I. Miethe: Bildung und soziale Ungleichheit in der DDR

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Titel
Bildung und soziale Ungleichheit in der DDR. Möglichkeiten und Grenzen einer gegenprivilegierenden Bildungspolitik


Autor(en)
Miethe, Ingrid
Erschienen
Anzahl Seiten
387 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Renate Hürtgen, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam e.V.

Ingrid Miethe, Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt, legt mit diesem Buch ihre Habilitationsschrift vor, die im Rahmen eines Forschungsprojektes der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Geschichte der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) Greifswald entstand. Die Umwandlung so genannter Vorstudienabteilungen in Arbeiter- und Bauernfakultäten als Einrichtungen des Zweiten Bildungsweges, die Arbeiter- und Bauernkindern den Hochschulzugang ermöglichen sollten, wurde 1949 beschlossen. Bereits 1962 leitete eine Vorlage des Zentralkomitees der SED zur „Reduzierung und Konzentration der Ausbildungskapazitäten der ABF“ deren de facto Schließung ein (S. 199). In diesem Zeitraum haben etwa 35.000 Absolventen ihr Abitur abgelegt. Anhand dieser Episode der frühen DDR-Geschichte ist ein historisch und theoretisch anspruchsvoller und anregender Text entstanden, den zu lesen ein Vergnügen ist.

Dass es der Autorin gelingt, am Beispiel dieses bildungspolitischen Vorgangs mit begrenzter Reichweite ein allgemein interessierendes Problem zu entwerfen, hängt wesentlich mit der gleich an den Anfang gestellten aktuellen Einordnung des Themas zusammen. Sie erinnert an die Pisa-Studie, die schlagartig ins allgemeine Bewusstsein gehoben hat, was namentlich in Deutschland vergessen schien: wie eng soziale Herkünfte und Bildungschancen zusammenhängen. Bekanntlich wurde nach 1945 in Ost- und – rund zwei Jahrzehnte später – auch in Westdeutschland der Versuch unternommen, den Kreislauf von Herkunft, Bildung und Platzierung in der sozialen Hierarchie zu durchbrechen. Es wurden unterschiedliche Instrumente geschaffen, um bildungsfernen Schichten den Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen – mit geringem Ergebnis, wie Miethe meint. Bereits Ende der 1950er-Jahre lässt sich für die DDR wieder eine zunehmende soziale Schließung feststellen. Und die Bildungsexpansion in Westdeutschland hätte zwar zu einer allgemeinen Anhebung des Bildungsniveaus geführt, die soziale Ungleichheit aber sei auch hier nicht aufgehoben worden. Für die Autorin ist es dabei nicht angemessen, sich auf strukturelle Gegebenheiten zurückzuziehen. Ihre Arbeit ist mit der Haltung verfasst, dass es lohne, darüber nachzudenken, wie sich die Reproduktion von Ungleichheit auf dem Feld der Bildungspolitik stoppen ließe. Hierzu dienen ihr solche historischen Exkurse wie derjenige in die Bildungspolitik der DDR. Am Beispiel der ABF will sie fragen, ob sie als Kernstück einer gegenprivilegierenden Bildungspolitik zur Aufhebung des tradierten Zusammenhanges zwischen Bildung und sozialer Ungleichheit beigetragen haben, und wenn nicht, warum diese Politik „in die Sackgasse“ (S. 12) führte.

Bevor sich Miethe der bildungspolitischen Nachkriegssituation in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) beziehungsweise der DDR zuwendet, diskutiert sie verschiedene theoretische Konzepte, die in der einen oder anderen Weise geeignet erscheinen, den Zusammenhang von Bildung und sozialer Ungleichheit auch für die SBZ/DDR zu erklären. Es sind der in der DDR favorisierte Ansatz der Brechung des Bildungsmonopols, der sozialisationstheoretische, der modernisierungstheoretische, der reproduktionstheoretische Erklärungsansatz, Bourdieus Konzept des kulturellen und politischen Kapitals sowie der Political-Process-Ansatz (PPA). Für ihren Gegenstand betont sie zu Recht einerseits die Bedeutung des Politischen, insofern sich die bildungspolitischen Anstrengungen der DDR von Anfang an auf die Rekrutierung einer neuen, parteiloyalen Machtelite gerichtet hätten. Andererseits wird für sie die „Gelegenheitsstruktur“ zur wichtigen Matrix, die auch und gerade für die frühe DDR erst begreifbar macht, welche Bedeutung gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die tatsächliche Nutzung von Chancen zukommt. Dieses sehr anregende Methodenkapitel hat mich auf die Frage gebracht, ob der aus der sozialen Bewegungsforschung kommende Political-Process-Ansatz nicht durch einen milieutheoretischen Zugang ergänzt werden müsste, über den sich genauer erklären ließe, warum trotz guter Gelegenheit eine bildungsferne Schicht ihre Chance nicht ergreift. Selbst Bourdieus Habitus-Konzept, auf den sich die Autorin im Weiteren bezieht, gewönne unter Umständen, wenn er um Aspekte der Tradition und Reproduktion der symbolischen Ordnung einer gesellschaftlichen Gruppe erweitert würde.

Der empirisch gesättigte Hauptteil ihrer Arbeit beginnt mit einem Überblick über die Entwicklung der „politischen Gelegenheitsstruktur“ für den Aufstieg bildungsferner Schichten in den 1950er- und 1960er-Jahren und endet mit einem Ausblick auf die kommenden Jahrzehnte in der DDR. Hier werden die bekannten bildungspolitischen Linien von der zunächst weitgehend offenen zur immer geschlosseneren Sozialstruktur am Beispiel der Entwicklung des ersten und zweiten Bildungsweges sowie der Hochschulpolitik aufgezeigt. Miethes Phaseneinteilung, wonach lediglich bis 1948 eine offene administrative Gelegenheitsstruktur herrschte, die danach zu einer „nahezu völligen Schließung der politischen Gelegenheitsstruktur für zivilgesellschaftliche Akteure“ (S. 137) geführt hätte, wirft einige Probleme auf und regt zum Widerspruch an. Zum einen wird auch an ihrer Arbeit deutlich, wie problematisch der Begriff „Zivilgesellschaft“ in seiner Anwendung auf die DDR ist. So teilt sie beispielsweise die bildungspolitischen Akteure nach 1945 in zivilgesellschaftliche (Reformpädagogen) und staatliche (das sind die „neuen Machthaber“), obwohl sie gleichzeitig beschreibt, dass in beiden Akteursgruppen durchaus auch SED-Mitglieder sein konnten, sich jedoch eine Fraktion im Machtkampf durchsetzte. Damit ist der sozialstrukturelle Gehalt des Begriff eliminiert, Zivilgesellschaft wird zum Normativ.

In ihren ausführlichen Darstellungen zur Geschichte der Bildungspolitik entsteht ein sehr viel differenzierteres Bild von den tatsächlichen Resultaten des staatlichen Bemühens, mittels Rekrutierung einer loyalen Elite die eigene Macht zu festigen. Das Ergebnis dieser Politik, war widersprüchlich und folgte noch einer Reihe anderer Gesetze als denen des unmittelbaren politischen Kalküls. Der Anspruch, im Rahmen eines „bildungspolitischen Großexperiments“ (S. 338) Arbeiter- und Bauernkindern den Zugang zur höheren Bildung zu verschaffen und damit zugleich das Bildungsmonopol der alten Intelligenz zu brechen, war hoch. Ihn einzulösen stand und fiel mit dem Prozedere der Zulassung zu diesem dreijährigen Abitur. Die Kriterien der sozialen Herkunft waren jedoch bald aufgeweicht und es fanden sich zunehmend Studenten in den ABF wieder, die keine Arbeiter- und erst recht keine Bauernherkunft nachweisen konnten. Der Anteil von Bauern war ohnehin immer verschwindend gering. Ähnlich unterrepräsentiert waren Arbeiterfrauen, was Ingrid Miethe zu der interessanten These veranlasst, dass sich der Abbau schichtspezifischer Ungleichheiten gegen den Abbau geschlechtsspezifischer Ungleichheiten richtete. Am Beispiel der Frauen wird auch deutlich, dass sich nur mit einer Förderungskampagne großen Stils dieser Anteil 1952/53 kurzzeitig erhöhen ließ.

Die Chancen der anteilig etwa 20 Prozent „Sonstigen“ – das waren Handwerkerkinder, Mittelständler oder sie kamen aus anderen bildungsnahen Elternhäusern – in die ABF aufgenommen zu werden, änderte sich auch nicht, nachdem verstärkt auf die politische Loyalität der Studenten und Lehrkräfte geachtet wurde. Letztere waren bereits Anfang der 1950er-Jahre überwiegend Mitglieder in der SED. Das politische Loyalitätsbekenntnis der Arbeiterstudenten hielt sich dagegen in Grenzen, trotz größerer Werbungsanstrengungen traten sie selten in die Partei ein. Ihr „politisches Kapital“ der Herkunft hatten sie ja bereits, die „Sonstigen“ mussten es sich über loyales Verhalten erst erwerben, und taten dies offensichtlich auch.

Die eingangs gestellte Frage, ob es in der DDR mittels einer gegenprivilegierenden Bildungspolitik gelungen sei, tradierte soziale Ungleichheiten aufzulösen, lässt sich zusammenfassend so beantworten: Mit Hilfe großer bildungspolitischer Anstrengungen erhöhten sich in der frühen DDR kurzzeitig die Chancen für Arbeiterkinder auf einen Hochschulzugang, die Reproduktion sozialer Ungleichheitsstrukturen war damit aber nicht gestoppt. Zwei Erklärungen für das Scheitern dieses sozialpolitischen Ziels scheinen mir hervorhebenswert. Miethe weist zum einen nach, dass nur zwei Drittel aller Studenten der Arbeiter- und Bauernfakultät das Klassenziel erreichten und ein Studium aufnehmen konnten, vor allem die Arbeiterstudenten brachen vorzeitig den Abiturgang ab. Tatsächlich waren letztlich nur circa 16 Prozent aller Hochschulstudenten in der DDR Absolventen einer ABF, wobei sich in den mathematisch-naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten jene mit bildungsnahem Hintergrund, in den pädagogischen und technischen Fachrichtungen die Arbeiterstudenten sammelten. Die vorgelegte „Verbleibstudie“ zeigt, dass ein großer Teil von ihnen später in der Industrie und Verwaltung tätig war; über 70 Prozent bekleideten vor 1989 eine Leitungsfunktion. Zum anderen beschreibt die Autorin, wie sich die Tore für einen höheren Bildungsaufstieg von bildungsfernen und Menschen ohne „politisches Kapital“ in der DDR schlossen und die neue Elite sich aus sich selbst reproduzierte. Folglich fand der Elitenwechsel unter teilweiser Beteiligung von Arbeitern statt und eine Bildungsexpansion hob das Niveau bildungsferner Schichten an, während die sozial ungleiche Platzierung in der Gesellschaft davon weitgehend unberührt blieb. Spätestens an dieser Stelle drängt sich dem Leser die Frage auf, ob Miethes Maß, das sie an die DDR-Bildungspolitik legt, überhaupt realistisch ist? Oder ob die „Grenzen einer gegenprivilegierenden Bildungspolitik“ in einer Klassengesellschaft nicht noch viel enger zu ziehen sind als die Autorin in einem Schlusskapitel selbst thematisiert?

Ingrid Miethe hat einen wichtigen Beitrag zu dem fast geisterhaft erscheinenden Streit unter Historikern geleistet, der darum geht, ob und unter welchen methodischen Voraussetzungen es angesichts angeblicher Überforschung überhaupt noch eine DDR-Geschichtsschreibung geben solle. Auf ganz unspektakuläre Weise hat sie mit ihrem Buch nachgewiesen, dass es durchaus noch „weiße Flecken“ gibt und dass sich auch ohne ein transnational oder europäisch angelegtes Forschungsdesign eine piefige DDR-Heimatgeschichte vermeiden lässt. Mit ihrem methodisch-theoretischen Arsenal, das sie aus der historischen Sozialstrukturanalyse, der Sozialgeschichtsschreibung und der Biografieforschung entlehnt sowie den Fragestellungen, die ihre Forschung strukturieren, hat sie ein gerade auch für Zeithistoriker beachtenswertes und zur Nachahmung empfohlenes Buch geschrieben.

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