Cover
Titel
Intimate Enemies. Demonizing the Bolshevik Opposition, 1918-1928


Autor(en)
Halfin, Igal
Reihe
Pitt Series in Russian and East European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 20,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Herzberg, Universität Bielefeld

Igal Halfin, einer der frühesten Verfechter des linguistic turn in der Osteuropäischen Geschichte und nun Professor in Tel Aviv, hat seine dritte Monografie vorgelegt. Sowohl in der Auswahl der Quellen und Methode, der Fragestellung und des Zeitraums als auch mit seinen Thesen schließt er eng an seine vorangegangenen Studien an.1 Wie in seinen vorherigen Büchern treibt ihn die Frage an, was die Großen Säuberungen möglich machte, die nicht nur die Feinde der neuen Ordnung verschluckten, sondern denen auch ausgewiesene Kommunisten zum Opfer fielen. Ein großes Gewicht bei ihrer Beantwortung misst er den Rhetoriken und Semantiken bei, die in Bezug auf die innerparteiliche Opposition erklangen. Im Laufe der 1920er-Jahre wurden die semantischen Netze, die zwischen Innen und Außen, Freund und Feind, schieden, immer engmaschiger. Galt in den frühen 1920er-Jahren eine abweichende Gesinnung als Krankheit, deren Ursachen autobiografisch und mit Hilfe einer aufwendigen „Seelenhermeneutik“ nachgespürt wurde, wandelte sie sich in den 1930er-Jahren zum dämonischen Verbrechen.

Eindrucksvoll eröffnet Halfin sein Buch mit einer Schilderung des Gerichtsverfahrens gegen Roman Malinowski im Jahre 1918. Dieser war durch seine doppelgesichtige Mitarbeit in der zarischen Geheimpolizei wie auch in der vor der Revolution noch im Untergrund agierenden bolschewistischen Partei zum Inbegriff des „intimen Feindes“ geworden. Ihm gelang es vor Gericht nicht, sein Leben als den Irrweg eines Kranken zu zeichnen. Als unheilbar deklariert konnte Malinowski nicht auf Vergebung hoffen. Das Verfahren gegen ihn, das mit seiner Hinrichtung endete, nahm die Entwicklung des Umgangs mit der innerparteilichen Opposition in den späten 1920er-Jahren bis zum Finale der Großen Säuberungen vorweg. Spätestens mit der Verabschiedung der „Stalin-Verfassung“ von 1936 standen Judas, der Verräter Malinowski und Leo Trotzki auf gleicher Stufe. Sie hatten nicht einfach nur gefehlt, sondern waren böse bis in die letzte Faser ihres Körpers hinein. Ihre Namen waren austauschbar. Sie standen für hinterlistigen Verrat.

Nachdem Halfin mit diesem Prolog sehr anregend seine Hauptthesen vorwegnimmt, legt er in der Einleitung Fragestellung und Vorgehen dar. Anhand von semantischen Veränderungen möchte er zeigen, wie die innerparteiliche Opposition den „intimen Feinden“ gleichgestellt wurde. Das Ziel von Halfins Untersuchung ist es zu zeigen, wie es der Partei gelang, die Opposition sprachlich zu dämonisieren. Hierfür, so kündigt er an, blende er konsequent Wirtschaftsdaten, internationale Beziehungen, Sozialstruktur und ähnliches aus seiner Untersuchung aus. Allein die Sprache stehe im Mittelpunkt, deren Kraft bei der Konstruktion von Wirklichkeit frühere Historiker nur begrenzt verstanden hätten. Eine Diagnose, die in dieser Allgemeinheit erstaunt und wohl mehr als ritualisierte, in jedem seiner Bücher geübte Geste der Abgrenzung von der Sozialgeschichte zu lesen ist. Was dann folgt, geht über eine Gebärde der Selbstverortung weit hinaus. Halfin kündigt eine Archäologie des bolschewistischen Diskurses über die Opposition an. In der Form von Mikrostudien, die er ausdrücklich nicht als Lokalstudien verstanden wissen will, möchte er in unterschiedlichen Arenen die Interaktionen mit und über die Opposition nachzeichnen. Dabei, und hierin unterscheidet er sich von einer Vielzahl begriffsgeschichtlicher und diskursanalytischer Arbeiten, werde er sich vor allem auf Archivmaterial stützen.

Das erste Kapitel stellt die Parteikongresse in den Mittelpunkt. Halfin sieht in ihrer Betrachtung eine ausgezeichnete Möglichkeit, einen Einblick in die bolschewistische Öffentlichkeit zu gewinnen. Mit Rekurs auf die Begriffsgeschichte Bielefelder Prägung geht er dabei dem Wortfeld „Opposition“ nach, dessen radikale Veränderung für ihn den Beginn des Brudermordens in den Großen Säuberungen markiert. „Oppositioneller“ war im Gegensatz zu „Fraktionen“ und „Richtungen“ bis 1923/24 eine milde Form, um den Abweichler zu markieren. Die Kennzeichnung blieb ungefährlich, wenn der Dissens nur in einzelnen Aspekten bestand, kein vollkommener Gegenentwurf zu der Politik des Zentralkomitees und der Partei unterbreitet wurde. „Opposition“ wurde meist als „opposizii“ in der Mehrzahl gebraucht und bezeichnete eine synchrone Pluralität. Die Verwendung des Wortes war noch uneinheitlich. In der Mitte der 1920er-Jahre wurden jedoch die Semantiken häufiger, die „Opposition“ mit Krankheit, „Einheit“ hingegen mit Gesundheit assoziierten. Eine der vielen Karikaturen, mit denen Halfin den Wandel der Semantiken visualisiert, zeigt dies deutlich: Entkräftet purzeln Trotzki und Sinowjew von der Ladefläche eines bergauf, in Richtung Sozialismus und Industrialisierung fahrenden Wagens. Noch nicht Bösartigkeit, sondern vor allem körperliche Schwäche schloss die beiden vom Zentralkomitee aus.

Im zweiten Kapitel zeigt Halfin, wie den oppositionellen Gruppen zwischen dem Zehnten und Zwölften Parteitag immer mehr die Rechtmäßigkeit abgesprochen wurde. Halfin arbeitet dabei die Bedeutung von Praktiken wie Lachen und Verlachen heraus. Die Möglichkeit, auf den Parteikongressen mit Witz manches Wortduell für sich zu entscheiden, zeigt zu Beginn der 1920er-Jahre, dass die Rollen zwischen Siegern und Verlierern noch nicht verteilt waren. Doch die Angst vor Mehrdeutigkeiten nahm zu. In den Semantiken setzte sich immer mehr eine Polarität durch, die scharf zwischen Partei und „der“ Opposition schied und die im Sinne einer inneren Reinigung nach Säuberung rief. Ein Netzwerk von Kontrollkommissionen überzog seit dem Neunten Parteitag das ganze Land, welche die Biografie und Lebensweise ihrer Parteimitglieder abwogen und Einheitlichkeit innerhalb der Partei herzustellen versuchten.

Das dritte Kapitel ist das interessanteste, da Halfin in ihm zeigen kann, wie der auf Parteikongressen gepflegte Diskurs über die Opposition in alltägliche Praktiken umgesetzt wurde. Dafür geht Halfin an die Kommunistische Universität nach Petrograd, an der Prozeduren der Säuberung von den Studenten selbst getragen wurden. Im März 1924 entstanden Zirkel, in denen jeder Student seine Autobiografie präsentieren und sich einer kurzen Befragung unterziehen musste. Ziel war es, das wahre Selbst der Studenten zu entlarven und zwischen Freund und Feind zu scheiden. Als Indikatoren fungierten Herkunft und Klassenstatus der Eltern. Die von den Studenten präsentierten Lebenswege waren durchdrungen – diese These hat Halfin schon ermüdend oft geäußert – von eschatologischen Motiven.

Das vierte Kapitel bietet einen Einblick in die Diadochenkämpfe nach Lenins Tod. Ein Meilenstein in dem Prozess beschleunigter Delegitimierung der Opposition war die Funktionalisierung von Trotzkis ‚Lehren des Oktobers’ durch die Troika um Stalin. Sie nutzte Trotzkis Schrift, um den Gegensatz zwischen der Partei und den „intimen Feinden“ zu vertiefen. In der Debatte um Leninismus und Trotzkismus schwanden die medizinischen Diskurse, die abweichendes Verhalten als heilbar ansahen und hermeneutischer Verfahren zur Diagnose bedurften. Stalin konnte den Machtkampf immer mehr für sich entscheiden. Das Bild des Oppositionellen bekam typische Züge. Als weibisch charakterisiert wurde ihm mit der Männlichkeit auch die Politikfähigkeit abgesprochen.

Als die früheren Rivalen Trotzki, Sinowjew und Kamenew sich zusammenschlossen, eskalierten, so die beiden abschließenden Kapitel, die innerparteilichen Kämpfe weiter. Die semantischen Schlachten wurden schärfer. Aus „Abweichlern“ wurden „Konterrevolutionäre“, aus den Anhängern Trotzkis Trotzkisten. All dies ist bekannt. In nun schon vertrauter Zitatverliebtheit zeigt Halfin diese Entwicklung auf der Mikroebene auf, indem er den Leser nach Tomsk an das Technologische Institut führt, wo die Mehrzahl der Studenten Parteimitglieder waren. Der Ausschluss Trotzkis und Sinowjews aus der Partei war auch in Sibirien ein geeignetes Signal, die Partei von unliebsamen Genossen zu säubern. Der Verlust der Polysemien vereinfachte das Verfahren. Für den, der das Monopol der Partei anzweifelte, gab es weder in Tomsk, noch in Moskau Verständnis oder Gnade. Die Überprüfungskommissionen übergaben den „Häretiker“ an die Geheimpolizei oder den NKWD. Kaum einer, der zu Recht oder gar fälschlicherweise als Oppositioneller bezeichnet wurde, verblieb nach 1935 in der Partei. Das Jahr 1938 überlebten nur wenige.

Obgleich es Halfin gelingt zu zeigen, wie die Opposition erst sprachlich, später dann auch physisch ins Abseits gestellt wurde, kann sein Buch nicht vollkommen überzeugen. Zu viele Thesen erweisen sich als die Wiederholung schon oft geäußerter Ansichten. Zu sehr erliegt Halfin mitunter selbst der Sprachgewalt seiner Quellen. Statt einer eingehenden Quellenanalyse präsentiert er mitunter nicht mehr als einen Klangteppich addierter Zitate. Da Halfin die Wechselseitigkeit des Verhältnisses von Sprache und Subjekt zugunsten des bolschewistischen Diskurses bis auf wenige Ausnahmen (S. 304ff.) unterbeleuchtet, erscheinen Menschen mitunter als bloße Aussageautomaten.

Doch nicht nur bei der Auswertung der Quellen bleibt vieles unausgesprochen. Auch methodisch geht Halfin zu assoziativ vor. Häufig nur mit wenigen Endnoten oder indirekten Zitaten markiert, lehnt er seine Sprachbetrachtungen an die Theorien und Methoden Jaques Derridas, Michail Bachtins, John Searles, John Austins, Quentin Skinners, Michel Foucaults und Reinhart Kosellecks an. Ob diese Andeutungen mehr sind als ein Zeugnis eigener Belesenheit, bleibt unklar. Viele Referenzen verpuffen argumentativ ungenutzt. Inwieweit Begriffsgeschichte, Diskursanalyse und Sprechakttheorie überhaupt kompatibel sind und welcher konkrete Nutzen sich aus ihrer Zusammenschau ziehen lässt, wird leider nicht erörtert. Dies ist schade. Seine gut gewählten Fallbeispiele hätten sich dafür trefflich geeignet. Halfin trägt auch mit seinem dritten Buch die Totalitarismustheorie und die sozialhistorische, „revisionistische Schule“ zu Grabe und beeindruckt durch intensive Archivarbeit. Jedoch ein klärender Beitrag in der wichtigen Debatte um Sprache ist seine Studie leider nicht.

Anmerkungen:
1 Halfin, Igal, From Darkness to Light. Class, Consciousness, and Salvation in Revolutionary Russia, Pittsburg, PA 2000; Halfin, Igal, Terror in My Soul. Communist Autobiographies on Trial, Cambridge, MA 2003.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch