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Titel
Sex Crimes Under the Wehrmacht.


Autor(en)
Raub Snyder, David
Erschienen
Lincoln, NE. London 2007: University of Nebraska Press
Anzahl Seiten
298 S.
Preis
$ 55.
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Thomas Kühne, Strassler Family Center for Holocaust and Genocide Studies, Clark University

Dass Kriege und Genozide Schauplätze nicht nur gelegentlicher, sondern systematisch eingesetzter sexueller Gewalt sein können, ist seit den 1990er-Jahren durch die Massenvergewaltigungen im früheren Jugoslawien in die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit gerückt und hat seitdem vielfältige Untersuchungen angeregt, die sich mit Susan Brownmillers These von 1975 auseinander setzen, wonach die Vergewaltigung den weiblichen Körper als symbolisches Schlachtfeld von Männern definiert, auf dem der Sieger dem Unterlegenen nicht nur dessen Niederlage als Soldat, sondern auch als Mann, der unfähig, ist seine Frau zu beschützen, demonstriert.1

Im Windschatten dieses Interesses am Zusammenhang von Sexualtät und Gewalt segelt auch Snyders Studie zur Wehrmacht. Sie ist mit drei Handicaps belastet. Erstens damit, dass, anders als noch Susan Brownwiller es wahrhaben wollte (und in ihrem Gefolge manche der kritischen Stimme, die sich in den Holocaust- und Wehrmacht-Debatten der 1990er-Jahre zu Wort gemeldet haben), Massenvergewaltigung nicht zu den genozidalen oder militärischen Strategien des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges zählten. Insbesondere die Wehrmacht verzichtete darauf, schon der antisemitischen und antislawischen Rassenideologie und des Dogmas der Rassenschande wegen, aber auch weil sie um die Wahrung der militärischen Disziplin, der “Mannszucht“, besorgt war. Dies hat Birgit Beck in ihrer 2004 publizierten Untersuchung „Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939-1945“2 auf der Basis der im Bundesarchiv Kornelimünster – allerdings höchst ungleichmäßig – überlieferten Militärgerichtsakten herausgearbeitet. Wenn man Becks Studie gelesen hat, wirkt Snyders Buch – das ist sein zweites Handicap – auf weite Strecken wie eine Reprise, auch wenn er andere Akten, nämlich den (Beck noch nicht zugänglichen) “Bestand Ost”, die erst nach der Wiedervereinigung an das Bundesarchiv gegangenen, früher im Besitz der DDR befindlichen Akten der Wehrmachtjustiz auswertet. Die Vergewaltigung von Frauen in den besetzten Gebieten war zwar durchaus kein Randphänomen. Aber die Militärgerichte der Wehrmacht haben die Strafverfolgung von Soldaten, die der Vergewaltigung oder anderer Sexualdelikte beschuldigt wurden, durchaus ernst genommen. Sie taten dies nicht im Interesse der Opfer, sondern im Dienste der Tätergesellschaft, ihrer Armee und des militärischen Sieges wegen, und vor diesem Hintergrund erklären sich die im Vergleich zu anderen Delikten wie Selbstverstümmelung, Fahnenflucht oder Feigheit vor dem Feind sehr wohlwollenden Urteile und eine generelle Tendenz zur Bagatellisierung sexueller Gewalt.

Noch mehr als Beck richtet sich Snyders Interesse auf die Analyse und Bewertung des Justizapparates der Wehrmacht. Der erste Teil der Untersuchung, fast die Hälfte der Darstellung, handelt dann auch gar nicht von Sexualdelikten, sondern stellt Organisation, Strukturen und Methoden der Wehrmachtjustiz dar. Snyder wartet dabei nicht mit neuen Einsichten auf. Aber indem er auf wohltuend sachliche Weise die deutschsprachige Literatur der 1980er-Jahre, die insbesondere durch die apologetische Position des früheren NS-Juristen Erich Schwinge und deren energische Zurückweisung durch Manfred Messerschmidt und Fritz Wüllner geprägt war3, resümiert und systematisiert, bietet er nicht nur dem anglophonen, sondern auch dem deutschsprachigen Publikum eine konzise Einführung in die komplexe Thematik. Dabei berücksichtigt Snyder auch das in der Literatur sonst meist stiefmütterlich behandelte „Filtersystem“ des Strafvollzugs, dessen Aufgabe es war, sicherzustellen, dass die militärisch brauchbaren Soldaten so früh als möglich und nötig wieder an die Front oder an andere Einsatzorte zurückkehrten.

Der zweite Teil wertet etwas mehr als 400 überlieferte Prozesse in hauptsächlich vier Kapiteln zu Homosexualität, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch und Inzest sowie zu „Rassenschande“ und Sodomie aus. Sexualdelikte schienen, anders als Fahnenflucht, die Kampfkraft der Wehrmacht nur selten wirklich in Frage zu stellen. Insbesondere Soldaten, die sich durch Tapferkeit oder andere militärisch verwertbare Tugenden ausgezeichnet hatten, konnten mit größter Nachsicht der Militärrichter rechnen, gleich ob sie russische, französische oder selbst jüdische Frauen vergewaltigt, sich der Homosexualität, des Inzests oder welcher sexuellen Delikte auch immer schuldig gemacht hatten. Während einerseits der NS-Staat unter dem Druck Himmlers immer schärfere Maßnahmen gegen Homosexuelle ergriff, erweiterte sich in gewisser Hinsicht der Freiraum, den die Wehrmacht gewährte, in dem Maße, wie sich der Krieg radikalisierte.

Snyder lässt keinen Zweifel daran, dass die Wehrmachtjustiz nichts mehr mit rechtsstaatlichen Prinzipien gemein hatte, sondern vollständig dem militärischen Effizienzdenken und der Doktrin der „Kriegsnotwendigkeit“ untergeordnet war; insbesondere die Institution des in der Regel durch den Divisionskommandeur verkörperten „Gerichtsherrn“, der das gesamte Strafverfahren beherrschte, stellte dies sicher. Mit dieser Bewertung verbindet sich eine Absage an die Vorstellung, die Wehrmachtrichter seien ganz oder weitgehend nazifiziert gewesen. Snyders Einschätzung zufolge richtete sich ihr Handeln und Entscheiden nicht an der NS-Ideologie (etwa der rassistischen Volksgemeinschaftsideologie) aus, sondern an militärischen Zielsetzungen – letztlich am Ziel, den Krieg zu gewinnen. Damit rücken die Wehrmachtjustiz und mittelbar die Wehrmacht insgesamt ein Stück weit aus ihrem genozidalen und diktatorialen Handlungskontext heraus – sie taten „nur“, was Soldaten und Militärrichter anderswo auch tun und taten. An diesem Urteil Snyders – wie an dem Bild einer in maßgeblichen Teilen professionellen Armee - sind Zweifel angebracht, weil es einer dichotomischen Vorstellung von Rassenpolitik und Kriegführung aufsitzt, wo es doch dem Nationalsozialismus gerade darum ging, beides, und sei es durch Arbeitsteilung verschiedener Gesellschaftsegmente und Institutionen, zur Deckung zu bringen.

Die dritte Schwäche von Snyders Studie liegt in der Fragestellung und in der Quellenlage begründet. Die Akten, die die Militärjustiz produzierte, lassen die Opfer verstummen, insbesondere jene der sexuellen Gewalt, also die vergewaltigten Frauen. Unter diesem Problem leidet auch Beck’s Arbeit, die allerdings durch die Rezeption von Ansätzen der Kulturwissenschaften und der gender studies immerhin hin und wieder Einsichten in Symboliken und Praktiken sexueller Gewalt vermittelt. Wenn hingegen Snyder dem Leser mit dem Titel des Hauptteils seines Buches „Sex under the Swastika“ zu untersuchen verspricht, so ist die Enttäuschung vorprogrammiert (wie der Autor auch freimütig eingesteht). Weder die einschlägige Literatur zu diesen oder benachbarten Themenfeldern noch die auch die Opfer deutscher Vergewaltigungen im Osten einbeziehende amerikanische Dissertation von Wendy Jo Gertjehannssen sind auch nur im Literaturverzeichnis berücksichtigt.4 Die – nicht gering zu schätzende – Leistung des Buches besteht darin, dem englischsprachigen Leser eine solide, klar gegliederte und geschriebene, auch für die akademische Lehre taugliche Einführung in die Wehrmachtjustiz am Beispiel von Sexualdelikten zu vermitteln.

1 Brownmiller, Susan, Against Our Will: Men, Women, and Rape, New York 1975.
2 Beck, Birgit, Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939-1945, Paderborn 2004.
3 Schweling, Otto Peter, und Erich Schwinge, Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus, Marburg 1978; Messerschmidt, Manfred, und Fritz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987.
4 Gertjejannsen, Wendy Jo, Victims, Heroes, Survivors. Sexual Violence on the Eastern Front during World War II, Ph.D. Dissertation, University of Minnesota, 2004.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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