D. Sdvižkov: Zeitalter der Intelligenz

Titel
Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Sdvižkov, Denis
Reihe
Synthesen. Probleme europäischer Geschichte 3
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Richard Pohle, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

In der Reihe „Synthesen. Probleme europäischer Geschichte“ 1 hat Denis Sdvižkov eine wahrlich herkulische Aufgabe übernommen – und, das vorweg, er hat sie in sehr lesenswerter Weise gemeistert. Denn eine vergleichende Geschichte der Gebildeten und der Intelligenz im Europa des langen 19. Jahrhunderts zu schreiben, heißt nicht nur, es mit einem höchst amorphen sozialen Gebilde zu tun zu haben, dem der deutsche Großordinarius mit seiner Villa im Grunewald ebenso angehört wie der engagierte französische Intellektuelle im Café oder der abgerissene russische Seminarist, der mit Bakunin unter dem Arm zur nächsten Nachhilfestunde eilt, um damit seine karges Zimmer zu bezahlen. Es bedeutet zudem auch, mit einem Konzept zu hantieren, dessen Existenz bis zuletzt untrennbar mit dem oft leidenschaftlichen Kampf um seine Deutung und Selbstdeutung verbunden war und dessen Beschreibung deshalb immer auch dieses Konzept gleichsam „von innen“ heraus fortzuschreiben gezwungen ist (S. 185).

Dass sich vor diesem Hintergrund das zu untersuchende Phänomen einer europäischen Intelligenz einfachen Definitionsversuchen entzieht – zwischen französischen intellectuels und deutschen Gebildeten liegen wie auch zwischen polnischer inteligencja und russischer intelligencija ganze semantische Welten – und weder in der Beschreibung als sozialer Schicht noch in der eines kulturellen Konzepts ganz aufgeht, ist einleuchtend und stellt die Weichen der Darstellung. Angelegt als Synthese der bisherigen Forschung ist es die Absicht des Buches, „eine Art Nachschlagewerk“ (S. 19) für dieses komplexe Phänomen zu liefern, wobei nach einer idealtypischen Beschreibung der jeweils national konzeptualisierten Leitbilder und ihrer sozialen Träger und Milieus im ersten Teil in einem zweiten Schritt versucht wird, einen Überblick über die bisherige Forschung zu geben und mögliche Vergleichs- und Problemdimensionen zu kennzeichnen. Ergänzt wird dies dann noch durch eine ausführlich kommentierte Bibliographie.

Als Hauptauswahlkriterium der behandelten Länder (Frankreich, Deutschland, Polen und Russland) war die jeweilige „Intensität der Intelligenz-Traditon“ (S. 18) bestimmend, was, wie der Autor selbst einräumt, sicherlich noch einen Blick auf England erforderlich gemacht hätte. Allerdings hätte dies nicht nur die „physischen Möglichkeiten des Autors“ (ebd.) gesprengt, sondern vor allem auch dessen letztlich überzeugendes Narrativ von der abgestuften Achse Paris-Moskau, das durch den jeweiligen Blick nach Westen konstituiert wird und der Darstellung zugrunde liegt. Der chronologische Rahmen von europäischer Sattelzeit bis zum ersten Weltkrieg wird dabei zwar weitgehend eingehalten, doch immer wieder um Vor- und Ausblicke ergänzt.

Sdvižkov beginnt seine Darstellung mit dem französischen Konzept der intellectuels nicht nur um des beschriebenen Effekts der Achse Paris-Moskau willen, sondern vor allem deshalb, weil das französische Modell des Intellektuellen zum einen wohl dasjenige ist, das, da es sein „goldenes Zeitalter“ eigentlich erst im kurzen 20. Jahrhundert hatte, dem gegenwärtigen Bild am ehesten entspricht, und weil es zum anderen eben schon vor seiner eigentlichen Konzeptualisierung als Phänomen bestand, nämlich in Gestalt der hommes de lettres, der philosophes oder später der (positivistischen) savants. Die Schlagwörter und Programme, in deren Ausarbeitung sich die zumeist freischaffenden Schriftsteller und Journalisten zu einer noch losen Schicht formierten, waren dabei mit civilisation, opinion, engagement und dem gewaltigen Imperativ education bereits diejenigen, die sich dann mit der Dreyfus-Affäre zu dem stabilen Konzept verengten, das dann bis in die 1980er-Jahre des 20. Jahrhundert sein eigentliche Blüte erlebte: nämlich das des militant engagierten (linken) Intellektuellen, das von niemandem so ausgefüllt wurde wie von Jean Paul Sartre.

Gegenüber diesen antibourgeoisen „Priestern der säkularen Religion“ (Julien Benda) dienen die deutschen Gebildeten anderen Göttern. Auch wenn sie bei Sdvižkov hier nur gemäß dem „Mainstream-Verständnis des 19. Jahrhunderts“ (S. 67) dargestellt werden, und d.h. männlich, preußisch und protestantisch sind, wird dadurch doch das Spezifische dieses Typs deutlich: Wesentlich geprägt von einer protestantischen Weltfrömmigkeit und der ihr eigentümlichen Mischung aus Arbeitszwang und Innerlichkeit stand dieser Typ stets in der Spannung zwischen humanistischer Bildung und dem Dienst an Staat und Nation. Der eher liberalen Lösung dieser Spannung in Richtung auf Freiheit, Bildung und Rechtstaatlichkeit, wie sie in der kurzen Phase des Frankfurter „Professorenparlaments“ exemplarisch wurde, stand jedoch in der Mehrheit ein Typ gegenüber, der nach 1871 erst das „Traumziel“ aller gebildeten Karrieren darstellte, und nach 1918 dann schon unter dem Verdikt des „Bildungsbürgers“ stand: der ordentliche Professor. Dieser war national gesinnt, auf dem generationellen Weg vom Pastoren- in den Professorenhaushalt clandynastisch vernetzt, sozial durch und durch solide und leicht mit „Idealismus-Surrogaten“ wie „Weltpolitik“ und „Flottenbau“ abzuspeisen (S. 97). Dass dieser bei Sdvižkov vielleicht etwas überzeichnete „politische Professor“ dann sehr schnell seine „Götzendämmerung“ erlebte und als Leitbild wenigstens noch für eine kurze Zeit von einem neuen, bereits mehr am französischen Typus orientierten Intellektuellen abgelöst wurde, bestätigte dann aber nur noch die vom Autor geteilte Einschätzung Fritz Ringers, der in Bezug auf das deutsche Bildungsbürgertum von einer „hohen Tragödie“ gesprochen hatte (S. 101f.).

Ein ganz anderes Bild begegnet dagegen in Polen bzw. bei der polnischen inteligencja, die ja gerade von der Abwesenheit des Staates geprägt wurde. Hier kann Sdvižkov zeigen, wie die Stilisierung der hauptsächlich vom verarmten Adel (szlachta) und vom Offizierscorps gebildeten inteligencja als eines „Staates im Staate“ im kollektiven Bewusstsein der Polen zu einer Mythologisierung führte, die einerseits die Ausbildung einer „nationalen Mission“ begünstigte, gegen deren „Pathos der kleinen Taten“ kein Kulturpessimismus ankam (S. 120f.), das andererseits aber die Katastrophe von 1939, also die Niederlage des kurzlebigen polnischen „Inteligencja-Staates“ zu einem Trauma werden ließ, das die inteligencja fortan mit dem Makel polnischer „Anomalität“ verknüpfte (S. 136f.).

In Russland schließlich ist die Geschichte der intelligencija auch nur durch den immerwährenden Blick nach Westen zu verstehen, wenngleich es hier der Staat und nicht das Bürgertum war, der als lange Zeit einziger Bildungsträger und zugleich „erster Europäer“ (Puškin) die Voraussetzungen für die Formierung einer Intelligenz zum Teil erst gegen erhebliche Widerstände durchsetzen musste. Wie gering das Sozialprestige von Bildung war, zeigt etwa die, so Sdvižkov, keineswegs untypische Szene, dass noch bis ins 20. Jahrhundert hinein der Staat irgendein Kreisstädtchen mit einer Schule ausstatten wollte, dies jedoch von den örtlichen Bürgern und Kaufleuten inständig zu verhindern gesucht wurde, weil sie darin keinen Nutzen, wohl aber vermehrte Kosten sahen (S. 147). Geht man von diesen problematischen Bedingungen aus, so kann man die Dynamik nicht genug betonen, mit der sich die lange Zeit fast ausschließlich vom Militär getragene russische intelligencija dann durch Feldzüge der Jahre 1813-1815 – die sich als „eine Art Massen-Bildungsreise“ erwiesen (S. 150) – und unter den Reformen Alexanders II. entwickelte und mit der sich schon bald ein normatives intelligencija-Konzept ausprägte. Aufgabe der Intelligenz war es demnach, aus eigener Kraft eine verstehende und darum deutungsfähige Schicht zu bilden, die die Reife der russischen Öffentlichkeit vor dem Westen demonstrieren sollte (S. 155f.). Deren Archetypus wurde dabei jedoch nicht der Professor, sondern der „ewige Student“ (S. 157), der das gesellschaftliche Engagement als das wesentliche Abgrenzungskriterium der intelligencija gegenüber den bloß ausgebildeten Beamten am ehesten dadurch bezeugte, dass er sich in politischen Zirkeln radikalisierte. Welche Folgen diese Radikalisierung z.B. auch bei pockennarbigen Seminaristen aus Georgien zeitigte, wurde dann in den Jahren nach 1917 auch für die seit 1905 langsam entstehende liberale Intelligenz überdeutlich.

Was nun den Ertrag der vergleichenden Perspektive des Buches angeht, so liegt dieser weniger im Versuch einen universellen und „festen Kern“ des Intelligenz-Begriffes zu fassen (S. 193). Zwar kann der Autor immer wieder auf gemeineuropäische Erfahrungen verweisen, so etwa auf die Bildung von Dynastien und Netzwerken, die Beteiligung an der Suche nach Modellen sozialer Ordnung oder aber auf die Spannung zwischen mehrheitlich staatskritischem Selbstverständnis und sozialer Realität, doch bleiben Grenzen wie Kriterien einer europäischen Intelligenz aufgrund der nationalen Ambivalenzen äußerst unscharf, wie der Autor auch immer wieder einräumt. Dagegen ist der Ertrag dort am größten, wo aus der Gegenüberstellung der einzelnen nationalen Idealtypen die Problemdimensionen (regionale und konfessionelle Heterogenitäten, Akteursebenen, soziale Lagen, Verhältnisse zu Unterschichten und traditionellen Eliten etc.) deutlich werden, unter denen einerseits nach den transnationalen Verflechtungen, andererseits natürlich nach spezifischen Ausprägungen gefragt werden kann.

Gemessen am Anspruch aber, hier weniger „Forschung im strengen Sinne“ betreiben zu wollen, als vielmehr die Entwicklung der europäischen Intelligenz(en) als ein „intellektuelles Abenteuer“ darzustellen (S. 19f.), das zum weiteren Fragen anregen soll, kann dieses Unterfangen als vollends gelungen gelten.

Anmerkungen:
1 Vgl. zum Konzept dieser Reihe bereits die Rezension von Ulrike v. Hirschhausen zu Hroch, Miroslav, Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich, Göttingen 2005. In: H-Soz-u-Kult, 04.01.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-007>.