C.-W. Reibel: Handbuch der Reichstagswahlen

Titel
Handbuch der Reichstagswahlen 1890-1918. Bündnisse - Ergebnisse - Kandidaten


Autor(en)
Reibel, Carl-Wilhelm
Reihe
Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 15, 1+2
Erschienen
Düsseldorf 2007: Droste Verlag
Anzahl Seiten
2 Bde., 60 u. 1715 S.
Preis
€ 218,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartwin Spenkuch, Akademievorhaben Preußen als Kulturstaat, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Seit mehr als drei Jahrzehnten darf Gerhard A. Ritter als spiritus rector der verdienstvollen Handbuch-Reihen der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien gelten. Zum stattlichen Stapel der Wahlkandidaten- und Abgeordneten-Handbücher gesellen sich nun zwei gewichtige Halbbände über die wilhelminischen Reichstagswahlen, die am Frankfurter Lehrstuhl von Marie-Luise Recker durch Carl-Wilhelm Reibel verantwortlich betreut wurden. Vorarbeiten von Alfred Milatz, Jürgen Schmädeke und Matthias Alexander sowie der Einsatz von Hilfskräften erleichterten ihm die Mühe. Die Halbbände folgen in Aufbau und Daten-Auswahl der von Thomas Kühne in seinem „Handbuch der Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus 1867-1918“ (1994) entwickelten Form.

Die stimmbezirksweisen Daten zur Sozialstruktur und den Ergebnissen der sechs regulären Reichstagswahlen 1890-1912 sowie der zwischenzeitigen Ersatzwahlen entstammen der zeitgenössischen Wahlstatistik bzw. wurden in gut zwei Dutzend Bundes-, Landes- und Staatsarchiven gesammelt; die Reihe reicht hier von Düsseldorf bis Olsztyn und von Straßburg bis Schleswig. Leider konnten aus Budget- und Zeitmangel die (durch Weltkrieg und Wasserschäden reduzierten) Bestände für Schlesien im polnischen Staatsarchiv Wroclaw nicht berücksichtigt werden. Die Wahlbündnisse werden vor allem anhand amtlicher Berichte und aufgrund von Zeitungsartikeln (häufig gesammelt im Reichslandbuch-Pressearchiv) rekonstruiert. Sogar Nachlässe wahlpolitisch wichtiger Politiker wie Christoph von Tiedemann, Kuno Graf Westarp, Luitpold Weilnböck und Karl Herold wurden herangezogen, nicht jedoch die von Ernst Bassermann oder Carl Bachem. Die Quellennachweise werden (vielleicht zu) penibel aufgelistet, im Falle des Wahlkreises Wetzlar-Altenkirchen umfassen sie zwei Seiten. Den wertvollsten Kern des Handbuches machen die darauf basierten Beschreibungen der Parteien-Bündnisse in den 397 Wahlkreisen aus; auf jeweils zwei bis fünf Seiten werden die Haltungen der Parteien bei Haupt- und Stichwahlen prägnant beschrieben. Schließlich erfasst ein 150-seitiges Personenregister alle Reichstagskandidaten namentlich und nach Kandidaturen. Die solchermaßen gewonnene Darstellung von über 2500 Wahlvorgängen zwischen 1890 und 1918 ist deshalb mit hohem Lob zu begrüßen. Es handelt es sich um eine große Arbeitsleistung und ein hilfreiches Nachschlagewerk, das alle künftige Wahlforschung über Reichstagswahlen erleichtert, ja auf eine neue Grundlage stellt sowie nicht zuletzt eine Datenbasis für die entstehende Habilschrift Reibels bildet.

Im Vorgriff auf diese künftige Analyse skizziert Reibel in seiner Einleitung die langjährige Debatte um die Parlamentarisierung des Reiches, wichtige Ergebnisse der Wahlforschung zum Kaiserreich, den praktischen Ablauf der Wahlen und insbesondere die Wahlbündnisse, die zutreffender Wahlabsprachen heißen sollten. Diese waren im wilhelminischen absoluten Mehrheitswahlrecht schon im ersten Wahlgang gängig, insbesondere aber in der Stichwahl, wo sich die zwei bestplatzierten Männer – Frauen blieben bekanntlich ausgeschlossen – gegenüberstanden. Die Zahl der von einer Partei dominierten Bezirke, etwa Meppen-Bentheim, Bonn-Rheinbach oder Kleve-Geldern, wo das Zentrum 70–99 Prozent der Stimmen erhielt, nahm ab. Schon 1890 soll es (S. 23) in gut der Hälfte aller 397 Wahlkreise Parteienabsprachen gegeben haben und 1912 gar in Dreiviertel. Hierfür entwickelt Reibel gleich acht Typen, wo Thomas Kühne noch mit vier ausgekommen war. Häufigster Typ war Reibel (S. 26) zufolge das „Plattformbündnis“, bei dem Partei A den Kandidaten von Partei B zu wählen empfahl, nachdem diese spezifische Forderungen bezüglich dessen Person und/oder parlamentarischem Abstimmungsverhalten zu erfüllen versprochen hatte. Zweithäufigster Typ scheint das „wahlkreisübergreifende Aussparungsabkommen“ gewesen zu sein, bei dem Partei A in Wahlkreis X den Kandidaten von Partei B zu wählen empfahl und kompensatorisch Partei B in Wahlkreis Y den Kandidaten von Partei A. Zu diesem Typ zählten Bismarck-Kartell 1887 und Bülow-Block 1907. Gerade in Preußen, wo Reichs- und Landtagswahlkreise teilidentisch waren, kamen häufiger „diachrone Abkommen“ vor, bei denen Partei A in einer Region den Reichstags-Kandidaten von Partei B unterstützte und im Gegenzug für ihren Landtags-Kandidaten Schützenhilfe von Partei B erhielt.

Die übergreifende Frage für die ganze Thematik muss lauten: Was trugen Wahlbündnisse zur Einübung in demokratische Willensbildungsprozesse und kompromisshafte politische Lösungen bei und wie beeinflussten sie das Parteiensystem im Sinne von Parteien-Allianzen und potentiellen Regierungskoalitionen? Oder simpel und konkret: Ist die Genese der Weimarer Koalition zu beobachten? Eine umfassende Antwort hierzu findet sich in Reibels Einleitung nicht, jedoch erkennt er an, dass es Grenzen der Bündnisbildung gab (S. 34f.). Beispielsweise nahmen, zumal in Preußen, Staatsbehörden Einfluss, und auch Parteiführungen entschieden über Bündnisse lieber im kleinen Kreis denn unter voller Mitsprache der Anhängerschaft. Reibel konstatiert – leider zu kursorisch – dominierende reichsweite Phasen wie das konservativ-nationalliberale (Bismarck-) Kartell, die gesamtliberale Zusammenarbeit oder den schwarz-blauen Block. Nach 1898 hingegen gab es ihm zufolge eine vielfältigere Bündnislandschaft, beispielsweise auch Absprachen zwischen Nationalliberalen und Zentrum (gegen die SPD) oder Sozialdemokratie und Zentrum (gegen die Liberalen im Bülow-Block). Profiteure der Absprachen waren in absteigender Rangfolge Reichspartei, Nationalliberale, Deutschkonservative und Freisinn, während Zentrum und SPD durch viele Hochburgen weniger von Absprachen abhingen.

Bei aller Anerkennung der Bedeutung von Wahlbündnissen z.B. für das konservativ-nationalliberale Kartell oder die „Gouvernementalisierung des Freisinns“ (Th. Kühne) möchte der Rezensent den Stellenwert von Wahlbündnissen für Demokratisierung und Parlamentarisierung mit folgenden Argumenten relativieren. Es handelte sich erstens häufig um die Auswahl des „kleineren Übels“ (so S. 26 u.ö.). Wenn eine in einem Stimmkreis – etwa aufgrund sozialstruktureller Gegebenheiten – chancenlose Partei zum Ankreuzen bei einer weniger missliebigen Partei ermutigte, ist das noch kein Bündnis. Eine parlamentarische Reformkoalition gar gründet nicht auf lokal unterschiedliche Wahlempfehlungen gegen gemeinsame Gegner, sondern auf geteilte politische Inhalte und Projekte.

Zweitens gab es zwar „von unten“ gewachsene Bündnisse, etwa die gesamtliberale Kooperation, aber Wahlbündnisse folgten häufig den Berliner politischen Konstellationen. So unterstützten die parlamentarischen Gegner von Bismarck-Kartell oder Bülow-Block – Sozialdemokraten, Zentrum und Linksliberale – logischerweise nicht Kandidaten von Kartell oder Block, sondern gaben Wahlempfehlungen untereinander (so genanntes Anti-Kartell). Fallweise sind in der Tat Auflockerungen zu erkennen, aber diese zielten nicht gleichläufig in Richtung einer klaren parlamentarischen Mehrheitsbildung. Die Nationalliberalen etwa trafen Absprachen sowohl mit konservativ-agrarischen wie mit linksliberalen Gruppierungen, schwankten in Baden zwischen SPD und Zentrum und unterstützten in Industriegebieten fallweise das Zentrum gegen die SPD. Wären dem Handbuch wahlkreisweise Tabellen über die jeweiligen Mandatsgewinner mit Angabe der zugrunde liegenden siegreichen bzw. unterlegenen Parteienkonstellation beigegeben worden, wären Berliner Rahmensetzung wie regionale Eigenheiten besser erkennbar geworden und Nutzer hätten schnell eigene Auswertungen vornehmen können.

Drittens blieben zentrale, insbesondere soziokulturell unterlegte Konfliktlinien großenteils bestehen, primär die Kluft zwischen Sozialdemokratie und bürgerlichen Gruppierungen, die Segmentierung von katholischem Zentrum und nichtkatholischen Parteien, die scharfe Gegnerschaft von Linksliberalen und SPD zu den Deutschkonservativen sowie der Lager-Gegensatz von deutschen und fremdnationalen Minderheiten-Parteien. Auch die Stadt-Land und die Produzenten-Konsumenten Differenzen nahmen nach 1900 eher zu. 1

Ferner wirkten bekannte Grundtatsachen des konstitutionellen Regimes auf die Wahlabsprachen zurück: die Trennung von Exekutive und Legislative gemäß Verfassungstext und der eine unitarische Regierung erschwerende Föderalismus, die Initiativrolle der prestigereichen Bürokratie und die Fernhaltung der Parteien von Regierungsposten, was politische Verantwortungslosigkeit und individuelles Bargaining mit der Reichsleitung begünstigte. Dass einzelstaatliche Wahlrechte korporatistische Traditionen konservierten, im politischen Denken Ablehnung des parlamentarischen Systems dominierte, und zeitig autoritär-völkische politische Systeme herbeigedacht wurden, kam noch hinzu.

Insgesamt erkennt der Rezensent ein Dreieck ohne eindeutige Resultante: Zunehmende, aber nicht gleichläufige Demokratisierung im Sinne von politischer Mobilisierung an der Basis, weiterbestehende sozialkulturelle Segmentierung in Gesellschaft wie Führungsgruppen und die Abwehr von Parlamentarisierung im Reichstag durch eine Regierung, die aufgrund der personellen und sachlichen Dominanz Preußens nicht gegen die Konservativen regieren wollte bzw. konnte. Die Weimarer Koalition bildete nicht den einzig denkbaren Fluchtpunkt der Entwicklung und bedurfte des Weltkriegs zur Entstehung. In der gesellschaftlich-politisch-parlamentarischen Gesamtkonstellation waren Wahlabsprachen nur ein Faktor unter mehreren. Diese Feststellung entwertet nicht ihre Untersuchung, aber rückt sie in Perspektive.

Ohne mit der Besserwisserei des regionalen Spezialisten Details in einem monumentalen Daten-Gebirge bemäkeln zu wollen, seien abschließend um der Sache und Genauigkeit willen doch einige Monita genannt. Die Hinweise auf wahlhistorisch relevante Literatur zu Regionen/Wahlkreisen fallen partiell spärlich aus, allerdings entschuldigt durch Arbeitsökonomie und dünne Literaturlage zum Gutteil Ostelbiens. Angesichts der heute zur Verfügung stehenden Handbücher und der online-Recherche hätten im Kandidatenregister vollständigere biographische Angaben zu Vornamen, Lebensdaten und Berufen eruiert werden können, zumal darauf laut Klappentext besonderer Wert gelegt wurde. Bei Dutzenden von Kandidaten wie z.B. (Richard) Freund, (Bernhard) Irmer, (Hanns) Jencke, (August) Nebe Pflugstädt, (Richard) Remy, (Heinrich) Suchsland oder (Johannes) Tews sind solche Fakten leicht zu eruieren. Andererseits wirkt die unsystematisch gehandhabte Angabe aller (drei bis sechs) Taufnamen bei bekannten Personen, z.B. Franz Ballestrem, überflüssig. Bei der Identifizierung von Kandidaten geht das Register mehrfach zu vorsichtig vor; z.B. sind die je dreimal aufgeführten Karl Baumbach, Hugo Kindler und Karl Sattler jeweils eine Person. Umgekehrt werden Vater und Sohn Ratibor verquickt. Inkorrekt sind die Auflösung von Rep. als Repertorium statt Repositur (S. 51), die Verkennung des theologischen Doktortitels „D.“ als Vornamen Friedrich Naumanns (S. 1655) und der Halbsatz (S. 1101), Würzburger Sozialdemokraten hätten in der Stichwahl den Zentrumskandidaten unterstützt, weil dieser gegen das bestehende Wahlrecht eintrat. All diese Petitessen beiseite: Das Werk stellt beste historische Grundlagenforschung dar.

Anmerkung:
1 Vgl. den kritischen Literaturbericht von Kühne, Thomas, Demokratisierung und Parlamentarisierung. Neue Forschungen zur politischen Entwicklungsfähigkeit Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 31,2 (2005), S. 293–316.

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