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Titel
Die Entstehung der direkten Demokratie. Das Beispiel der Landsgemeinde Schwyz 1780-1866


Autor(en)
Adler, Benjamin
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Lau, Universität Freiburg

Was hinterließ die Helvetische Republik der Schweiz – einen Umbruch der politischen Kultur, oder beschleunigte sie nur den Triumph alter kommunalistischer Traditionen (Blickle)? Leitete sie einen Paradigmenwechsel ein, oder wurde – um mit Lampedusa zu sprechen – alles anders, damit alles so blieb, wie es war? Diese Fragestellung, die sich in die Debatte um Kontinuität und Kontinuitätsbrüche der Französischen Revolution (wie sie von Bell, Rosenfeld oder McMahon in den letzten Jahren neu forciert wurde) einfügt, stand im Vordergrund eines Forschungsprojektes zur Entstehung der direkten Demokratie unter Leitung des Bielefelder Historikers Andreas Suter. Das von Benjamin Adler erarbeitete Fallbeispiel zum Kanton Schwyz in den Jahren 1798 bis 1866 soll, wie ein 59seitiges (!) Nachwort seines Doktorvaters unterstreicht, als ein Baustein dieses Gesamtvorhabens verstanden werden.

1798 waren die Bewohner der äußeren Bezirke des Kantons und einiger Untertanengebiete kurz vor der Proklamation der Helvetischen Republik als Landleute anerkannt worden – ein Akt, dessen Folgen die politische Debatte in Schwyz für die nächsten 50 Jahre beherrschen sollte. Methodisch an den Forderungen der historischen Semantik orientiert, analysiert Adler semantische Felder, um Veränderungen der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Akteure in diesem politischen Spiel näher zu beleuchten. Nicht soziale und wirtschaftliche Umbrüche interessieren den Autor, sondern neue Perspektiven in der Definition des politischen Raumes und der in ihm geltenden Regeln.

Um den Vergleich von vorher und nachher anstellen zu können, bedarf es eines Nullpunktes. Adler kommt nicht umhin, ein Bild der Alten Eidgenossenschaft und ihres Verständnisses von Freiheit und Souveränität zu zeichnen. Bauernmythos, Konfessionalisierung und Defensionalstreit liefern ihm dabei die Stichworte. Die altständischen Begründungen der Neuprivilegierung von Beisassen, Schutzverwandten und Untertanen seien, so Adler, von einer althergebrachten, gleichsam unwandelbar statischen politischen Kultur geprägt. Die Krise der Landsgemeinde an der Wende zum 18. Jahrhundert, die Adaption der Souveränitätstheorie, die Genese neuer Feind- und Selbstbilder – all diese in der aktuellen Forschung analysierten dynamischen Wandlungsprozesse des 17. und 18. Jahrhunderts werden vom Autor offenbar als marginal eingestuft, als Variationen eines altbekannten Themas. Die Gründe, die ihn zu dieser höchst anfechtbaren Einschätzung bewegen, legt er nicht dar. Auch die zahlreichen Brüche innerhalb der soziopolitischen Eliten des Kantons im 18. Jahrhundert bleiben dem Leser dementsprechend verborgen. Wer die Akteure im Einzelnen waren und welche sozioökonomischen Interessen sie trieben, dies alles wird vom Autor nur am Rande erwähnt. Man erfährt viel über den Verlauf der Debatte, aber kaum etwas darüber, wer genau sie eigentlich führt und was die Disputanten treibt. Es bleibt bei einer anonymen Konfrontation des Alten, das in Innerschweiz seine Befürworter findet, und des Neuen, das aus Außerschwyz, Zürich oder Frankreich kommt. Erst im letzten Drittel seiner Studien teilt uns Adler etwas mehr über den Zusammenhang von ökonomischen Krisen und der Bildung politischer Parteiungen mit und auch über die Rolle der Geistlichkeit im politischen Diskurs der Innerschweiz.

Dies ist umso bedauerlicher, als Adler im zweiten Abschnitt seiner Studien – jenem Abschnitt, der sich mit dem sogenannten Hörner- und Klauenstreit der Jahre 1830 bis 1838 beschäftigt – auf der Grundlage fundierter Quellenstudien den Wandel des politischen Diskurses in der Innerschweiz in beeindruckender Tiefenschärfe nachzeichnet. Die Ideen von Gewaltenteilung, Naturrecht, Volkssouveränität, Rechtsstaatlichkeit, Bundesstaat, so Adler, stießen vor allem in den bisher minderprivilegierten Teilen des zeitweise vor der Spaltung stehenden Kantons auf Sympathien. Angesichts der trickreichen Weigerung von Innerschwyz, den neuen Landleuten gleichberechtigte politische und symbolische Teilhabe zu gewähren und ihren Status nicht mehr offen oder versteckt in Frage zu stellen, stellten diese – von den Stadtorten gefördert – immer deutlicher und offener die Legitimationsfrage. Innerschwyz war schließlich (auch aufgrund innerer sozialer Friktionen und äußeren Drucks) gezwungen, die eigene Machtstellung mithilfe naturrechtlicher und frühliberaler Begründungsmuster zu verteidigen. Die Erfüllung der Emanzipationsforderungen war auf diesem Wege nur zu verzögern, nicht zu verhindern.

Gleichwohl, so Adler, blieben Katholizität, Freiheitsmythos und Landsgemeinde konstituierende Elemente des Selbstverständnisses der Akteure. Sie bezeichneten weiterhin Grenzen des Sagbaren und des Handelns. Die alten Mythen wurden nicht fallengelassen, sie wurden neu kontextualisiert und interpretiert.

Während in Schwyz die Entscheidung über zentrale politische Fragen durch eine Vollversammlung aller politischen Privilegienträger und der sehr vorsichtige Umgang mit dem Prinzip der Repräsentation (im altständischen ebenso wie im modernen Sinne) Tradition hatten, war dies in anderen Teilen der Eidgenossenschaft nicht der Fall. Und doch, so Suter in seinem Nachwort, breitete sich das Prinzip der direkten Demokratie – der politischen Mitsprache aller Wahlbürger mit Hilfe des Plebiszites – in den 1860er-Jahren in der ganzen Eidgenossenschaft aus. Warum? Anders als Peter Blickle sieht Suter nicht kommunalistische Strukturen, sondern die allen eidgenössischen Orten gemeinsame, extreme Schwäche der frühneuzeitlichen Obrigkeiten als Movens für diesen politischen Harmonisierungsprozess an. Die helvetische Republik wurde, so betonen Suter und Adler gleichermaßen, aufgrund des von ihr erzeugten Steuerdrucks im 19. Jahrhundert zum politischen Negativmythos, zum Schreckgespenst. Für die politisch unterprivilegierten, aber ökonomisch prosperierenden ruralen Bevölkerungsteile stellte dies ein Problem dar. Einerseits strebten sie nun, da alte Autonomiemodelle angesichts der desintegrierenden Effekte der forcierten Staatsbildung um 1800 ins Leere liefen, nach politischer Inklusion, lehnten andererseits jedoch die Kosten des Repräsentativsystems ab. Als Königsweg bot sich einzig das Modell der direkten Demokratie an, das in Kooperation mit liberalen urbanen Elitensegmenten erarbeitet und unter Nutzung bzw. Umdeutung alter Selbstverwaltungstraditionen durchgesetzt wurde.

Trotz aller methodischer Einwände und der eigenwilligen Kombination zwischen Hauptteil und Nachwort, die dem Buch den Charakter eines Miniatursammelbandes verleiht, bleibt diese These anregend und innovativ.

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