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Titel
Paul Silverberg (1876-1959). Ein Unternehmer


Autor(en)
Gehlen, Boris
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 194
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
605 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Schanetzky, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Vor dreißig Jahren stand Paul Silverberg im Mittelpunkt des historiographischen Interesses. Als Mitglied der „Ruhrlade“ und stellvertretender Vorsitzender des Reichsverbandes der Deutschen Industrie war er einer der politisch aktivsten Unternehmer der Weimarer Republik. In seiner Person überschnitten sich gleich mehrere Forschungskontroversen: Ganz gleich, ob es um die Rolle der Industriellen bei der Destabilisierung der Demokratie ging, um deren Haltung gegenüber der NSDAP oder um die These von der zu großen sozial- und steuerpolitischen Belastung der Unternehmenserträge – stets geriet auch der Verbandspolitiker Silverberg in den Blick. Hinzu kam, dass seine Karriere schon Anfang 1933 jäh beendet wurde: Daran war mit Fritz Thyssen ein Hitler-Förderer unter den Industriellen unmittelbar beteiligt, und so schien der zum Protestantismus konvertierte Silverberg eines der allerersten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus und seiner Förderer gewesen zu sein. Nach den genauen unternehmerischen Bedingungen für seine politischen Standpunkte wurde dabei jedoch nie genauer gefragt. Deshalb hat Boris Gehlen in seiner Bonner Dissertation nun erstmals den „ganzen“ Silverberg betrachtet. Dazu hat er mit bemerkenswerter Akribie die in den damaligen Debatten herangezogenen Quellen erneut ausgewertet und um zahlreiche neue Funde aus mehreren Unternehmensarchiven ergänzt.

Silverberg, der eigentlich eine wissenschaftliche Karriere als Jurist angestrebt hatte, trat nach dem Tod des Vaters in dessen Unternehmen in der rheinischen Textil- und Braunkohleindustrie ein. Er baute die Grube Fortuna durch mehrere Fusionen zur Rheinischen Aktiengesellschaft für Braunkohle und Brikettfabrikation (RAG) aus, die sich dank langfristiger Stromlieferverträge und einer beherrschenden Position in den regionalen Syndikaten zu einem überaus rentablen Unternehmen entwickelte. Gemeinsam mit Hugo Stinnes gelang es Silverberg, die Interessensphären zwischen RAG und dem konkurrierenden Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk (RWE) abzugrenzen. Nach der Währungsstabilisierung expandierte die RAG in den Steinkohlenbergbau an der Ruhr, indem sie eine maßgebliche Beteiligung an der Harpener Bergbau AG erwarb. Silverberg kooperierte besonders eng mit der Deutschen Bank, war dabei jedoch in der komfortablen Situation, einem besonders gewinnträchtigen Unternehmen vorzustehen und auf diese Weise seine Unabhängigkeit wahren zu können. Erst diese besondere Position der RAG schuf die eigentliche Basis für Silverbergs Aktivitäten außerhalb seines Unternehmens, das er seit seinem Wechsel in den Aufsichtsrat im Jahr 1926 nur noch präsidial leitete.

Gehlen kann zeigen, dass Silverbergs verbandspolitische Aktivitäten ihren Ausgangspunkt in den unmittelbaren Nachkriegsjahren hatten und zunächst von der Furcht vor der Sozialisierung des Bergbaus getragen waren. Der Unternehmer entwickelte sich dabei rasch zu einem Realpolitiker, der die Institutionen und Machtverhältnisse der Weimarer Republik prinzipiell als gegeben hinnahm. Seine politischen Positionen waren unmittelbar aus der Erfahrungswelt der RAG abgeleitet, was ihn – zumindest inhaltlich – innerhalb der Schwerindustrie mitunter zum Außenseiter machte. Fand sein Eintreten für eine breitere Eigenkapitalbasis und verbesserte Erlöse der Unternehmen noch die Billigung der meisten Industriellen, traf seine Aussage vom grundsätzlich „staatsbejahenden Standpunkt“ der Unternehmer im eigenen Lager ebenso auf Unverständnis wie seine pauschale Verurteilung aller staatlichen Subventionen. Gerade deshalb ist es nicht ohne Ironie, dass Silverbergs Karriere letztlich wegen eines besonders krassen Falls von Subventionspolitik beendet wurde. Entscheidenden Anteil daran hatte Friedrich Flick, der 1932 im Zuge der „Gelsenbergaffäre“ nur dank massiver staatlicher Unterstützung den Zusammenbruch seines Firmenimperiums hatte abwenden können und dessen Hüttenwerke danach ohne Steinkohlenbasis dastanden. Daher fädelte er die feindliche Übernahme der RAG durch das RWE ein. Silverberg hatte das Nachsehen, da das RWE seinen Konkurrenten praktisch zum Nulltarif übernehmen konnte, während Flick bei dem Geschäft die Harpen-Beteiligung in die Hände fiel. Dass Fritz Thyssen dabei eine wichtige Rolle spielte, hatte hingegen wenig mit dessen Sympathie für die NSDAP zu tun, mehr aber mit seinem schon seit Jahren notorisch schlechten persönlichen Verhältnis zu Silverberg. Der Braunkohleindustrielle war damit vor allem ein Opfer seines eigenen unternehmerischen Credos geworden: Immer wieder hatte er die Überzeugung vertreten, dass ein Unternehmer ausschließlich und jederzeit an seinen Verdiensten um das Unternehmen zu messen sei. Die Erfolge der RAG führte er auf seine ureigene Leistung zurück, und deshalb betrachtete er seine Stellung als unantastbar – eine folgenschwere Fehleinschätzung.

Damit leistet Gehlen einen wichtigen Beitrag zur jüngsten Debatte über Netzwerke des Vertrauens in der deutschen Wirtschaftselite. Dabei wurde unterstellt, dass aus der Dichte der Kontakte auch Schlüsse auf den unternehmerischen Erfolg gezogen werden können. Mit anderen Worten: Gut vernetzte Unternehmer mit vielfältigen Kontakten waren besser informiert und deshalb gegenüber ihren Konkurrenten im Vorteil. Gehlens qualitative Studie führt hingegen vor, dass Silverberg auch deshalb so gut vernetzt war (im Jahr 1931 kam er auf 61 Aufsichtsratsmandate!), weil er bei der RAG zu dieser Zeit praktisch nicht mehr gebraucht wurde. Zudem sagt die Tatsache der Vernetzung an sich offenbar zu wenig darüber aus, wie die Kontaktpersonen sich verhalten. Der Fall Silverberg spricht jedenfalls eine deutliche Sprache: Die Vielzahl seiner Kontakte führte nicht zum Informationsvorsprung, sondern sie förderte sogar die konspirativen Methoden seiner Gegenspieler. Die Gewinnchancen für RWE und Flick wogen dabei schwerer als die Angst vor Sanktionen, die der schwere Vertrauensbruch nach sich ziehen konnte – zumal die Aussicht bestand, Silverbergs unternehmerische Existenz ein für allemal zu vernichten. Letztlich lief alles auf eine Machtfrage hinaus, und da wog es eben schwerer als jede Vernetzung, dass Silverbergs Einfluss innerhalb wie außerhalb seiner Unternehmen nur auf Amt und Mandat beruhte, nicht aber auf Kapitalbesitz.

Nach diesem Rückschlag war Silverberg ein gebrochener Mann. Ohne nennenswerten Widerstand legte er alle Ämter nieder und musste sich in ärztliche Behandlung begeben. Er emigrierte in die Schweiz, wo ihn das früh erzwungene Rentiersdasein nicht auszufüllen vermochte. Zu neuen unternehmerischen Anstrengungen war er jedoch nicht mehr in der Lage, und als nach Kriegsende wieder nach ihm verlangt wurde, verweigerte er sich tief verbittert. Anlässlich seines 75. Geburtstags ging ein wahrer Regen von Ehrungen und Danksagungen über ihm nieder, erkennbar vom schlechten Gewissen seiner Branchenkollegen getragen. 1959 starb Silverberg vereinsamt im Exil.

Gehlen hat ein gründlich recherchiertes und sorgfältig argumentierendes Buch geschrieben. Eine packend erzählte Biographie ist dabei zwar nicht herausgekommen – dafür hat der Privatmann Silverberg wohl zu wenig Quellen hinterlassen bzw. dafür ist Gehlen den Stoff zu systematisch angegangen. Aber die bislang fehlende Verknüpfung zwischen dem Unternehmer und dem Politiker Silverberg ist durchweg gelungen. Zudem enthält die Studie zahlreiche Korrekturen an den älteren Debattenbeiträgen über die politische Rolle der Industriellen in der Weimarer Republik. Vor allem wird deutlich, dass Silverbergs politische Positionen ganz unmittelbar von seinen unternehmerischen Erfahrungen abgeleitet waren. Er vertraute auf die energische Durchsetzung der eigenen Strategie, was im Unternehmen jederzeit gelingen mochte – im Kontext der Politik war dies jedoch schlichtweg naiv.

Legt man den voluminösen Band dann aus der Hand, stellt sich allerdings noch eine allerletzte Frage: Wo genau liegt eigentlich das unternehmerische Risiko eines Verlages, wenn der Autor das Lektorat seines Textes übernimmt, offenbar (wie heutzutage immer häufiger üblich) auch noch den Satz selbst besorgt, zwei Druckkostenzuschüsse namhafter Großunternehmen beschafft – das Buch am Ende aber trotzdem 78 Euro kostet und dabei trotz seines Umfangs als Paperback daherkommt, das schon nach der Hälfte der Lektüre unansehnlich ist?

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