D. Thimme: Percy Ernst Schramm und das Mittelalter

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Titel
Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes


Autor(en)
Thimme, David
Reihe
Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 75
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
670 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ludger Körntgen, Universität Bayreuth

Der Konstruktionscharakter historischer Erkenntnis gehört zu den unbestrittenen Grundlagen aktueller Theoriediskurse. Zu klären bleibt allerdings, in welchem Ausmaß Modelle und tragende Elemente solcher Konstruktion von außerwissenschaftlichen Kontexten und Interessen geprägt sind und was das jeweils für den Ertrag einzelner Forschungsansätze bedeuten kann. Mit besonderer Brisanz stellt sich diese Frage für die deutsche Mittelalterforschung, deren nach 1945 durchgesetzte methodische Neuorientierung personell und sachlich in den 1930er- und 1940er-Jahren wurzelte. Ihre Protagonisten hatten den Nationalsozialismus durchweg nicht in offener und zumeist wohl auch nicht in verborgener Opposition zum Regime erlebt, und ihre Gegenstände und Begriffe hatten nur zu gut in den Rahmen der NS-Ideologie gepasst oder sich für die NS-Rhetorik adaptieren lassen. Dass über die Konsequenzen aus diesem Befund, den jüngst die Gießener Habilitationsschrift von Anne Christine Nagel vorgetragen hat1, noch ausführlicher diskutiert werden muss, hat nicht zuletzt der problematische Versuch von Gadi Algazi demonstriert, mit der weltanschaulichen und begrifflichen NS-Nähe von Otto Brunners „Land und Herrschaft“ gleich dessen methodischen Ansatz grundsätzlich zu diskreditieren.2 In diesem Zusammenhang verdient die vorliegende Dissertation von David Thimme, wie Nagels Schrift im Gießener SFB 434 „Erinnerungskulturen“ entstanden und von Peter Moraw betreut, besondere Aufmerksamkeit. Denn mit Percy Ernst Schramm (1894-1979) geht es um einen vor und nach 1945 überaus einflussreichen Fachvertreter, der mit Walter Schlesinger oder Theodor Mayer zwar das Interesse an einer verfassungsgeschichtlichen Neuorientierung teilte, aber methodisch seinen eigenen Weg ging. Unabhängig von Otto Brunners landesgeschichtlichem Ansatz bemühte sich auch Schramm darum, die politische Ordnung des Mittelalters in Distanz zum liberalen Verfassungsrecht des 19. Jahrhunderts zu beschreiben und das „Eigene“ des Mittelalters zu erfassen. Eine methodisch reflektierte Synthese hat Schramm allerdings nicht vorgelegt; gleichwohl bietet sein umfangreiches Werk für Thimme Anhaltspunkte, um aus programmatischen Aussagen und impliziten Leitvorstellungen „Bilder vom Mittelalter“ zu rekonstruieren. Deren Genese und deren Prägung durch den wechselnden lebensweltlichen Kontext nachzuzeichnen, ist das anspruchsvolle Vorhaben, das die Arbeit am Schnittpunkt zeithistorischer Analyse und forschungsgeschichtlicher Reflexion verortet.

Schramms ursprüngliches Interesse am Mittelalter war demnach geprägt von seiner wilhelminischen Jugend und von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs – Erfahrungen, die einen Generationszusammenhang konstituierten und nicht nur für Schramm das wissenschaftliche Interesse an Glanz und Größe des mittelalterlichen Kaisertums mit der Distanz zur Weimarer Demokratie und einer bedingungslosen Loyalität zu Nation und Staat verbanden, die auch ohne besondere Nähe zur Ideologie die Unterstützung für das NS-Regime noch bis in die letzten Stunden garantierte. Es macht den Rang von Schramms Entwicklung als Wissenschafter aus, dass er seine ursprünglichen Forschungsimpulse immer wieder durch die Quellen korrigieren ließ: Das brachte ihn vom Kaisertum, durch dessen im ottonischen Herrscherbild sinnlich erfahrbaren Glanz der Geschichtsstudent für das Mittelalter gewonnen worden war, zu den europäischen Monarchien, in deren Vielfalt er mit der Eigenart der Nationen vor allem auch die historische Bedeutung der deutschen zu ergründen suchte. Die Verbindung von europäischem Vergleich und nationalgeschichtlicher Unterscheidung, in der Studie zum englischen Königtum (1937) brillant vorgeführt, fand europaweite Resonanz: Der junge Göttinger Professor engagierte sich in der europäischen Forschungszusammenarbeit, während er zugleich, etwa auf einer Vortragsreise durch Amerika schon im Jahr 1933, entschieden die Entwicklung im nationalsozialistischen Deutschland verteidigte. Ungeachtet dessen wurde der Experte für monarchisches Zeremoniell im Jahr 1937 zur Krönung des englischen Königs geladen.

Ähnlich wie es Nagel für einen Großteil der deutschen Mediävisten konstatiert, kann Thimme auch für Schramm einen relativ großen Spielraum innerhalb der nationalsozialistisch kontrollierten Universitäts- und Forschungslandschaft feststellen, der die Behauptung der wissenschaftlichen Standards weitgehend außer Frage stellte. Dabei war es gerade die durch Staatsloyalität und Patriotismus garantierte Nähe, die es Historikern vom Rang Schramms ermöglichte, selbstbewusst einzuschreiten, wenn ideologischer Eifer methodische Standards über Bord zu werfen drohte. Dieses Selbstbewusstsein ließ Schramm auch Attacken auf lokaler Partei- und Universitätsebene überstehen, die etwa im Jahr 1934 gegen das internationale Engagement und im Jahr 1937 – letztlich ebenso erfolglos – gegen den Parteieintritt des bei der Reichspräsidentenwahl von 1932 noch an der Spitze des Göttinger Hindenburg-Komitees Engagierten geführt wurden. Erst seit etwa 1938 lassen sich in Schramms wissenschaftlichen Publikationen deutlichere Annäherungen an die Partei-Rhetorik feststellen; dahinter erkennt Thimme die Absicht, die Anschlussfähigkeit der eigenen Positionen an die herrschende Ideologie klarer zu artikulieren, um die eigene Stellung zu stärken.

Nach der erst im Jahr 1948 erfolgten Wiedereinsetzung in seine Göttinger Professur konnte Schramm vor allem an die europäische Ausrichtung seiner früheren Arbeiten zur Geschichte der Monarchie anknüpfen. „Herrschaftszeichen und Staatssymbolik“, das seit 1954 unter dem Dach der Monumenta Germaniae Historica erschienene Monumentalwerk, markiert für Thimme gleichwohl einen entscheidenden Kontinuitätsbruch. Denn mit der ideologisch kontaminierten nationalen Zielsetzung war das verbindende Moment der früheren Forschungen obsolet geworden. Das große Werk zerfiel in eine Materialsammlung: War das tatsächlich der unmittelbare Niederschlag des gewandelten Zeitkontextes und damit Symptom der Verschränkung von Biographie, Lebenswelt und Forschung? Im Blick auf die eigene wissenschaftliche Arbeit räumte Schramm schon 1942 dem „Sammeln“ und „Nüsseknacken“ (S. 589) ausdrücklich Priorität vor dem „Schneisenschlagen“ (S. 589) ein; das kann als durchaus ernster Hinweis darauf genommen werden, dass der methodisch-handwerkliche Zugriff auch schon seine frühere Forschung deutlicher prägte als die wenig ertragreiche Frage nach den nationalen Charakteristika.

Nachhaltiger wirkte ein biographischer Bruch auf dem Feld, auf dem Schramm besondere methodische Pionierarbeit für die deutsche Mediävistik geleistet hat. Die Forschungen zu Symbolen und Ritualen des europäischen Königtums waren eng verbunden mit der Entdeckung der Bilder als wesentliche Quellen für die mittelalterliche Kultur-, Geistes- und Politikgeschichte. Dafür war Schramm schon früh durch Aby Warburg sensibilisiert worden, der ihm in den Hamburger Jugendjahren als Mentor zur Seite gestanden und seine historischen Interessen gefördert hatte. Die Ausrichtung der Bibliothek Warburg auf das „Nachleben“ der Antike hatte Schramm sich allerdings nie ganz zu eigen gemacht; das am deutlichsten dadurch inspirierte Werk „Kaiser, Rom und Renovatio“ (1929), das den jungen Mediävisten mit einem Schlag bekannt machte, wäre nach einer überzeugenden Vermutung Thimmes ohne das Engagement von Warburgs Nachfolger Fritz Saxl (†1948) vielleicht gar nicht gedruckt worden. Vom Austausch mit dem Freund in Hamburg profitierte Schramm vielfach; erst die politische Frontstellung führte zum wissenschaftlichen und persönlichen Bruch. Durch die scharfe Stellungnahme eines Mitarbeiters der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek gegen die Situation in NS-Deutschland fühlte sich Schramm offenkundig persönlich verletzt. Er lehnte jede weitere Mitarbeit ab und rechtfertigte diesen Bruch wohl nicht zuletzt vor sich selbst durch eine ausführliche Absage an das Programm des „Nachlebens“ und dessen Wendung in einen übernationalen ethischen Humanismus, die in der Einleitung zu einer aktuellen Publikation des noch 1933 nach London transferierten Instituts formuliert worden war. Was unter anderen Vorzeichen eine produktive Diskussion hätte auslösen können, bedeutete in der gegebenen politischen Situation den Abbruch des wissenschaftlichen Dialogs. Damit verlor Schramm endgültig den Gesprächspartner, der seiner Auswertung der Bildquellen methodische Anregungen hätte vermitteln können.

Besonders problematisch erscheint Schramms Verhältnis zur Bibliothek Warburg allerdings in der persönlich-biographischen und zeithistorischen Perspektive. Irritierend wirkt die offenkundige Verständnislosigkeit und Sprachlosigkeit des erkenntnisreichen und wortgewandten Historikers Schramm gegenüber der Erfahrung, dass die Opfer des NS-Regimes nicht bereit waren, „über diese Dinge zur Tagesordnung über(zu)gehen“, wie es Fritz Saxl in einem Briefentwurf formulierte (zit. S. 499), als Schramm nach Kriegsende den unterbrochenen Dialog über Forschungsfragen wieder aufzunehmen versuchte, ohne ein Wort über die eigene Rolle an der Seite der Täter zu verlieren. Noch härter mit dieser Wahrnehmungs- und Verantwortungsverweigerung konfrontiert wurde der vor 1933 mit Schramm nur oberflächlich bekannte Erwin Panofsky, der im Jahr 1967 trotz ausdrücklich formulierter Vorbehalte den Orden Pour le Mérite aus den Händen des inzwischen zum Ordenskanzler avancierten Schramm entgegennehmen musste.

Nicht nur in dieser Hinsicht gewinnt man den Eindruck, dass die biographisch-zeithistorische Analyse im Ganzen ertragreicher ausfällt als die forschungsgeschichtlich-methodische Reflexion. Ohnehin verkürzt deren mediävistische Fokussierung das Profil des Historikers Schramm, denn dazu gehören nicht nur dessen nur kursorisch berücksichtigte Arbeiten zur Geschichte des Hamburger Bürgertums, sondern auch die Tätigkeit als Kriegstagebuchführer der Wehrmacht und die Wirksamkeit des zeithistorischen Publizisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Studie motiviert damit weitere Forschung und demonstriert zugleich eindrucksvoll, dass die Hinwendung der Geschichtswissenschaft zu Biographie und Werk ihrer eigenen Protagonisten alles andere bedeutet als leere Selbstreferentialität.

Anmerkungen:
1 Nagel, Anne Christine, Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1970 (Formen der Erinnerung 24), Göttingen 2005. Rezension dazu in H-Soz-u-Kult unter: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezbuecher&id=68776877>.
2 Algazi, Gadi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt am Main 1996.