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Titel
Forschung als Waffe. Rüstungsforschung in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und das Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung 1900-1945/48


Autor(en)
Maier, Helmut
Reihe
Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Bd. 16
Erschienen
Göttingen 2007: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
2 Bde.; 1238 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Reichherzer, Humboldt-Universität zu Berlin

Bei den Stichworten Rüstung und Nationalsozialismus kommen zum einen die auf technische Daten fixierten Hochglanz-Bildbände berühmt berüchtigter „Wunderwaffen“ des Dritten Reiches in den Sinn, welche das qualitativ überlegene rüstungstechnische Potential der deutschen Forschung suggerieren, das von den nationalsozialistischen Machthabern nur unzureichend genutzt worden sei. Dem gegenüber steht das von Widersprüchen durchzogene Bild vom weltfremden und unpolitischen deutschen Techniker, der allein der Forschung dienend den Kern der Wissenschaft vor nationalsozialistischen Anfeindungen und pseudowissenschaftlichem Dilettantismus bewahrt oder versucht habe, unter Vortäuschung von „Kriegswichtigkeit“ seine scheinbar zweckfreien technikutopischen Vorstellungen zu verwirklichen. Eins schien diesen Publikationen nach festzustehen: Die echte, wahre und reine Wissenschaft habe im NS-Staat nichts gegolten.

Mit dieser Sichtweise hat die zweibändige Studie zur technowissenschaftlichen Rüstungsforschung von Helmut Maier, die im Rahmen des Forschungsprogramms zur „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“ entstanden ist, nichts gemeinsam.1 Maiers Arbeit ist weder auf technische Einzelheiten noch auf die Entwicklung von „Wunderwaffen“ fixiert. Sie richtet sich gegen eine Interpretation des nationalsozialistischen Wissenschafts- und Innovationssystems, die durch den selbstentlastenden Verantwortungs- und Vergangenheitsdiskurs nach 1945 begründet und durch die öffentliche Meinung wie auch durch die historiographische Forschung lange tradiert wurde. Dieses Narrativ speiste sich aus Deutungen wie etwa der vermeintlichen Wissenschaftsfeindlichkeit des NS-Systems, dem Niedergang der deutschen Wissenschaft zwischen 1933 und 1945, dem unproduktiven, forschungsbürokratischen Wasserkopf, der fehlenden zentralen Planung sowie unangebrachter Geheimniskrämerei, Doppelarbeit, Abschottung und Blockade zwischen den Forschungsbereichen. Maiers Studie stellt diesen Behauptungen den Nachweis einer nahezu mühelosen Integration der Forschung in den NS-Staat und ihrer reibungslosen Ausrichtung auf expansionistische und rüstungspolitische Ziele gegenüber.

Ausgangspunkt für Maiers Arbeit ist das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Metallforschung mit seinem wissenschaftlichen Direktor Werner Köster. Sein Blick weitet sich jedoch auf die Rüstungsforschung in den anderen Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aus, um schließlich zu einer Gesamtbetrachtung des komplexen Netzwerkes der technowissenschaftlichen Rüstungsforschung in Deutschland während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu gelangen. Diese Ausweitung ist Maiers spezifischer Herangehensweise geschuldet, die ihre Fragehorizonte, Suchanweisungen und Bewertungsmaßstäbe aus wissenschaftssoziologischen Konzepten gewinnt. Sein Interesse gilt deshalb nicht den Institutionen oder den Größen des NS-Regimes und auch nicht den nahezu kanonischen Quellen zur NS-Wissenschaftspolitik. Deren Betrachtung bilde die weiten Verzweigungen des Rüstungskomplexes sowie die produktiven Praxis moderner Wissenschaften oft schief oder unzureichend ab. Maier hingegen führt den Leser in den Raum zwischen den Institutionen, macht ihn mit den einflussreichen Vertretern der Mittelinstanz bekannt (für die Werner Köster nahezu idealtypisch steht) und veranschaulicht die Praxis der Rüstungsforschung anhand seines Referenzobjektes, dem KWI für Metallforschung.

Die Schlüssel zum Beschreiben, Begreifen, Verorten und Neubewerten der Rüstungsforschung im 20. Jahrhundert liegen nach Maier zum einen in so genannten Hybridgemeinschaften und zum anderen in der Verschaltung der darin versammelten Funktionäre der Mittelinstanz aus Wissenschaft, Staat, Militär und Industrie, die sich dort trafen und koordinierten. Da diese Multifunktionäre eine beachtliche Anzahl von Ämtern und Funktionen in einer Person verbanden und sich so zahlreiche Schnittflächen ergaben, verlagert sich das Erkenntnisinteresse in den interinstitutionellen Raum und die dort entstehenden Lenkungsgremien und Querverbünde.2 Aus diesem veränderten Blickwinkel und den wissenschaftssoziologischen Grundannahmen ergeben sich für Maier außerdem veränderte Bewertungsmaßstäbe für den „Erfolg“ der Mobilisierung der Technowissenschaften und ihrer Ergebnisse für die Kriegsführung.3 Maier untersucht den Grad des Problem-, Wissens- und Ressourcentransfers und grenzt sich damit von einem schematisierten und normativ problematischen Kriterium der Etablierung einer zentralisierten Forschungsführung auf Kommandobasis ab.

Von diesem Ansatz ausgehend widmet sich Maier in seinem ersten Kapitel den Kontinuitäten der Rüstungsforschung von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Er thematisiert hierbei die Zusammenarbeit von Wissenschaften, Militär und Rüstungsindustrie und fördert bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg erste, sich stetig intensivierende bi- und multipolare Kooperationsformen zutage. Maier verortet in diesem Zeitraum auch den Beginn der Verwissenschaftlichung von Waffentechnologie und Rüstungsproduktion. Frühe Anzeichen des militärisch-industriell-wissenschaftlichen Komplexes bildeten sich somit schon um die Jahrhundertwende heraus. Militärische Forschung und Lehre waren weiter verbreitet und geregelt als bisher angenommen.

Im Ersten Weltkrieg intensivierten und institutionalisierten sich dann die Kooperationsverhältnisse. Die Militarisierung der Wissensproduktion machte einen enormen qualitativen und quantitativen Sprung. Die 1916 gegründete Kaiser-Wilhelm-Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft (KWKW) bildete ein interinstitutionelles, nicht nach Disziplinen, sondern nach Artefakten – das heißt nach Gruppen von Rüstungsgütern – organisiertes Lenkungsgremium. In den Fachausschüssen der KWKW, die nicht von Militärs, sondern von führenden Wissenschaftlern geleitet wurden, verhandelten Vertreter aus Wissenschaft, Militär, Staat und Industrie gemeinsam Probleme der Rüstung und Rohstoffversorgung und trieben deren Lösung voran. Die KWKW war die Blaupause für alle folgenden Hybridgemeinschaften, welche der interdisziplinären und interinstitutionellen Rüstungsforschung im 20. Jahrhundert ihre organisatorische Form gaben. Die Gründungen des KWI für Eisenforschung (1917) und des KWI für Metallforschung (1921) geschahen in einer Phase der beschleunigten Militarisierung der Wissenschaften, die auch nach dem Weltkrieg nicht abbrach und sich weiter dynamisierte. Denn die Erfahrungen des Krieges und der Verlust militärischer Stärke lenkte die Aufmerksamkeit der Militärs auf die Wissenschaften.

Bereits in der Weimarer Republik etablierten sich unter dem Begriff „Gemeinschaftsforschung“ weitere Querverbünde zwischen den Forschungseinrichtungen, denen sich das zweite Kapitel widmet. Wissenschaften und Wissenschaftspolitik wurden Teile eines von der nationalistisch gesinnten wissenschaftlichen Elite mitgetragenen Revisionskurses. Im metallkundlich-technowissenschaftlichen Bereich zeigt sich dies vor allem in der Ausrichtung auf Autarkie fördernde Vorhaben. Spätestens ab 1926 bestanden direkte Beziehungen zwischen der KWG und der Reichswehr, die in der Folgezeit zum engsten Verbündeten der KWG über den Systemwechsel bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurde. Die Rüstungsforschung der Weimarer Jahre mit ihrer multipolaren Organisation, die sich aus Gründen der Geheimhaltung und dem Unterlaufen des Versailler Vertrages ergab, nahm gewaltige Ausmaße an und blickte bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten bereits auf eine seit Langem eingespielte Praxis zurück.

Vor dem Hintergrund dieser Traditionslinien wird auch die reibungslose Integration technowissenschaftlicher Arbeiten in die Strukturen des NS-Regimes mit seinen expansionistischen Zielen begreiflich. Das Dritte Reich förderte und intensivierte von Anfang an den Aufbau eines blockadesicheren „Wehrstaates“ und damit den zielgerichteten Ausbau der Rüstungsforschung, was Maier in den drei anschließenden Kapiteln behandelt. Der 1937 gegründete und 1942 reorganisierte Reichsforschungsrat (RFR) etablierte sich als weitere Forschungsorganisation. Unter Leitung des Heereswaffenamtes und des Reicherziehungsministeriums (REM), vermehrte der RFR mit einer Reihe von Querverbünden die Schnittflächen des Problem-, Wissens- und Ressourcentransfers um ein Vielfaches. Als zusätzlicher Auftrag- und Geldgeber (durch die DFG), aufgrund der hybriden Zusammensetzung sowie der Ämterakkumulation auf der Mittelebene entwickelte der RFR laut Maier eine ausgesprochen erfolgreiche Tätigkeit. Die mannigfaltigen interinstitutionellen Verbindungen zwischen rüstungsrelevanten Einrichtungen der Wissenschaft, des Staates, des Militärs und der Industrie, die Verbreitung und das Einfließen der Forschungsergebnisse des KWI für Metallforschung in zahlreiche Waffensysteme der verschiedenen Wehrmachtsteile, wie auch die Tätigkeiten Werner Kösters als Multifunktionär, legen diesen Schluss am Beispiel der Metallforschung nahe. Sie bildeten wohl die Regel und nicht die Ausnahme im NS-Innovationssystem, dessen polykratische Machtstrukturen sich eher als seine Stärke, denn als Schwäche erwiesen. Die landläufige Beurteilung des RFR wie auch des REM durch die Geschichtswissenschaft als inneffizientes, einflussloses forschungsbürokratisches Ungetüm sieht Maier daher als drastische Fehlinterpretation an.4 Auf der Ebene der Experten waren nicht nur ein gleichgerichtetes technokratisches Kalkül, sondern auch konsensuale Strukturen und enge persönliche Verflechtungen zu beobachten. Maier dekonstruiert die bisher als Schlüsseldokumente geltenden Quellen aus dem Schriftverkehr hoher NS-Funktionäre und zahlreicher Denkschriften als gezielte Desinformation im Rahmen von Fraktionskämpfen, als dem Gefühl der fehlenden Einsicht auf der Führungsebene geschuldete Klageschriften oder als Anfeindungen und Denunziationen von marginalisierten „alten Kämpfern“ der NS-Bewegung.

Staatliche Institution wie auch die Wehrmacht erkannten die Selbstverantwortung und Selbstorganisation der Technowissenschaften durchaus an. Dafür erhielten sie im Gegenzug Produkte, die den gesetzten Zielen entsprachen, und sie profitierten darüber hinaus von weiteren, oft nichtintendierten Entdeckungen (z.B. der „Förstersonde“ oder der „Gebhardt-Legierung“). Deshalb ist auch der Rückzug der militärischen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen aus dem eigentlichen Forschungsprozess nicht als Schwäche zu werten, sondern als Einsicht der Militärs in die Kontingenzen bei der Generierung technowissenschaftlichen Wissens.

Maier beurteilt die Organisation der Rüstungsforschung des NS-Innovationssystems insgesamt als ausgesprochen funktional, weil sie an die offenen und gerade nicht determinierten Strukturen und Produktionsbedingungen der Technowissenschaften angepasst gewesen seien. Er sieht auch kein Versagen in der Mobilisierung der Technowissenschaften mit Verschärfung der Kriegslage 1942/43. So kommt Maier zu dem Schluss, dass die Organisation der NS-Rüstungsforschung auf der Mittelinstanz stets auf Hochtouren lief und auf Grundlage von hybrid zusammengesetzten Querverbünden einen flüssigen Problem-, Wissens- und Ressourcentransfer ermöglichte. Damit lieferte die Rüstungsforschung in einigen Feldern beachtliche Erfolge, die allerdings den Krieg letztlich nur unnötig verlängerten. Der kurze Blick auf die Ergebnisse der Rüstungsforschung auf alliierter Seite zeigt, dass die deutsche Forschung in einigen Bereichen durchaus um Jahre voraus war, in vielen anderen allerdings meilenweit den Alliierten hinterher hinkte.

Maiers Grundannahmen, seine Argumentation und die von ihm vorgenommenen Neubewertungen der NS-Rüstungsforschung, die hier nur anhand einiger Themen angedeutet werden konnten, sind weitestgehend einleuchtend. Einzige Wermutstropfen sind die geringen internationalen Bezüge, was aber angesichts des Umfangs der beiden Bände eher als Anregung zu weiteren Forschungen, denn als Kritik zu verstehen ist. Des Weiteren ist Maiers Verständnis der Militärelite bisweilen zu eindimensional, verkennt es doch die Binnendifferenzierung dieser Kaste. Es liegt auf der Hand, dass militärisch-wissenschaftliche Hybride aufgeschlossen gegenüber Wissenschaft und Technik waren. Sie bildeten innerhalb des höheren Offizierskorps jedoch nur eine zahlenmäßig kleine Gruppe. Hier ist die Reichweite der Thesen Maiers von der Aufgeschlossenheit des Militärs als Ganzes gegenüber den Wissenschaften noch genauer zu überprüfen, ändert aber nichts an seinen Kernaussagen.

Maier blickt durch die rüstungsrelevanten Technowissenschaften und eine ebenso technokratische wie nationalistische Wissenschaftselite auf den NS-Staat und nicht umgekehrt. Seine Ergebnisse bilden einen weiteren Mosaikstein im Bild, das im Nationalsozialismus nicht mehr einen archaischen Rückfall in eine längst überwundene Zeit, sondern einen Bestandteil einer nicht als normativ zu verstehenden Moderne erkennen lässt. Damit liefert Maier Anregungen für die Erforschung des Nationalsozialismus im Allgemeinen, wie auch für weitere Studien zur Wissenschaftsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Neuvermessung von alten Forschungsfeldern und das Prüfen der Tragweite von Maiers Thesen sind im Anschluss an seine Studie nur zu begrüßen. Hierbei ist vor allem der Transfer der technikwissenschaftlich zentrierten Thesen Maiers auf die Mobilisierung der Geisteswissenschaften für den Krieg von Bedeutung, aber auch die Betrachtung der nicht im Kerninteresse des NS-Staates stehenden Wissenschaften sowie der internationale Vergleich. Dieser Weg könnte durchaus zu einer neuen Gesamtbeurteilung der Wissenschaften im Nationalsozialismus oder gar zu einer Neubetrachtung der Strukturen des NS-Staats führen. Maiers Arbeit ist ein großer und wichtiger Schritt in diese Richtung.

Anmerkungen:
1 Technowissenschaften sind für Maier ein analytisches Konzept, welches den realen interdisziplinären Verschmelzungsprozessen von Natur- mit Technikwissenschaften, von Grundlagen und Anwendungsforschung, gerecht wird.
2 Die beiden Bände bieten hierzu umfangreiches Material im Anhang. Die tabellarischen Übersichten veranschaulichen und visualisieren eindrucksvoll die Verflechtungen, Netzwerke und Kooperationsverhältnisse.
3 Auch wenn an einigen wenigen Stellen die Faszination Maiers für sein Thema durchschlägt und ein „Eros der Waffe“ anklingt, weist er zu Recht entschieden darauf hin, dass im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik von „Erfolg“ nicht zu sprechen ist und allenfalls nur in Anführungszeichen gesetzt werden kann.
4 Für eine ähnliche Sichtweise siehe jüngst: Flachowsky, Sören, Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Stuttgart 2008.

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