S. Feuchert u.a. (Hrsg.): Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt 1941

Cover
Titel
Die Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt 1941.


Herausgeber
Feuchert, Sascha; Leibfried, Erwin; Riecke, Jörg
Erschienen
Göttingen 2007: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
5 Bde., zus. 3053 S.
Preis
€ 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Eine bemerkenswerte Edition ist anzuzeigen, die zugleich ein wichtiges erinnerungspolitisches Ereignis darstellt. Das 1940 eingerichtete Getto Litzmannstadt war nach Warschau das zweitgrößte. Anders als das Getto Warschau, dass nach dem Aufstand 1943 beseitigt und aufgelöst wurde, konnte hier die wirtschaftliche Produktion für die Deutschen, vor allem Wehrmachtaufträge, bis zum Sommer 1944 das Überleben sichern. Andrea Löw, die an diesem Projekt mitarbeitete, hat 2006 eine umfassende Buchpublikation über die Lebensverhältnisse im Getto Łódź vorgelegt, eine Stadt, die nach einem in der Region „verdienten“ General des Ersten Weltkrieges in Litzmannstadt umbenannt wurde.1

Im Getto Litzmannstadt herrschte bis zum Schluss als „Judenältester“ Mordechai Chaim Rumkowski mit einer oft eigenwilligen Günstlingswirtschaft und Ordnungspolitik, er ließ aber auch die Produktion wie die Deportationen als Bedingung dafür organisieren. Die Politik des Überlebens durch wirtschaftliche Unentbehrlichkeit für die Deutschen in abhängiger Kooperation mit dem deutschen Gettoverwaltungsleiter Hans Biebow (und dem deutschen Bürgermeister der Stadt) war so weit erfolgreich, dass dieses Getto erst kurz vor Beginn des Warschauer Aufstandes Anfang August 1944 nach und nach aufgelöst wurde. Allerdings wurden Alte, Kinder und nicht Arbeitsfähige als erste „ausgesiedelt“, sprich ins gesondert dafür gebaute Vernichtungslager Chełmno/Kulmhof transportiert und ermordet.

Auf Rumkowski und seine Gettoverwaltung ging auch die Initiative zur Anfertigung einer Chronik der laufenden Ereignisse zurück. Sie wurde in der weit gefächerten Verwaltung im so genannten „Archiv“ angesiedelt. Dazu gehörten eine Grafikabteilung, eine Statistische Abteilung, die bereits 1940 gegründet wurden. Ihr Ziel war es, der Nachwelt von den Leistungen und Bedingungen der Gettoverwaltung Kenntnis zu geben. Mit dieser Quellenedition ist genau dieses erinnernde Vermächtnis erfüllt. Gewiss, dies ist nicht der erste Editionsversuch, wie Sascha Feuchert im Einzelnen in einem der Nachworte berichtet. Es gab in den 1960er-Jahren Anfänge einer polnischen Gesamtedition, die 1968, vermutlich im Zuge des dortigen Antisemitismus, abgebrochen wurde. 1984 entstand eine von einem der danach emigrierten polnischen Bearbeiter veranlasste einbändige englischsprachige Ausgabe. Zwischen 1986 und 1989 ließ Yad Vashem eine vierbändige hebräische Edition erscheinen, die sich aber – so Feuchert – primär um die Widergabe des Inhalts, nicht um philologische Fragen der Textüberlieferung kümmerte. Die jetzt vorliegende deutsche Edition ist von deutschen und polnischen Forschern aus Łódź gleichermaßen erarbeitet worden, strebt Vollständigkeit an und soll parallel nach und nach auf Polnisch erscheinen. Für die letzten Monate des Jahres 1944 wurde bereits 2004 eine Edition von den Bearbeitern dieser Bände vorgelegt. Die Chronik selbst war ursprünglich in polnischer, schließlich aber ganz in deutscher Sprache verfasst worden. Hier ist nun alles ins Deutsche gebracht.

Die Chronik setzt am 12. Januar 1941 ein und bricht nach dem 29. Juli 1944 ab. Sie umfasste ursprünglich eher nüchterne Zahlen und Berichte in einem Kommuniqué-Stil, wurde dann aber zunehmend journalistischer und bisweilen geradezu feuilletonistisch. Wesentlich trug dazu die Tatsache bei, dass mit Dr. Oskar Singer und Dr. Oskar Rosenfeld seit Herbst 1941 zwei professionelle und angesehene Journalisten aus Wien bzw. Prag zusammen mit circa 20.000 Juden aus dem Reich nach Litzmannstadt deportiert worden waren. So entstand durch ein ganzes Team an Bearbeitern in manchem eine „Tageszeitung ohne Leser“ (Lucille Eichengreen).

Ein beliebiges Beispiel an je drei- bis zwanzigzeiligen Meldungen mag das verdeutlichen. Der 26. Juli 1941 etwa nimmt fünf Seiten im Druck ein. Die Überschriften: Wetterlage, Festnahmen, Sterbefälle und Geburten, Schmuggler gestellt, Selbstmorde, Identifizierung einer angeschossenen Frau, Zusatzspeisung für die Schuljugend, Einstellung des Postverkehrs mit dem Ausland, Machtmissbrauch [des jüdischen Ordnungsdienstes nach einem Diebstahl, J.D.], Lebensmittelpreise, Lebensmittel aus Auslandspaketen, Geldfälscher, Versorgung des Gettos mit Lebensmitteln, Erholungsheim, Änderung der Arbeitszeiten, öffentliche Küchen. Plastisch wird hier eine Vielzahl an Alltagssituationen dokumentiert, Facetten eines erstaunlich reichen sozialen Lebens, aber auch die wachsende Not, die Probleme der Gettoverwaltung als solcher wie die Rezeption durch die Masse der Bevölkerung im Getto.

Im Herbst 1941 waren dies 143.000 Menschen aus Łódź sowie aus umliegenden Gettos des „Warthegaus“, hinzu kamen 20.000 Juden zumeist aus Westdeutschland, Luxemburg sowie Wien und Prag. Sie werden von den Editoren (und schon in Andrea Löws Monografie) wenig glücklich „Westjuden“, nicht immer in Anführungszeichen, genannt, ein Begriff der doch sonst zumeist aschkenasische im Gegensatz zu sephardischen Juden meint; hier ist er zu einer rein geographischen Herkunftsbezeichnung geworden. Weiterhin gab es seit Herbst 1941 auf dem Gettogelände ein separates Zigeunerlager. Die Gettochronik liefert in einem Monatsbericht für November 1941 einen eindrucksvollen Überblick über die „Prüfung“ neuer Zuwanderung, welche man „einwandfrei bestanden“ habe (1941, S. 264-275). Michael Alberti hat hierzu kürzlich deutlich gemacht, dass gerade diese Probleme ein wesentlicher regionaler Auslöser für den Bau von Vernichtungslagern gewesen seien.2 Nach diesen Deportationen befanden sich im „Arbeitsgetto“ zur Kriegsproduktion noch 90.000 Menschen, vor der Auflösung des Gettos 1944 noch 70.000 Personen.

Einschränkungen der Berichterstattung werden von den Bearbeitern deutlich benannt: Kritik an Rumkowski durfte nicht vorkommen, er las möglicherweise jeden neuen Beitrag zur Chronik. Allerdings gelang es den erfahrenen Journalisten später doch bis zu einem gewissen Grade, Kritik am „Ältesten der Juden“ anklingen zu lassen. Und: die Deutschen als solche durften nicht benannt, geschweige denn kritisiert werden, zu offensichtlich war deren Spitzelsystem auch im Getto. Später gab es im Getto auch direkte Eingriffe der Verfolger.

Die Editoren haben insgesamt quantitativ vorbildliche Arbeit geleistet und eine erstrangige Quelle eindrucksvoll ediert. Jeder Band hat eine knappe Einleitung über die Kriegssituation im jeweiligen Kalenderjahr im Allgemeinen und zumal im Warthegau und in Łódź/Litzmannstadt selbst. Die „Endanmerkungen“ erweitern den Text zur eigentlichen Chronik um jeweils circa 30 Prozent, dabei geben sie auch einen philologischen Bericht über die verschiedenen Überlieferungen. Teile des Archivs Getto Litzmannstadt sind, das legen die Editoren im Einzelnen dar, in Łódź, in New York und in Jerusalem in zum Teil abweichenden Versionen erhalten. Sodann erschließen sie aber auch zusätzliches Material, geben etwa Sacherläuterungen zu Begriffen. Hinzu kommen weitere Überlieferungen mit ausführlichen Quellenzitaten, unter anderem auch Einschätzungen verschiedener Historiker. Nicht zuletzt werden dabei die gar nicht so seltenen persönlichen Aufzeichnungen von Gettobewohnern einbezogen. Jeder Band enthält darüber hinaus noch 10 bis 30 Seiten Fotos und Faksimiles von Dokumenten, Flugblättern, der Chronik-Kladde selbst usf. Es ist eindrucksvoll, dies alles als Ergänzung bzw. als Bestandteil der Chronik zu sehen: Porträtaufnahmen von Kindern bis zu Greisen, von Produktionsbedingungen, von Funktionären und Konzertplakaten. „Kinder spielen Ordnungsdienst“ heißt es in einem bekannten Foto; aber auch die letzten Deportationen nach dem Ende des eigentlichen Chroniktextes im Jahr 1944 sind im Bild dokumentiert.

Es erscheint nicht sinnvoll, an dieser Stelle Details des Inhalts der Chronik auszubreiten. Die Edition beruht auf einer überaus breiten internationalen Recherche, welche unterstreicht, wie lohnend das ganze Forschungsprojekt war. Ein Supplement- und Anhang-Band versammelt weitere Texte, auch Memoiren und sogar Gedichte aus dem Getto (von Alice de Buton), abweichende und zusätzliche Stellen aus der Chronik. Nicht ganz glücklich in der Reihung folgen hier vier wissenschaftliche Essays: Andrea Löw gibt eine historische Einführung, Sascha Feuchert handelt zur Überlieferungsgeschichte und Jörg Riecke zur Sprache der Chronik. Erwin Leibfried und Elisabeth Turvold versammeln Information zur Edition und zu den „Textzeugen“ – tageweise tabellarische Aufstellungen zur Überlieferung der einzelnen Versionen. Ein eindrucksvolles Quellen- und Literaturverzeichnis steht noch vor einem gerade in diesem Fall besonders wichtigen und ergiebigen Personenregister – getrennt nach „Opfern des Nationalsozialismus“, deutschen Funktionsträgern, in der Chronik erwähnten Künstlern und weiteren historischen Persönlichkeiten sowie zitierten Wissenschaftlern. Letzteres ist ein wenig künstlich und gerade die Opferkategorie analytisch schwierig.

Die deutsche Editionsgruppe aus der Gießener Forschungsstelle Holocaustliteratur umfasste primär Philologen, nur die freie Mitarbeiterin Löw scheint Historikerin zu sein. Bei allem Bemühen um nüchterne wissenschaftliche Arbeit werden Kontextualisierungen und Sprache gelegentlich nicht glücklich gewählt. Ob man etwa wie benannt im Register nach „Opfern“ gliedern sollte, erscheint fraglich. „Deutsche“ und „Nationalsozialisten“ werden in den Einleitungen zu sprachlich abzuwandelnden Synonymen. „Auf der Wannsee-Konferenz [...] organisierten die Nationalsozialisten [...] den bereits begonnenen Massenmord“ (1942, S. 7): „die“ Nationalsozialisten? „Was mit den nach Kulmhof deportierten Männern, Frauen und Kindern geschah, konnten die Menschen im Getto nicht wissen“ (ebd., ähnlich 1944, S. 7): Wer entscheidet über die Unmöglichkeit von Wissen? Es reicht doch zu konstatieren, dass diese Menschen nach heutiger Einschätzung nichts von dem Ziel wussten (Ab wann gab es aber doch Ahnungen oder Wissen und von wem?). „Den Nationalsozialisten“ sei 1941 die Sowjetunion „vermutlich“ als geeignetes Abschiebegebiet erschienen (1941, S. 12): das hat die Forschung seit längerem erhärtet. Anfang 1945 hoben die letzten Gettobewohner Massengräber aus. „Ihnen war klar, was das bedeutete“ (1944, S. 11): Woher wissen die Autoren das so genau? Auch sonst „wissen“ die Autoren manchmal zu viel über die psychischen Situationen im Getto, die Empathie mit den Opfern hätte man da den Lesern überlassen können.

Dies gesagt, ist ein beeindruckendes deutsch-polnisches Forschungsprojekt zu würdigen, das nur für die Dokumentation der Vertreibungen nach 1945 eine Parallele aufweist.3 Das liegt an der einzigartigen Quelle, nämlich der ausführlichen Beschreibung der Lebenssituationen von Juden in einem Getto über vier Jahre hinweg. Dies ist aber ebenso der großen Arbeitsleistung der Gießener und Łódźer Forscher zu verdanken, die ein bedeutendes Werk geschaffen haben. Zu danken ist nicht zuletzt dem Verlag für eine optisch und graphisch ansprechende Publikation im Schuber.

1 Löw, Andrea, Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006; vgl. die Rezension von Johannes Vossen vom 19. Juni 2007 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-170>.
2 Alberti, Michael, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939-1945, Wiesbaden 2006; vgl. meine Rezension vom 20. September 2007 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-218>.
3 Borodziej, Wlodomierz; Lemberg, Hans (Hrsg.), „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden...“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven. Marburg 2000-2004 (zuvor auch auf polnisch); vgl. die Rezension von Heidi Hein-Kircher vom 10. Januar 2005 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-025>.

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