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Titel
Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik


Autor(en)
Kauders, Anthony
Erschienen
Anzahl Seiten
302 S., 10 Abb.
Preis
€ 22,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moshe Zuckermann, Tel Aviv University

Anthony D. Kauders’ Buch „Unmögliche Heimat“ befasst sich mit der deutsch-jüdischen Geschichte der Bundesrepublik. Dass die Apposition „Eine deutsche-jüdische Geschichte“ für den Untertitel gewählt worden ist, darf durchaus als überflüssige Bescheidenheit gewertet werden. Zumindest im Hinblick auf die von Kauders verfolgten Hauptkoordinaten kann man davon ausgehen, dass sich eine grundlegend andere deutsch-jüdische Geschichte der alten Bundesrepublik kaum schreiben lässt: Kauders hat das Besondere dieser Geschichte brillant erfasst. Man erfährt aus dem Buch zwar nicht viel Neues – der lebensgeschichtlich Eingeweihte schon gar nicht –, doch ist vieles bereits Bekannte mit unbekannten, teils sehr aufschlussreichen Dokumenten belegt. Die Qualität des Buches liegt darin, dass Geahntes, aber nur selten Ausgesprochenes in konstruktiver Weise enttabuisiert wird. Dass Kauders darüber hinaus bemüht ist, die zentralen Variablen seiner Untersuchung und einige der in ihr dargestellten Phänomene theoretisch zu fundieren und begrifflich einzufassen, mag manchem Leser überflüssig vorkommen, indiziert aber doch das eigentliche Ziel des Autors: Nicht um ideologische Apologie oder um polemische Kritik geht es ihm, sondern um aufklärendes Verstehen.

Die Kapitelfolge des Buches spiegelt die Matrix von Kauders’ Sicht der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte wider. „Schuld“ (Kapitel 1) behandelt die psychohistorische Konstellation der „unmöglichen“ Gesellschaft, in der sich Juden nach der ihnen widerfahrenen Katastrophe einzurichten begannen. Zu dieser Konstellation gehörten die in Schuldverleugnung verharrenden Deutschen und zugleich die Juden mit ihrem über Jahre kaum versiegenden Schuldgefühl, im „Land der Täter“ geblieben zu sein. „Geld“ (Kapitel 2) erörtert unverhohlen die materielle Motivation der Shoah-Überlebenden, sich (vermeintlich temporär) in der Bundesrepublik niederzulassen. Kauders moralisiert dabei nicht unnötig, sondern verweist auf die kompensatorische Funktion, die Geld und Reichtum gerade für Menschen, die alles verloren haben, erfüllen mag. Man hätte sich in diesem Zusammenhang vielleicht auch einige Überlegungen des Autors zum Konnex von wirtschaftswunderlichem Wohlstand und Geschichtsvergessenheit der Deutschen gewünscht. „Israel“ (Kapitel 3) befasst sich mit dem projektiven Charakter der jüdischen Identität in der alten Bundesrepublik, mithin mit dem Stellenwert, den der parallel zur Bundesrepublik gegründete und sich entwickelnde Judenstaat eingenommen hat.

„Demokratie“ (Kapitel 4) beansprucht, eine idealtypisch verstandene politische Gesamtausrichtung der Juden im westlichen Nachkriegsdeutschland herauszuarbeiten. Man mag sich fragen, ob in diesem Fall die Grundthese des Autors, dass die Gesinnungsmatrix der Juden demokratisch gewesen sei, nicht überzogen ist, ob diesem jüdischen Kollektiv mithin nicht etwas aufgestülpt wird, von dem es selbst, genau besehen, kaum etwas wusste. „Gemeinde“ (Kapitel 5) ist den Lebenswelten der bundesrepublikanischen Juden gewidmet, vor allem ihren institutionalisierten Formen. Kauders berührt dabei unter anderem die (eher defizitäre) Jugendarbeit in den Gemeinden, ignoriert aber die bedeutendste Institution jüdisch-jugendlicher Lebenswelten im Westdeutschland der 1960er- und 1970er-Jahre: Kaum zu begreifen, dass gerade die organisierte Aktivität der „Zionistischen Jugend in Deutschland“ (ZJD) in Kauders’ Werk so gut wie keine Erwähnung findet, zumal einige der von ihm mehrmals zitierten Protagonisten (etwa Micha Brumlik und Cilly Kugelmann) einen gewichtigen Teil ihrer jugendlichen Sozialisation in dieser Organisation erfahren haben (und dank ihrer gar ein kurzes Israel-Intermezzo absolvierten).

Im sechsten, abschließenden Kapitel „Zukunft“ werden kurz die Perspektiven gestreift, die sich mit der massiven Immigration von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ins vereinigte Deutschland eröffnet haben. Dieses Kapitel musste zwangsläufig skizzenhaft geraten. Zwar kann die quantitative Dimension dieser in den 1990er-Jahren einsetzenden Einwanderungswelle kaum ignoriert werden – veränderte sie doch von Grund auf die Demographie der jüdischen Gemeinden Deutschlands –, aber ähnlich wie in Israel, wo sich die demographischen Folgen der „russischen“ Immigration um einiges eklatanter auswirkten, ist noch nicht absehbar, was diese Strukturveränderung in sich birgt und in welche Qualität die Quantität umschlagen wird.

Im Großen und Ganzen also ein gutes, ein wichtiges Buch. Und doch fragt man sich nach seiner Lektüre, aus welcher Perspektive es geschrieben ist. Wohl kaum aus der Sicht der jüdischen Protagonisten der Nachkriegsära selbst – dazu sind die deutschstämmigen Juden bzw. der von ihnen geführte politische wie institutionelle Diskurs zu überrepräsentiert. Das Gros der etwa 30.000 Juden der alten Bundesrepublik waren Shoah-Überlebende osteuropäischer Provenienz, die sich um die Belange der „jekkischen“ Funktionsträger herzlich wenig kümmerten, ihnen selbst zumeist gar mit Misstrauen begegneten. Selbst – oder gerade – ein Mann wie Ignatz Bubis kam ihnen suspekt vor, als er begann, politisch zu werden und sich in der deutschen Öffentlichkeit zunehmend zu artikulieren: Was hat er bei den Gojim verloren?, fragte man sich unter der Hand. Und als er in den 1980er- Jahren gar zu proklamieren begann, jüdisches Gemeindeleben möge in Deutschland wieder erblühen, war das zwar objektiv die Absegnung von bereits Geschehenem, aber die allermeisten seiner jüdischen Generationsgenossen begriffen nicht, was ihn motivieren mochte, ihrer eigenen Lebenslüge den offiziellen Befreiungsschlag zu versetzen. Sie verstanden auch nicht, was ihn zur berüchtigten Walser-Bubis-Debatte trieb.

Und mit Demokratie bzw. mit der Demokratisierung Deutschlands, gar der „Gabe“ von Juden an Deutsche, hatte die Grundgesinnung dieser lebensgeschichtlich Geschundenen rein gar nichts zu tun. Gewiss, sie konnten mit dem Faschismus nichts am Hut haben; zu katastrophal hatte er sich an ihrem Leben ausgetobt. Aber die humane politische Konsequenz daraus zogen kaum sie selbst, sondern eher ihre Söhne und Töchter, mithin die – an sich sehr dünne – jüdische Intelligenzschicht der zweiten Generation, die es mit Gymnasialausbildung und universitärem Studium auch wahrhaft leichter hatte als die Generation der Geschlagenen, Erniedrigten und Beleidigten, die den Neubeginn in ihrem Leben nicht als Weltveränderung, sondern als schieres Überlebthaben und Weiterleben verstanden.

Das sollte sich auch in der primär projektiven Beziehung der in Deutschland lebenden Juden zu Israel niederschlagen. Von Israelis eher mit Verachtung, oft auch mit Abscheu betrachtet, übten sich die bundesrepublikanischen Juden zumeist in unbedingter Solidarität mit und unhinterfragbarem Fernpatriotismus zu Israel, wobei freilich „Israel“ stets ein Abstraktum blieb: Selbst wenn sie Verwandte im Land hatten, die sie in den Ferien besuchten, und erst recht, wenn sie das Land von der Warte der Luxushotels am Tel-Aviver Strand wahrnahmen und erlebten, ließen sie sich kaum je auf eine kritische Auseinandersetzung mit allem ein, was sich in Israel sozial und politisch real abspielte – Israel wurde stets entweder idealisiert oder hingenommen als die levantinische Last, die man als treuer Jude nun mal zu (er)tragen habe. Man bewunderte das Militär, verschloss die Augen vor der Armut, hasste die Araber und war vor allem dahingehend „loyal“, dass man kein böses Wort auf das Land kommen ließ. Dass sich in Israel niemand um die deutschen Juden scherte, war ebenso normal wie deren komplementäre „Liebe“ zur Abstraktion „Israel“. Sie verhielten sich im Wortsinne diasporisch – mit Demokratie im emanzipativen Sinne hatte dies genauso wenig zu tun wie die Realität Israels mit dem phantasierten „Israel“.

Kauders legt darüber keine Rechenschaft ab, aber schon darin erweist sich sein Buch als wichtig, dass sich die hier angerissenen Probleme so fruchtbar von seinen Darlegungen ableiten lassen. Was freilich die Frage offen lässt: War das Leben der Juden in der alten Bundesrepublik von genügend großer Bedeutung, um ihm ein solch umfangreiches Werk zu widmen? Nun, nicht mehr, aber auch gewiss nicht weniger als jedes menschliche Kollektivleben – selbst dort, wo es sich von vornherein als Leben auf gepackten Koffern konstituiert hat, ohne je die Weiterreise anzutreten.

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