G. Reuveni u.a. (Hrsg.): Emanzipation durch Muskelkraft

Cover
Titel
Emanzipation durch Muskelkraft. Juden und Sport in Europa


Herausgeber
Reuveni, Gideon; Brenner, Michael
Reihe
Jüdische Religion, Geschichte und Kultur (JRGK) 3
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Elberfeld, Universität Bielefeld

„Vielleicht liegt es an der Unsportlichkeit der heute an der jüdischen Geschichte Interessierten, dass Juden und Sport als Gegensätze wahrgenommen werden.“ (S. 8) Mit diesem an die Adresse seiner Zunft gerichteten, man ist gewohnheitsmäßig schon fast geneigt zu sagen: stigmatisierenden, Verweis beantwortet Michael Brenner die Frage, warum heute die Verbindung von Juden und Sport eher ungewöhnlich erscheint. Der von ihm und Gideon Reuveni herausgegebene und auf einer Münchner Tagung von 2002 beruhende Sammelband hat sich der Aufgabe angenommen, ein anderes Bild jüdischer Geschichte zu zeigen. In der Einleitung umreißt Brenner die zugrunde liegende Perspektive: „Sport diente [...] sowohl als Vehikel der Inklusion wie auch als Mittel der Exklusion, und wurde zum Zwecke der Emanzipation sowohl auf individueller wie auf kollektiver Ebene eingesetzt.“ (S. 8) Die vierzehn Beiträge konzentrieren sich auf Mittel- und Osteuropa, wobei ein Schwerpunkt auf dem deutschsprachigen Raum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt.

Die ersten drei Aufsätze widmen sich Konstruktionen des „jüdischen Körpers“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf dem Zweiten Zionistenkongress 1898 in Basel rief Max Nordau dazu auf, das verlorengegangene „Muskeljudentum“ wieder zu neuem Leben zu erwecken.1 Moshe Zimmermann stellt sich mehr als hundert Jahre später die Frage, was das Antonym des „Muskeljuden“ war und findet es im „Nervenjuden“. Dabei reiht er den Diskurs der Jüdischen Turnerschaft, die den Aufruf Nordaus in die Tat umzusetzen trachtete, in den zeitgenössischen Kontext der Debatten um Degeneration ein. In den Augen der jüdischen Turner war das jüdische Volk bedroht von Degeneration, die sie zurückführten auf das Ghettoleben und die Emanzipation. In der angeblich unter Juden besonders grassierenden Geisteskrankheit der Neurasthenie machten sie ein diesbezügliches Indiz aus. Daniel Wildmann betont in seinem Aufsatz zudem die Funktion der öffentlichen Inszenierung. Indem die Turner bei Vorführungen ihren Körper in einem synchron agierenden Kollektiv zeigten, wurde die Darbietung als ein Indiz für den Erfolg der nationaljüdischen Programmatik gewertet. „Die Turner konnten durch das Turnen zeigen und beweisen, dass ihre Körper regeneriert waren. Die Performanz erzeugte – aus der Perspektive der Turner und des Publikums – Evidenz.“ (S. 34) Gideon Reuveni sieht die langfristige Relevanz der nationaljüdischen Turnbewegung in der Konstruktion eines körperlichen Ideals des Kriegers, was zu einer Militarisierung der jüdischen Gesellschaft über den Sport geführt habe. In diesem Zusammenhang kritisiert Reuveni eine in der älteren Forschung vorzufindende Ansicht einer Übernahme ihnen fremder Körperideale durch Juden. Im Fall der Militarisierung des Sports seien die jüdischen Turner und Sportler einem allgemeinen Trend insbesondere der Zwischenkriegszeit in Deutschland gefolgt bzw. hätten daran partizipiert.

Die Entwicklung der jüdischen Sportbewegung ging einher mit ihrer Ausdifferenzierung. Gerade in der Zwischenkriegszeit, der Blütezeit des jüdischen Sports, wie Jacob Borut in seinem Beitrag zur Weimarer Republik zeigt, kam es zur Gründung verschiedener Vereine und Organisationen. Trennlinien konnten die Haltung zur Religion (säkular, liberal, orthodox) oder Sprache (Jiddisch oder Hebräisch) sein, vor allem waren sie aber politisch-ideologischer Natur. Jack Jacobs zeigt dies für Polen primär anhand eines Vergleichs des Morgnshtern, der dem Sozialistischen Bund nahe stand, und des Gwiazda, der wiederum mit der linkszionistischen Partei Poalei Zion assoziiert war.

Die vielleicht bedeutendste Funktion des Sports bestand in der Bekräftigung eines positiven jüdischen Selbstbildes. So zeigt John Bunzl in seinem Beitrag über Hakoah Wien, wie dessen Fußballverein zu einem „Kristallisationspunkt jüdischen Selbstbewußtseins“ (S. 115) in Österreichs Erster Republik avancieren konnte: „Nur als Hakoah-Mitglied konnte man mit dem Davidstern auf der Brust siegen.“ (S. 117) Dass die Begeisterung für jüdische Sportler eben nicht nur auf Juden beschränkt war, belegt Sharon Gillermann in ihrem Beitrag über Siegmund Breitbart. Dieser war als Kraftmensch zu einer Ikone der Populärkultur der frühen 1920er-Jahre geworden und verkörperte so eine Herausforderung an rassistische Kategorien. Gillermann kann zeigen, wie Breitbarts Körper je nach Publikum anders „gelesen“ wurde und so zum Teil konkurrierende bzw. gegensätzliche Bedeutungen erhielt. Auch in der Zeit der Verfolgung und Vernichtung durch das nationalsozialistische Deutschland konnte der Sport seine identitätsstiftende und -wahrende Funktion übernehmen, wie Albert Lichtblau bezüglich der Gründung einer jüdischen Fußballliga seitens jüdischer Flüchtlinge in Shanghai und Phillipp Grammes bezüglich des Sports in den „Displaced Persons“-Lagern der unmittelbaren Nachkriegszeit vor Augen führen.

Sport konnte für Juden aber auch zu einem Ort der Exklusion werden. So untersucht Michael John den Antisemitismus im österreichischen Sport der Ersten Republik, der sich insbesondere seit Einsetzen der Weltwirtschaftskrise zusehends in körperlichen Angriffen manifestierte. Gerade die jüngere Generation jüdischer Sportler reagierte hierauf mit der Organisierung jüdischer Selbsthilfe. Ausgehend von der Erörterung dieser gewalthaften Zusammenstöße kritisiert John das in der Geschichtswissenschaft einflussreiche Modell des Antisemitismus als kulturellem Code, wie es Shulamit Volkov entwickelt hat.2 Dieses sei nur in der Lage antisemitische Stereotype, also die Ebene kultureller Zuschreibungen, zu analysieren – konkrete, physische Aktionen blieben jedoch ausgeblendet. Zwar ist John insofern zuzustimmen, als Volkovs Modell in der Forschung vorrangig hierzu herangezogen wird. Zugleich basiert die Kritik Johns auf der Annahme eines fundamentalen Gegensatzes zwischen kultureller Repräsentation und konkreten sozialen Praktiken. Dies kann freilich theoretisch, etwa mit Bezug auf Pierre Bourdieu oder Michel Foucault, hinterfragt werden, denn schließlich ist auch eine antisemitische „Judenhatz“ Teil eines kulturellen Systems bzw. Diskurses. Rudolf Oswald untersucht die nationalsozialistische Judenverfolgung im Hinblick auf die Zerstörung des mitteleuropäischen Profifußballs zwischen 1938 und 1941. Diese sei eingebunden gewesen in einen bereits zuvor wirksamen Sport-Diskurs, der unter Bezugnahme auf kulturkritische Momente das Amateurwesen zum Ideal des Sports erklärte und das Profiwesen entschieden ablehnte. Die Beiträge von Tony Collins zum Antisemitismus im englischen und von Victor Karady und Miklós Hadas im ungarischen Sport können hier leider nicht ausführlich behandelt werden.

Ein paradoxes Thema haben sich die Herausgeber für den Schluss aufgehoben. John Efron untersucht darin das Phänomen einer sich jüdisch inszenierenden Fankultur beim englischen Fußballverein Tottenham Hotspurs, dessen mehrheitlich nicht-jüdische Anhänger sich selber als „Yiddos“ bezeichnen. Die Besonderheit im Vergleich zu ähnlich umkämpften Begriffen wie „Queer“ oder „Nigger“ sieht er jedoch darin, dass sich hier nicht die Angehörigen einer semantisch stigmatisierten Gruppe, sondern eigentlich davon nicht betroffene Angehörige der Mehrheitsgesellschaft unter einer pejorativen Identitätszuschreibung zusammenfinden. Efron verortet diesen „rhetorischen Code-Wechsel“ (Eco) sehr überzeugend im Kontext der britischen Fußballkultur einerseits und gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen, die auch vor den Stadiontoren nicht Halt machten, wie dem Erstarken der neo-faschistischen National Front und ihrer Mitgliederwerbung auf den Rängen, andererseits. Etwas verkürzt erscheint leider nur die Deutung des Phänomens, in der letztendlich die „Yiddos“ für die Hervorbringung der Antisemiten im Stadion verantwortlich seien.

Alles in allem ist den Herausgebern ein sehr interessanter und größtenteils kohärenter Sammelband über ein noch nicht ausreichend erforschtes Thema gelungen, dessen Relevanz hiernach unbestritten sein wird. Zwei Kritikpunkte eher grundsätzlicher Natur sind noch zu erwähnen. Zum einen bezieht sich dies auf die im Titel vorgegebene Perspektive auf Emanzipation, die, abseits von einer grundsätzlichen Skepsis jenem teleologischen Großbegriff gegenüber, auch innerhalb der einzelnen Beiträge nur schwer zu begründen ist, da sie die unterschiedlichen Strategien und Ziele jüdischer Akteure bezüglich der gesellschaftlichen Funktion des Sports vereinheitlicht und die nicht zu leugnenden exkludierenden Effekte bis hin zu antisemitischen Gewalttaten, zumindest programmatisch, an den Rand drängt. Zum anderen hätte sich gerade bei dem Thema Sport eine stärkere Bindung an Theorien, Methoden und Fragestellungen der Körpergeschichte angeboten. Als Beispiel sei nur auf den Komplex der Subjektivierung qua Arbeit am Körper verwiesen, der etwa die Fixierung auf kollektive Identität gelockert hätte.

Anmerkungen:
1 Vgl. Nordau, Max, Zweite Kongressrede (Basel, 28. August 1898), in: Zionistisches Aktionskomitee (Hrsg.), Max Nordau’s Zionistische Schriften, Köln u.a. 1909, S. 58-76.
2 Vgl. Volkov, Shulamit, Antisemitismus als kultureller Code, in: dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, S. 13-36.

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