C. M. Merki: Wirtschaftswunder Liechtenstein

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Titel
Wirtschaftswunder Liechtenstein. Die rasche Modernisierung einer kleinen Volkswirtschaft im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Merki, Christoph Maria
Erschienen
Zürich 2007: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Geiger, Liechtenstein-Institut, Bendern FL

Das Fürstentum Liechtenstein ist nach Fläche (160 km2) und Einwohnerzahl (2006 rund 35.000) ein Ministaat. Das Land war nach dem Ersten Weltkrieg wirtschaftlich am Ende, der Zollpartner Österreich-Ungarn zerfallen, die wenigen vorhandenen Textilfabriken geschlossen und das in Böhmen und Mähren begüterte Fürstenhaus von Vermögensverlusten bedroht. Rund 90 Jahre später weist Liechtenstein das welthöchste Bruttoinlandprodukt pro Einwohner aus, ist hochindustrialisiert, bietet fast gleich vielen Arbeitenden wie Einwohnern Platz und zweieinhalbmal so vielen Sitzgesellschaften (2002: rund 80.000). Der Staat ist schuldenfrei und die Infrastruktur modern. Liechtenstein ist Mitglied der UNO, der WTO, des Europarats, des EWR und mit der Schweiz wirtschaftsverbunden. Ursächlich seien für diese Entwicklung, so wird etwa kombiniert, Fleiß und Zähigkeit des „Völkleins“ und seiner Wirtschaftspioniere, die hilfreiche Politik der Fürsten, die Verschonung in den Weltkriegen, der allgemeine Aufschwung seit 1945, das Wohlwollen der Nachbarn Schweiz und Österreich und manches Quäntchen Glück.1

Auch wenn diese Erklärungsansätze relativ plausibel erscheinen, stellen sie doch noch keine wirkliche Erklärung dar. Der an der Universität Bern lehrende Wirtschaftshistoriker Christoph Maria Merki versucht diese Lücke zu schließen und spricht von einem „Wirtschaftswunder Liechtenstein“ im 20. Jahrhundert. Seine Untersuchung hat er im Auftrag des Liechtenstein-Instituts in Bendern vor Ort durchgeführt. Dank des überschaubaren Gegenstandes kann Merki eine kleine nationale Volkswirtschaft im Ganzen wie im lokalen Detail über einen Jahrhundertzeitraum hin vorstellen und sowohl makro- als auch mikroökonomisch, struktur- und unternehmensgeschichtlich analysieren. Er befasst sich mit allen wichtigen Wirtschaftsakteuren, nämlich den Wirtschaftspionieren, bedeutenden Treuhändern, Banken (zwei ab 1920, 15 heute) und den drei Fürsten im 20. Jahrhundert. Merki nutzte dafür öffentliche sowie Verbands- und Unternehmensarchive. Sachkenntnis hatte Merki schon mit seiner Publikation von 2003 zur Geschichte einer großen Vaduzer Anwalts- und Treuhandkanzlei erworben.2 Wissenschaftliche Grundlagen boten auch die Berichte der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg3, ebenso ein Werk zu den 1930er-Jahren4 und eine Studie zu den 1960er-Jahren.5

Merki nennt als Ziel seines Buches: „Die Erfolgsgeschichte verstehen“ (S. 11). Diese folgte insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg nicht einfach dem allgemeinen Trend Mitteleuropas und der Nachbarn, vielmehr war das liechtensteinische Wachstum durchweg überdurchschnittlich. Dies betraf Bevölkerung, Ausländeranteil (heute 34 Prozent), Löhne, Arbeitsplätze (außer Landwirtschaft), Produktivität, Export, Bruttoinlandprodukt (nominal 1998 pro Erwerbstätigen: 163.000 Schweizer Franken), Staatshaushalt, Ärztedichte, Sitzgesellschaften (bis 1945 rund 2.000, 1963 rund 10.000, 2002 rund 80.000) sowie Bilanzsummen der Banken (in Millionen Schweizer Franken: 1921: 6, 1940: 21, 1960: 244, 1980: 4.364, 2000: 36.963). Grundlagen für die Modernisierung des zuvor rückständigen Landes wurden schon in den 1920er-Jahren gelegt, mit Gesetzen und Hinwendung zur Schweiz.

Merki erklärt die besondere Entwicklung einleuchtend. Erstens konnte (und kann) der Kleinstaat viele öffentliche Aufgaben kostengünstig durch Nachbarn erledigen lassen, quasi per Outsourcing. Dazu zählen militärische Sicherheit (keine Armee), Währung, Zoll, Bahn, Autobahnen und Flugplätze (beides im nahen Ausland), Berufsschulen, Universitäten, Krankenhäuser, Müllverbrennung sowie Post, Bus und Telefon (diese drei sind seit einem Jahrzehnt jedoch inländisch organisiert). Zweitens konnte und kann das Fürstentum seine einzige Ressource, die staatliche Souveränität, „kommerzialisieren“ (S. 18), indem es spezielle Einnahmen generiert und Nischen ausnützt: Briefmarken, Finanzeinbürgerungen (bis in die 1950er-Jahre), niedrige Steuern für Sitzgesellschaften und Industriebetriebe. Das Personen- und Gesellschaftsrecht von 1926 stellte Rechtsformen wie Anstalt, Trust und Stiftung zur Verfügung, verknüpft mit Kunden- und Bankgeheimnis. Im so genannten Gesellschaftswesen erkennt Merki den pekuniären Motor der kleinen Volkswirtschaft. Der mit dem Treuhandwesen verknüpfte, international kleine „Finanzplatz“ Liechtenstein wäre nach Merki somit richtiger als „Außenstelle des Finanzplatzes Zürich“ oder als „Finanzdrehscheibe“ (S. 137) zu bezeichnen.

An die Seite der geschwächten Textilindustrie traten ab den 1930er- und 1940er-Jahren neue Fabriken: Je eine für Zahnprothesen, Farben, Konserven, ab 1941 für 20-mm-Geschosshülsen (für die Deutsche Wehrmacht), Maschinenbau, Messgeräte, nach dem Krieg für Rechenmaschinen, Befestigungstechnik, Heizkessel, Dünne Schichten, Fleischwaren, Computer- und Autotechnik. Verfügbar waren billige Arbeitskräfte, Energie und Arbeitsfrieden. Die Modernisierung wurde zugleich durch Rationalisierung, Investitionen, Diversifizierung und durch den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte unterstützt. Das Gewerbe blieb anpassungsfähig und stark. Nur die Landwirtschaft, bis zum Zweiten Weltkrieg dominierend, schrumpfte.

Merki zeigt, wie treibende Kräfte, günstige Zeitbedingungen und Wirtschaftspolitik sich positiv verstärkten. Ein Unterkapitel widmet er dem Fürstenhaus im Spannungsfeld von Haus- und Staatsinteressen. Dem Haus Liechtenstein ging es nach zwei Enteignungsschüben in der Tschechoslowakei ökonomisch bis Ende der 1960er-Jahre relativ schlecht. Erbprinz Hans-Adam, Volkswirt und seit 1989 Fürst, sanierte das Familienvermögen jedoch. Dessen Kronjuwel wurde die fürstliche Bank in Liechtenstein (heute LGT, Liechtenstein Global Trust).

Das 2007 in Vaduz und Zürich erschienene Buch zeichnet sich durch fundierte Quellen- und Datenbasis, Faktengenauigkeit, Kenntnis der lokalen Gegebenheiten und Sachlichkeit aus. Der Haupttext (240 Seiten) legt kapitelweise die Einleitung, einen Überblick („Vom Bauern zum Banker?“), je die drei klassischen Sektoren, den öffentlichen Sektor als „unterschätzte Wachstumsbranche“ (S. 6, 181) und eine Zusammenfassung vor. Der umfangreiche Anmerkungsteil (50 Seiten Kleindruck) ist nachgestellt. Die Sprache ist klar, knapp, oft feuilletonistisch griffig, auch Nichtökonomen verständlich. 44 Tabellen und Graphiken und 47 Schwarzweiss-Fotos veranschaulichen die Darstellung. Resümees festigen die Ergebnisse, das Personen- und Firmenregister bietet Zugang für Einzelrecherchen.

Kritische Töne sind bei Merki selten. Dennoch enthält seine Darstellung auch die Hinweise auf Negativwirkungen der beschriebenen Entwicklung: Zersiedelung, Verkehrszunahme, Umweltbelastung, Wertzerfall, „leichtes Geld“. Arbeitslose sind in der Publikation in Prozentsätze gefasst, hoch in der Zwischenkriegszeit, bei null von 1942 bis 1970, niedrig bis zur Gegenwart. Kaum oder gar nicht erwähnt sind Arme, Working Poor, Wohlstandsverlierer, Marginalisierte, Süchtige. Auch diese Gruppierungen gab bzw. gibt es in Liechtenstein, jedoch würden sie erst in einer liechtensteinischen Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts vorkommen; eine solche gibt es bisher nur zum Sozialversicherungsrecht.6

Vor gut drei Jahrzehnten hat Alois Ospelt sein detailliertes Werk zur Wirtschaftsgeschichte Liechtensteins im 19. Jahrhundert, welches über weite Strecken zugleich Sozial- und Rechtsgeschichte beinhaltet, vorgelegt.7 Nun ist mit Merkis „Wirtschaftswunder“-Buch die Wirtschaftsgeschichte bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts fortgeschrieben. Beides sind Grundlagenwerke und Handbücher zur Geschichte des erstaunlich lebensfähigen Kleinstaats.

Anmerkungen:
1 Vgl. Beattie, David, Liechtenstein, A Modern History, Triesen 2004 (dt. 2005). Vgl. auch Rampone, Ines, Persönlichkeiten, die Liechtenstein prägten, Vaduz 2008 (im Erscheinen).
2 Merki, Christoph Maria, Von der liechtensteinischen Landkanzlei zur internationalen Finanzberatung. Die Anwaltskanzlei Marxer & Partner und der Finanzplatz Vaduz, Baden 2003.
3 Lussy, Hanspeter; López, Rodrigo, Liechtensteinische Finanzbeziehungen zur Zeit des Nationalsozialismus. Studie im Auftrag der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg, Vaduz 2005. Siehe auch Geiger, Peter; Brunhart, Arthur; Bankier, David; Michman, Dan; Moos, Carlo; Weinzierl, Erika, Fragen zu Liechtenstein in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg: Flüchtlinge, Vermögenswerte, Kunst, Rüstungsproduktion. Schlussbericht der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg, Vaduz 2005.
4 Geiger, Peter, Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreissigerjahren 1928–1939, 2 Bde., 2. Aufl. Vaduz 2000.
5 Schnetzler, Hanswerner, Beiträge zur Abklärung der Wirtschaftsstruktur des Fürstentums Liechtenstein, Winterthur 1966.
6 Hoch, Hilmar, Geschichte des liechtensteinischen Sozialversicherungsrechts, Vaduz 1991.
7 Ospelt, Alois, Wirtschaftsgeschichte des Fürstentums Liechtenstein im 19. Jahrhundert. Von den napoleonischen Kriegen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, (mit Anhangband Quellen), Vaduz 1974, ebenso ohne Quellen-Anhang in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 72 (1972), S. 5-423).

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