O. Schmidt: "Meine Heimat ist - die deutsche Arbeiterbewegung"

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Titel
"Meine Heimat ist - die deutsche Arbeiterbewegung". Biographische Studien zu Richard Löwenthal im Übergang vom Exil zur frühen Bundesrepublik


Autor(en)
Schmidt, Oliver
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
390 S.
Preis
€ 56,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Zenrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Richard Löwenthal (1908–1991), der am 15. April 2008 seinen 100. Geburtstag hätte begehen können, ist der Nachwelt als einer der Gründerväter der politikwissenschaftlich orientierten Kommunismusforschung der Bundesrepublik im Gedächtnis geblieben. Doch kehrte Löwenthal erst spät, nämlich 1961, endgültig aus London wieder zurück, und er lebte fortan auch nicht in der Bundesrepublik, sondern in West-Berlin. Beide Aspekte – sein Exilschicksal wie sein auch im Nachhinein spürbarer Stellenwert im politischen Diskurs – legen eine biographische Studie zu diesem Wissenschaftler nahe. Für einen wichtigen Teil von Löwenthals Leben und Wirken hat Oliver Schmidt nun seine hier vorliegende Dissertation veröffentlicht (die Jahre ab 1961/62 sind, dem Titel des Buches entsprechend, nur knapp behandelt).

Der Autor vermittelt gute biographische Informationen zu Löwenthals Kindheit und Jugend in Berlin. Schmidt kann sich dabei auf die letzten Zeitzeugen stützen. Allerdings nahm er keinen Kontakt zu Löwenthals Jugendfreund Erich Schmidt auf, der heute in Easthampton (Massachusetts) lebt. Die wichtigste Quellenbasis des Buches bildet neben Löwenthals Schriften sein Nachlass im Archiv der sozialen Demokratie, der unter anderem durch Bestände des Amsterdamer Instituts für Sozialgeschichte ergänzt wurde.

Bereits als Student in Berlin und Heidelberg betätigte sich Löwenthal politisch: 1926 wurde er Mitglied, 1928 Reichsleiter des KPD-Studentenbundes. Das politische Engagement blieb für ihn wichtig, auch wenn er seine politische Heimat mehrfach wechselte. Nach seinem Ausschluss aus der KPD, gegen deren Sozialfaschismus-These und deren Unterordnung unter Stalin er opponiert hatte, schloss sich Löwenthal bis 1931 der KPD-Opposition (KPO) um Heinrich Brandler und August Thalheimer an. Theodor Bergmanns Geschichte der KPO hat Schmidt allerdings nicht genutzt, und so entgehen ihm wichtige Informationen zu dieser Organisation.1

Bereits 1931/32 nahm Löwenthal Kontakte zur Gruppe Neu Beginnen auf. Diese Gruppierung bemühte sich ab 1933 um eine Neuformierung der durch die epochale Niederlage gelähmten deutschen Linken. 1933/34 schrieb Löwenthal unter Pseudonym wichtige Beiträge für die Karlsbader „Zeitschrift für Sozialismus“, in denen er den Hitlerfaschismus analysierte. Obgleich als Jude und Marxist doppelt gefährdet, war er in Deutschland im Widerstand aktiv. Im August 1935 musste Löwenthal Deutschland verlassen. Er ging zuerst nach Prag, dann nach London. Zwischenzeitlich war er in Paris, bevor er sich im Sommer 1939 in London niederließ. An all diesen Orten war er führend im Auslandsbüro von Neu Beginnen tätig – eine schwierige Arbeit, deren Facetten (auch die Konflikte) Schmidt gut nachzeichnet und analysiert.

Der wissenschaftsgeschichtlich interessanteste Aspekt des Buches ist die Rekonstruktion von Löwenthals Haltung zur Sowjetunion. Im Frühjahr 1936 sprach sich dieser für eine Wiederherstellung von „Freiheitsrechten in gewissen Grenzen“ in der UdSSR aus, was indes mit der „Aufrechterhaltung des Parteimonopols und der zentralisierten Staatsmacht durchaus vereinbar“ sei. Er fürchtete, der Versuch einer grundlegenden Demokratisierung werde zur Schwächung oder sogar zum Zusammenbruch der Sowjetunion führen, was einen gewaltigen Sieg des Faschismus bedeuten würde (S. 151). Die Moskauer Prozesse, die unrühmliche Rolle von Stalins Geheimdienst in Spanien und der Hitler-Stalin-Pakt bewogen Löwenthal dann zu einer scharfen Distanzierung, die er nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion teilweise zurücknahm.

Nunmehr setzte sich Löwenthal für eine Mitwirkung der Sowjetunion an der Neuordnung Europas ein. Er entwickelte das Konzept einer deutschen Demokratie, in der eine Restauration des deutschen Kapitalismus verhindert würde. In seinem bekanntesten Buch „Jenseits des Kapitalismus“ übte Löwenthal (unter dem Pseudonym Paul Sering) 1946 scharfe Kritik am Parteimodell Lenins. Er plädierte zudem für eine Abschaffung der Klassengesellschaft durch Aufhebung der Lohnarbeit – eine Ansicht, die er später revidierte.

1945 wurde Löwenthal britischer Staatsbürger und trat im gleichen Jahr der Exil-SPD bei. Die folgenden anderthalb Jahrzehnte arbeitete er als Journalist für die Nachrichtenagentur Reuters und für den „Observer“, für den in der Nachkriegszeit auch Edward Crankshaw, Isaac Deutscher, Sebastian Haffner und George Orwell schrieben. In den politischen Kontroversen bezog Löwenthal nunmehr Positionen, die denen des SPD-Parteivorstandes nahekamen, in denen sich aber auch Erfahrungen des englischen Labour-Milieus niederschlugen. In England wurde Löwenthal wirklich zum Sozialdemokraten, wie er später betonte. Dies zeigte sich auch in der Biographie Ernst Reuters, die er 1957 gemeinsam mit Willy Brandt publizierte und die bei Schmidt eine stärkere Beachtung verdient hätte.

Erst 1961 kehrte Löwenthal auf Initiative seines alten Freundes Ossip Flechtheim nach Deutschland zurück, um eine Professur für Außenpolitik an der Freien Universität Berlin zu übernehmen. Seine Forschungsschwerpunkte werden durch die Titel seiner Bücher sichtbar: „Chruschtschow und der Weltkommunismus“ (1963), „Vom Kalten Krieg zur Ostpolitik“ (1974), „Sozialismus und aktive Demokratie“ (1974), „Model or Ally? The Communist Powers and the Developing Countries“ (1977), „Gesellschaftswandel und Kulturkrise“ (1979). Er gab wichtige Arbeiten aus dem Nachlass seines Freundes Franz Borkenau heraus. Leider schrieb er nicht mehr seine lange geplante Geschichte der Komintern. Zu Löwenthals politischen Verdiensten gehören seine eindeutige Opposition gegen den Vietnamkrieg und sein frühes Drängen auf Anerkennung der Realitäten in Europa durch eine neue Ostpolitik.

Als scharfe Entgegnung auf die Studentenrevolte 1968 veröffentlichte er seine Polemik „Der romantische Rückfall“. 1970 war Löwenthal Mitbegründer und Vorstandsmitglied des konservativen Bundes Freiheit der Wissenschaft, aus dem er jedoch Ende 1978 wieder ausschied. Als Grund nannte er die zunehmende Orientierung des Bundes an der parteipolitischen Ausrichtung der CDU, insbesondere in der Bildungspolitik. Doch rechtfertigte Löwenthal auch weiterhin die Berufsverbote gegen so genannte Radikale im öffentlichen Dienst – Verbote, die nicht nur DKP-Mitglieder, sondern teilweise auch unabhängige Linke in Mitleidenschaft zogen. Für ihn war dies kein Widerspruch zu den Prinzipien des demokratischen Sozialismus, an denen Löwenthal als Mitglied der SPD-Grundwertekommission öffentlich festhielt. Er setzte sich – bei deutlicher ideologischer Abgrenzung – auch für einen politischen Dialog zwischen SPD und SED ein und war am Zustandekommen der Gemeinsamen Erklärung beider Parteien 1987 beteiligt.

Schmidt sucht Löwenthals widerspruchsvolle Positionen anhand von dessen Entwicklung hin zu einem Theoretiker des Totalitarismus zu durchleuchten. Doch erst 1957 fasste Löwenthal seine Ansichten zum Totalitarismus zusammen und trat dabei einseitigen ideologischen Deutungen entgegen. Totalitäre Systeme könnten nur dort gedeihen, wo die vorangehende Ordnung bei der Lösung dringendster sozialer Aufgaben versagt habe. Der Bolschewismus hätte 1917 nicht die Macht erringen können, wären seine Gegner willens und fähig gewesen, den Krieg sofort zu beenden. Der Nationalsozialismus hätte 1933 nicht gesiegt, hätten die herrschenden Parteien der Weimarer Republik eine Vollbeschäftigungspolitik wenigstens versucht (S. 320ff.).

In den letzten Jahren seines Lebens kommentierte Löwenthal voller Hoffnung die Politik einer Demokratisierung der Sowjetunion unter Gorbatschow. 1989 ließ er sich nicht vom nationalen Taumel anstecken. Unter keinen Umständen dürfe die Lage in der DDR außer Kontrolle geraten, da ansonsten Gorbatschows Reformen scheitern würden, warnte er in einer seiner letzten politischen Stellungnahmen. Gleichfalls 1989 bekannte er sich in einem Interview zum Gedankengut, das ihm sowohl Sozialdemokraten wie Kommunisten in der Weimarer Republik vermittelt hatten. „Meine Heimat ist die deutsche Arbeiterbewegung“, sagte er damals, und dieser bemerkenswerte Satz gab Schmidts Buch den Titel.

Löwenthal betonte immer wieder, dass eine Gesellschaft, die dem Gedanken der sozialen Emanzipation und Gerechtigkeit verpflichtet ist, nur aus einer Fortentwicklung der westlichen Demokratie möglich sei. Doch greift Schmidts Ansatz zu kurz, wenn er Löwenthals Kritik am Sowjetkommunismus nur aus der Sicht des Totalitarismus-Konzepts interpretiert. Vielmehr rückte Löwenthal in den 1960er-Jahren vom Totalitarismus-Paradigma explizit ab. Gerade die ideologiekritische Methode und die immanente Kritik des Sowjetkommunismus ermöglichten es Löwenthal, präziser als manch anderer die strukturellen Schwächen des realsozialistischen Systems zu erkennen. Löwenthals späte Analysen verdienen jedoch eine genauere Betrachtung, als es Oliver Schmidts gewinnbringende Studie leisten konnte und wollte.

Anmerkung:
1 Bergmann, Theodor, „Gegen den Strom“. Die Geschichte der Kommunistischen Partei-Opposition, Hamburg 1987, 2. Aufl. 2001. Auch Bergmann, KPO-Mitglied seit 1930 und auskunftsfähiger Zeitzeuge, war mit Löwenthal über viele Jahrzehnte gut bekannt.