F. Anders u.a. (Hrsg.): Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols

Cover
Titel
Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols. Recht und politisch motivierte Gewalt am Ende des 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Anders, Freia; Gilcher-Holtey, Ingrid
Reihe
Historische Politikforschung 3
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Campus Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franz-Werner Kersting, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte und Westfälische Wilhelms-Universität Münster

„Gewalt ist ein umkämpfter Begriff. Was Gewalt ist, war, wie die Begriffsgeschichte zeigt, niemals eindeutig definiert. Das gilt auch für die Entwicklung des Gewaltbegriffs am Ende des 20. Jahrhunderts, die durch Definitionskämpfe gekennzeichnet ist, die im Spannungsfeld von restriktivem und extensivem Gewaltbegriff entstehen: um Gewalt als Bezeichnung von Gewalttätigkeit einerseits und Gewaltverhältnissen andererseits oder, anders formuliert, um Gewalt als Handlungsform oder Strukturprinzip.“ (S. 7) So beginnen die beiden Bielefelder Historikerinnen Freia Anders und Ingrid Gilcher-Holtey den „Prolog“ zu dem von ihnen herausgegebenen, interdisziplinär besetzten Sammelband. Zwar sind beide Herausgeberinnen jeweils auch mit einem eigenen Aufsatz in dem Band vertreten, doch die Mehrzahl der Beiträge stammt aus der Feder von Juristen bzw. einer Juristin (Annette Keilmann, Ulrich Falk, Dieter Grimm, Dierk Helmken, Ulrich K. Preuß, Lorenz Schulz). Diese beleuchten das Oberthema wiederum aus unterschiedlichen fachlich-thematischen Blickwinkeln: vom Öffentlichen Recht und Völkerrecht über Strafrecht und Kriminologie bis hin zur Rechtsgeschichte. Weitere Einzelbeiträge kommen aus der Soziologie (Hans-Peter Müller) sowie der Literatur- und Theaterwissenschaft (Franziska Schößler).

Selbstverständlich haben Anders und Gilcher-Holtey einige „leitende Fragen“ (S. 14) formuliert und vorgegeben. Doch den Versuch, alle Autorinnen und Autoren gleichzeitig auch „unter ein methodisch-theoretisches Dachpapier zu stecken“ (S. 17), haben sie bewusst nicht unternommen. Ausschlaggebend war dabei für sie einmal die Schwierigkeit, schon allein die heterogene juristische ‚Mehrheitsfraktion’ womöglich für einen „einheitlichen analytischen“ Fokus zu gewinnen (ebd.). Mehr noch aber schienen der gewählte Forschungsgegenstand und Diskussionshorizont selbst den Verzicht auf einen verbindlichen Referenzrahmen nahezulegen. Denn in der Tat gibt es keine allgemeine konsensfähige Umschreibung von Gewalt. Die Definitionen sind zeit-, fach-, standort- und aktualitätsabhängig und damit gewissermaßen auch immer ‚im Fluss’: mal enger, mal weiter gefasst sowie geprägt durch die Wahrnehmungs-, Kommunikations-, Konflikt-, Selbst- und Fremddeutungsmuster der historischen Akteurinnen und Akteure im Diskurs und (Spannungs-)Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Und schließlich versteht sich der vorliegende Band ein Stück weit auch selbst als Teil und Spiegelbild dieses ambivalenten Problemfeldes.

Einleitend haben die Herausgeberinnen zumindest einen ersten Orientierungsrahmen für die Leserinnen und Leser abgesteckt (S. 7ff.): Gewalt im engeren Sinne, als „Handlungsform“ verstanden, meint demnach vor allem die „öffentliche Gewalt“ des Staates (zur möglichen „Bändigung“ von – als „gewalttätig“ eingestufter – Gewalt gesellschaftlicher Individuen und/oder Gruppen), die „private Gewalt“ („im Verhältnis Bürger – Bürger“) sowie die „politisch motivierte Gewalt“ („im Verhältnis Bürger – Staat“). Die bundesdeutsche „Unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt“ hat diese Gewaltform 1990 in einer Minimaldefinition als „zielgerichtete, direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen“ umschrieben (zit. auf S. 11). Das von Anders und Gilcher-Holtey favorisierte erweiterte Begriffsverständnis bezieht dagegen auch die Dimension von Gewalt als „Strukturprinzip“ gesellschaftlicher (Abhängigkeits-)Verhältnisse mit ein und kann dabei an prominente Vordenker anknüpfen: Hier geht es um die „materielle“ oder „sachliche“ (Karl Marx), die „strukturelle“ (Johan Galtung) sowie die „symbolische Gewalt“ (Pierre Bourdieu). In diese Sichtweisen und Modelle wird ebenfalls kurz eingeführt. Im Aufsatzteil der Publikation finden sich dann immer wieder auch hilfreiche Arbeitsdefinitionen anderer zentraler Teilbegriffe des (zeitgenössischen) öffentlichen Gewaltdiskurses – wie „ziviler Ungehorsam“ (S. 233), „Militanz“ (S. 230f.), „Terror“ und „Terrorismus“ (S. 119f.) oder „Makrokriminalität“ (S. 265f.).

In ihrer Gesamtheit beleuchten die Beiträge den Untersuchungsgegenstand aus der doppelten Sicht sowohl des staatlichen Gewaltmonopols wie auch der gesellschaftlichen Gewalt ‚von unten’ und spannen dabei einen weiten Bogen: Zu ihm gehören fundierte (sich teilweise aber auch überschneidende) Längsschnitte sowohl durch die Geschichte und die aktuellen Problemlagen des staatlichen Gewaltmonopols nach innen und außen (Grimm) als auch durch den langfristigen Formwandel von Gewalt und Gewaltprävention in den internationalen Beziehungen (Preuß) – von den „alten“ Kabinetts- und Staatenkriegen zu den „neuen“ Kriegen und Verwerfungen (Völkermord) des 20. Jahrhunderts, vom „alten“ Kriegsrecht zum modernen Völkerstrafrecht. Ferner geht es, in zum Teil sehr ‚engagierter’ und kritischer Auseinandersetzung mit dem Vorstoß des Heidelberger Rechtsprofessors Winfried Brugger (Stichwort „Rettungsfolter“), um die Frage der rechtsstaatlichen Legitimität und/oder Gefahr des Einsatzes von Folter als präventivpolizeiliches Mittel der Informationsbeschaffung (Keilmann, Falk).

Weitere Analysen gelten der Erklärungs- und Wirkungskraft des insbesondere nach dem 11. September 2001 so populären Schlagwortes vom „Kampf der Kulturen“ (Samuel P. Huntington) als „Zeitdiagnose“ (Müller), den „Sitzblockadenentscheidungen“ des Bundesverfassungsgerichts von 1986 und 1995 (Helmken) sowie der Bedeutung des „Labeling-Ansatzes“ für eine Kriminologie der Gewalt (Schulz). Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht werden sowohl der – eher „strukturelle“ und „symbolische“ – Gewaltbegriff der 68er (Gilcher-Holtey) als auch das Selbstverständnis und die strafrechtliche Verfolgung der ehemals auflagenstarken, 1976–1999 erscheinenden links-„autonomen“ Zeitschrift „radikal“ nachgezeichnet und systematisch kontextualisiert (Anders). Schließlich informiert das Buch über „Gewalt und Macht im Gegenwartsdrama“ am Beispiel entsprechender Stücke von Elfriede Jelinek und Sarah Kane (Schößler).

Durch das breite Begriffsverständnis und Themenspektrum, den doppelten perspektivischen Zugriff sowie die insgesamt ‚zeitnahe’ Schwerpunktsetzung auf das ausgehende 20. Jahrhundert demonstriert und unterstreicht der Band noch einmal den zentralen Stellenwert von Gewalt als historischem Faktor, aktuellem Phänomen und wissenschaftlichem Untersuchungsgegenstand. Je nach Kenntnisstand und Interessenlage kann man ihn als Einführung/Überblick zu historischen wie aktuellen Positionsbestimmungen verschiedener Disziplinen lesen, aber auch zur Vertiefung spezieller fachlicher Problemsichten. Letzteres gilt etwa für die weiterführenden Impulse zur laufenden ‚Historisierung’ zeitgenössischer Gewaltdiskurse und ‚Deutungskämpfe’, insbesondere mit Blick auf die bundesdeutsche Gewalt- und Terrorismusgeschichte seit dem Übergang von den 1960er- zu den 1970er-Jahren. Diesen Vorzügen steht freilich auch ein unverkennbares Defizit gegenüber: Das erwähnte Fehlen eines themen- und disziplinenübergreifenden analytischen Referenzrahmens ist der inhaltlichen Kohärenz des Sammelbandes abträglich, trotz der nachvollziehbaren Begründungen für diese Tatsache.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch