J. C. Kinkley: Corruption and Realism in Late Socialist China

Titel
Corruption and Realism in Late Socialist China. The Return of the Political Novel


Autor(en)
Kinkley, Jeffrey C.
Erschienen
Stanford, CA 2007: Stanford University Press
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
€ 42,52
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anja D. Senz, Institut für Ostasienwissenschaft (Politikwissenschaft, Schwerpunkt China), Universität Duisburg-Essen

Korruption kann als eines der zentralen Themen im heutigen China und als Schattenseite der chinesischen Reformpolitik gelten. Nicht nur die chinesische Bevölkerung betrachtet die fast alltägliche Konfrontation mit den verschiedenen Formen von Bestechlichkeit, Betrug und Machtmissbrauch als ein großes Problem, auch Chinas Reputation im Ausland ist durch die grassierende Korruption belastet und so bemüht sich die chinesische Führung in regelmäßigen Abständen darzustellen, dass sie einen erfolgreichen Kampf gegen dieses Übel führt. In China ist Korruption daher als Thema im öffentlichen Bewusstsein präsent. In der wissenschaftlichen Annährung erweist es sich als sperrig. Lange Zeit wurde das Thema in der Wissenschaft wenig beachtet, seit den 1990er-Jahren jedoch wächst die Zahl von Untersuchungen, die sich über unterschiedliche Methoden unter historischen, ökonomischen, soziologischen oder politikwissenschaftlichen Perspektiven mit dem Thema beschäftigen. Dabei ist der Zugang zu diesem Phänomen, das zumeist als öffentlicher Machtmissbrauch zum Zwecke des persönlichen Vorteils definiert wird, besonders in empirischer Hinsicht schwierig. Denn Korruption impliziert die geheime Verabredung zwischen den von „diesem Geschäft“ profitierenden Beteiligten und der Verstoß gegen legale oder moralische Normen; sie bleibt im Gegensatz zu anderen Straftaten oftmals ohne direkt erkennbares „Opfer“ und damit ohne Ankläger.

Jeffrey Kinkley, Historiker von der New Yorker St. Johns University, wählt in seinem neuen Buch den Zugang zu Korruption über die moderne chinesische Literatur und untersucht Romane, die zwischen Mitte der 1990er-Jahre und 2001 erschienen sind. Nach einem einleitenden Kapitel, in dem grundlegende Begrifflichkeiten und Konzepte erläutert sowie eine thematische Einordnung in den chinesischen Reformprozess vorgenommen wird, analysiert er in chronologischer Ordnung fünf populäre chinesische Romane des Genres „Anti-Korruptionsroman“ (fanfu xiaoshu/ fantan xiaoshu). Dabei achtet er darauf, jedes Kapitel in der gleichen Systematik zu untergliedern, indem zunächst die Handlung der Geschichte vorgestellt wird, dann die beschriebenen Korruptionsfälle untersucht werden und schließlich nach dem Bezug des Romans zum literarischen Realismus sowie dem Beitrag des Werkes zum Diskurs über Korruption gefragt wird. Abschließend reflektiert er über die Grenzen des Realismus sowie die Wirkung und Bedeutung des jeweiligen Romans. Bei den Romanen handelt es sich um: Lu Tianmings Cangtian zai shang (Oberhalb des Himmels), Chen Fangs Tian nu (Himmelszorn), Zhang Pings Jueze (Entscheidung), Wang Yuewens Guo hua (Nationalportrait) und Liu Pings Zousi dang an (Schmuggelakte).

Die fünf detaillierten Einzelanalysen bilden als Fallbeispiele die Basis für die abschließende theoriebezogene Reflexion über das chinesische Konzept von Korruption sowie die Inhalte und Grenzen des literarischen Realismus in China. Insofern geht es Kinkley im Kern um die literaturwissenschaftliche Einordnung einer bestimmten Kategorie von Romanen als realistisch bzw. politisch, im Sinne eines Wiederaufkommens dieses Literaturtypus nach 1989, sowie zugleich um eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Korruption.

Kinkley thematisiert das Bedürfnis der Schriftsteller des untersuchten Genres, „die Wahrheit“ niederzuschreiben, soziale und ökonomische Schieflagen sowie Fehlentwicklungen aufzugreifen und im Verständnis des chinesischen Realismus literarisch für ein breites Publikum zu verarbeiten. Dabei bewegen sich gerade diese Romane in einer schwierigen Grauzone, ist doch eine zu pointierte Darstellung von Missständen politisch nicht gewollt und von Zensur bedroht. Es gibt zwar eine Tradition realistischer Romane, aber die Entstehung der Anti-Korruptionsromane in den 1990er-Jahren, deren massenmediale Adaptation und Breitenwirkung sowie deren zumindest temporärer Niedergang zu Beginn des neuen Jahrtausends zeigen auch die gegenwärtig engen Spielräume für kreative, ambitionierte Autoren. So macht denn auch die Feststellung, dass es in China keine Korruptions-, sondern nur „Anti-Korruptionsromane“ geben könne, die zensurbedingten Grenzen dieses Literaturgenres feinsinnig deutlich (S.14ff.). In einer Situation mangelnder Pressefreiheit ist für Kinkley die Literatur eine mögliche Quelle von Informationen zum Thema Korruption. Es sei die „chinesische Version“, die Vielzahl von grundlegenden, weit verbreiteten Missständen und das Unbehagen über die Nebenwirkungen der neueren chinesischen Entwicklung zu thematisieren (S. 8). Schriftsteller verspürten die „Verlockung“, journalistische Rechercheergebnisse in Romanform zu publizieren (S.13), da die Zensurhürden im fiktionalen Bereich niedriger seien als im Nachrichtensegment und außerdem die Wiedergabe der „ungeschminkten Wahrheit“ durch den chinesischen Realismus eine Berechtigung und Begründung finde. Kinkley reflektiert dabei durchaus die Probleme, die sich z.B. aus der wachsenden Kommerzialisierung des chinesischen Mediensektors und dem damit notwendig werdenden Aufmerksamkeitsmanagement (z.B. durch Sensation und Extremdarstellungen) ergeben. Bis zu welchem Grad die Romane also „Realität“ abbilden (können), bleibt daher im Unklaren.

Sorgfältig und mit großer Sensibilität untersucht Kinkley die einzelnen Romanbeispiele. Leider ist der Verlauf der jeweiligen Romanhandlungen angesichts der Vielzahl miteinander in Beziehung stehender Charaktere und der nicht unüblichen überraschenden Wendungen oftmals schwierig nachzuvollziehen, ebenso wie der spätere Rekurs in den abschließenden Kapiteln auf die vielen überlegt interpretierten Details. Auch nutzt Kinkley an manchen Stellen bei der Charakterisierung von Romanfiguren oder -situationen Vergleiche z.B. mit der christlichen Tradition, die befremdlich erscheinen („…Jesus among the moneychangers“, S. 96). Dabei hätten sich angemessenere Beispiele für Heldentum sicher auch in der chinesischen Tradition finden lassen.

Aber Kinkley kommt hinsichtlich der Darstellung von Korruption in China zu faszinierenden Ergebnissen. So eruiert er z.B. durch den Vergleich der Romane, bis zu welcher Führungsposition bzw. -ebene (nämlich der Provinzebene) Korruption in Verwaltung und Partei maximal darstellbar und dem Leser „zumutbar“ zu sein scheint. Er legt die Begründungen, die für die Entstehung von Korruption in den Romanen benannt werden, offen und kontrastiert zwischen einer offiziellen Sicht der politischen Führung und der Perspektive der einfachen Bevölkerung bzw. einzelner Romancharaktere. Er zeigt zutreffend die Individualisierung des Korruptionsproblems als Deutung eines Fehlverhaltens einzelner Kader in der offiziellen Sicht, die im Kontrast steht zu dem in den Romanen subtiler artikulierten Unmut über systemische Defizite. Die Unterscheidung zwischen einem offiziellen Korruptionsdiskurs, der über Dokumente und öffentliche Verlautbarungen läuft, und einem eher inoffiziellen Diskurs, der u.a. über die Romane abgebildet wird, ist nachvollziehbar, auch wenn der zugrunde liegende Diskursbegriff undeutlich bleibt und publizierte Texte in China letztlich, wie bereits angesprochen, als Teil eines Systems offizieller Darstellung und Deutung gesehen werden sollten. Kinkley deutet die Nähe der Romane zum offiziellen Diskurs über die verwendeten Begrifflichkeiten, zeigt aber zugleich auch die inhaltlichen Abweichungen, die sich darin äußern, dass die Romane „… imagine corruption as a problem of system, and not of a few bad officials“ (S. 175).

Kinkley diskutiert die Angemessenheit westlicher, oft formaljuristischer Definitionen von Korruption für den chinesischen Kontext. Für ihn zeigt sich eine mögliche Veränderungen des chinesischen Konzeptes von Korruption in der Sprache und es gelingt ihm überzeugend, dies am Wandel des gebräuchlichen Vokabulars und seiner Konnotationen deutlich zu machen und in einen größeren historischen Kontext einzubetten (S.172f.). Korruption (fubai) ist in seiner Analyse heute eine Chiffre für die vielfältigen wahrgenommenen Defizite und damit Teil einer weiter gefassten Auseinandersetzung über den ökonomischen Umbau Chinas, über mangelnde Gewaltenteilung, Intransparenz, fehlende Rechtsstaatlichkeit, Wertewandel, unsoziales Verhalten und Ungerechtigkeit. Insofern scheint Klitgaards prägnante Beschreibung von Korruption als Ergebnis monopolisierter Macht bei gleichzeitiger Verschwiegenheit und einem Fehlen von Rechenschaftspflichtigkeit auch auf den chinesischen Kontext zuzutreffen.1

Kinkley hätte weitere Werke des Genres insofern integrieren können, als er damit seine Auswahlkriterien deutlicher gemacht bzw. erhärtet hätte. Auch die systematischere Berücksichtigung der Umsetzung der Romanvorlagen im chinesischen Film und Fernsehen zur Überprüfung von Modifikationen der jeweiligen Darstellung wäre bereichernd gewesen. Die grundsätzliche Problematik der Studie liegt jedoch in der Annahme, dass fiktionale Texte mit einer gewissen Breitenwirkung Auskunft über die „Wirklichkeit“ geben könnten. Eine klarere, möglicherweise konstruktivistische Einordnung im Hinblick auf die Darstellungsmöglichkeiten eines Themas unter gegebenen, einschränkenden politischen Bedingungen hätte die methodische und theoretische Stringenz der Untersuchung erhöht.

Unabhängig davon ist das Buch für alle lesenswert, die sich mit dem Thema Korruption aus einer diskursiven Perspektive beschäftigen wollen, und es ist ein detailreicher und elaborierter Beitrag zu einem sicher noch längerfristig aktuellen Thema. Besonders das vorletzte Kapitel setzt sich fundiert und plastisch mit Inhalten und Grenzen des chinesischen Realismus auseinander und ist damit jenseits des konkreten Sujets „Korruption“ ein wichtiger Beitrag zur Beurteilung der chinesischen Literatur- bzw. Medienlandschaft.

Anmerkung:
1 Klitgaard, Robert, Controlling Corruption, Berkeley 1988, S.75

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