verpflichtet fühlen, von Historikern, die verschiedene Sichtweisen und deren zeitliche Bedingtheit anerkennen, sowie von Juristen, die aus Wahrscheinlichkeiten eine prozessuale Wahrheit erzeugen. José Brunner untersucht daraufhin die Zeugenaussagen im Jerusalemer Eichmann-Prozess auf ihre vielfältigen, sehr unterschiedlichen Inhalte und Funktionen, die sich einer vereinfachenden Zusammenfassung unter den Schlagworten Trauma – Katharsis – Transformation, wie sie in der bisherigen Forschung vorgenommen wurde, entziehen.

Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit der „Tradierung der Zeugnisse“. Alexander von Plato untersucht die Vor- und Nachteile von Oral History für die Rekonstruktion von historischen Abläufen und Ereignissen einerseits und lebensgeschichtlichen Entwicklungen andererseits. Davon ausgehend thematisiert er die Probleme eines „Erfahrungstransfers“ zwischen den Generationen: Die inzwischen umfangreichen Sammlungen subjektiver Zeugnisse und persönlicher Erinnerungen werden auch zukünftigen Generationen noch aufschlussreiche Einblicke gewähren können. Gleichzeitig sieht von Plato die Gefahr, dass das Material ungenügend kontextualisiert und als Steinbruch für die (Re-)Konstruktion historischer Retortenmenschen herangezogen werde, die fälschlicherweise als authentisch und konsistent erscheinen könnten. Gottfried Kößler analysiert in seinem Beitrag die pädagogische Arbeit mit „Zeitzeugen“ in Schulen und deren vielfältige, teilweise äußerst problematische Implikationen. Er warnt vor einer Überschätzung der Kraft des Authentischen: Von der Begegnung mit einem „Zeitzeugen“ werden oft plötzliche Einsichten und Veränderungen erwartet, während die notwendigen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für eine solche Begegnung häufig vergessen werden.

Im vierten und letzten Abschnitt „Zeugenschaft in Literatur und Film“ thematisiert Karol Sauerland die spezifische polnische Zeugenschaft des Holocaust und ihre Spiegelung in der polnischen Literatur. Im Gegensatz zu Deutschland und Österreich war es für Nichtjuden in Polen kaum möglich, wegzusehen und nicht zu wissen, was geschah. Hier fand der systematische Massenmord vor der Haustür statt. Der polnische Nachkriegsantisemitismus erklärt sich mithin auch nicht aus einem Mangel an Zeugen, sondern vielmehr aus einem Überfluss an Erinnerung und Zeugenschaft, verbunden mit der Angst, zur Verantwortung gezogen zu werden. Michael Elm analysiert Roman Polanskis Verfilmung des Berichts des jüdisch-polnischen Komponisten und Pianisten Władysław Szpilman. In „The Pianist“ überschneiden sich Szpilmans Erinnerungen an sein Überleben im Warschauer Ghetto mit Polanskis eigenen Kindheitserfahrungen in Krakau. Mittels der filmischen Inszenierung konserviert er das Schockhafte der unmittelbaren Zeugenschaft des Holocaust.

Der Band verdeutlicht die zentrale Funktion des Zeugen in der heutigen Erinnerungskultur wie auch seinen prekären Status: Zeugenschaft kann angefochten werden, die Glaubwürdigkeit von Zeugen und ihren Aussagen kann in Frage gestellt werden, das nachträgliche Zeugnis-Ablegen kann zu einer Re-Traumatisierung des Zeugen führen. Vor allem aber bleibt der Zeuge angewiesen auf ein Publikum, das seinen Bericht aufnimmt und weiterträgt. Christian Schneider ruft in diesem Zusammenhang den häufig vergessenen Doppelsinn des Begriffes „Zeugen“ ins Gedächtnis: Nachkommen schaffen, eine Genealogie begründen. Gerade diese sekundäre Zeugenschaft, ihre Legitimation und ihre Begrenztheit, werden künftig wohl zu einem brisanten Thema werden, vor allem in den ehemaligen Ländern der Täter. Verbunden ist auch dies mit dem Problem der medialen Vermittlung und der Archivierung von Zeugenschaft, das sich wie ein roter Faden durch den Band zieht. Explizit angesprochen wird es in einem Interview mit Geoffrey Hartman über das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies an der Yale-Universität. Bietet das aufgezeichnete und aufbewahrte Zeitzeugengespräch ein unmittelbares Zeugnis oder ist es ein Artefakt, das den Formatierungen des Mediums unterliegt, wie Christoph Schneider in seinem Beitrag argumentiert?

Die Erinnerung an den Holocaust muss mittlerweile vielleicht nicht mehr so sehr gegen Leugnung, Verdrängen und Beschweigen verteidigt werden, obwohl diese Gefahren kaum als endgültig gebannt gelten können. Vor allem aber muss die Erinnerung immer deutlicher gegen Trivialisierung, Analogisierung und eine vereinfachende Instrumentalisierung in staatstragenden Gedenkritualen in Schutz genommen werden. Christian Schneider verweist in seinem zentralen Beitrag zu Recht darauf, dass viel davon abhängen wird, ob unsere Erinnerungskultur in der Lage ist, den unvermeidlichen Tod der letzten Holocaust-Überlebenden als biologisches Faktum anzunehmen und damit gleichzeitig anzuerkennen, dass Vergangenheit vergeht und sich unserem Zugriff entzieht; oder ob sie zu quasi-animistischen Vorstellungen Zuflucht nimmt und Vergangenheit letztlich enthistorisiert. Mit seinen differenzierten Beiträgen kann der Band einen wichtigen Ausgangspunkt und eine solide Grundlage für weitere Diskussionen bieten, die den bevorstehenden Übergang in der nächsten Zeit sicher noch begleiten werden.

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