Titel
Institution und Utopie. Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne


Autor(en)
Bogusz, Tanja
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uta Karstein, Kultursoziologie, Universität Leipzig

Wer sich in den 1990er-Jahren als Kulturinteressierter in Berlin aufhielt, kam an der Volksbühne, dem Theater am Rosa-Luxemburg-Platz im ehemaligen Ostteil Berlins, nicht vorbei. Binnen weniger Jahre mauserte es sich unter der Intendanz Frank Castorfs zur Trend setzenden Kulturinstitution, die weit über das eigentliche Theaterfeld hinaus ihre Wirksamkeit entfaltete. Mit ihren Inszenierungen und Veranstaltungen stand die Volksbühne nicht nur für hochkarätiges, zeitgenössisches und politisches Theater, sondern auch für eine mit den Mitteln der Ästhetik artikulierte Alternative jenseits bedingungsloser Anpassung an die neue Gesellschaftsordnung und der Konservierung einer untergegangenen Kultur. Damit symbolisierte sie nicht zuletzt den Rhythmus einer Stadt, in der sich ost- und westdeutsche Einflüsse zu einem neuen Lebensgefühl verdichteten, und der ein selbstgerechter Fatalismus genauso suspekt war wie die alten und neuen kapitalistischen Verheißungen.

Warum aber konnte gerade dieses Ostberliner Theater, „dessen ostdeutsche Leitung sich unübersehbar auf seine realsozialistische Herkunft bezog, eine derartige Anziehungskraft auf einen Kulturraum ausüben, in dem das Ende der DDR zum konstitutiven Bestandteil gesellschaftlicher Wirklichkeitsorganisation erhoben wurde“ (S. 12)? Dieser Frage geht die jüngst veröffentlichte Dissertation der Soziologin Tanja Bogusz nach und greift damit ein in der Zeitgeschichte wie der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung bislang randständiges Themenfeld auf. Gegenüber bisherigen theaterwissenschaftlichen und journalistischen Publikationen1 liegt das spezifische Potential dieser kultursoziologischen Analyse zunächst darin, den Einzelfall „Volksbühne“ in einen größeren analytischen Zusammenhang zu stellen und ihn mit der Rekonstruktion des sozialistischen wie kapitalistischen Feldes der Kulturproduktion zu verknüpfen. Aus deren unterschiedlichen Feldlogiken, vor allem aber aus deren je spezifischen Utopiekonzepten heraus, so die These des Buches, entwickelte die Volksbühne eine ästhetische Praxis, die in den 1990er-Jahren Maßstäbe setzte. Denn das Primat der Abweichung, das von Pierre Bourdieu auch als „institutionalisierte Anomie“2 bezeichnet wurde, und das seit der Entstehung des Kunstfeldes als dessen zentrales Charakteristikum gelten kann, habe an der Volksbühne nach 1989 unter dem Einfluss ihrer ost- wie westdeutschen Protagonisten eine neue, produktive Re-Formulierung erfahren, so Bogusz.

Im ersten Teil der Arbeit werden die theoretischen und historischen Ausgangsbedingungen, die das soziale und ästhetische Profil des Theaters kennzeichnen, einer einführenden Betrachtung unterzogen. Nachgezeichnet wird die Entstehung eines relativ autonomen Feldes der Kunstproduktion im Frankreich des 19. Jahrhunderts, dessen dort etablierter Professionsethos und typische Spannungslinien bis heute die „Rahmenbedingungen künstlerischer Selbstsicht und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung“ (S. 17) darstellen. Rekonstruiert werden auch die kulturphilosophischen und soziologischen Debatten, die diesen Prozess und seine Auswirkungen theoretisch reflektierend begleiteten. Neben der Diskussion der kulturtheoretischen Ansätze Ernst Cassirers, Georg Simmels, Max Webers und Georg Lukács ist vor allem die Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu instruktiv. Dessen Feldkonzept wird ebenso kritisch wie konstruktiv gegen den Urheber selbst und seinen zuweilen deutlich hervortretenden Strukturdeterminismus gewendet. Demgegenüber werden die dynamischen, offenen Aspekte des Feldkonzeptes hervorgehoben und für die weitere Analyse fruchtbar gemacht. Damit verbunden ist eine weitergehende Diskussion der für das Feld der Kulturproduktion zentralen „Paradigmen Anomie, Utopie und Institution“ (S. 18), in der die Autorin neben klassischen Anomie- und Institutionentheoretikern wie Émile Durkheim, Robert K. Merton und Arnold Gehlen auch auf neuere Ansätze wie den von Cornelius Castoriadis Bezug nimmt. Dessen Institutionentheorie zeichnet sich durch eine starke anti-strukturalistische Stoßrichtung aus und betont statt der ordnungsleistenden Mechanismen vor allem die Bedeutung von Abweichung als schöpferischem, zukünftige Ordnungen „instituierendem“ Phänomen.3 Abweichungen, so folgert Bogusz, wohne demnach immer auch ein utopisches Potential inne. Bourdieus Rede vom Feld als einem „Raum der Möglichkeiten“ erhält auf diese Weise eine Präzisierung, die sie bislang vermissen ließ.

Im Anschluss an diese theoretische Rahmung beschäftigt sich das zweite Kapitel mit der spezifischen Verfasstheit des kulturellen Feldes im Staatssozialismus, seinen Veränderungen im Laufe der Jahre und dem Professionsethos, das es unter den Kulturproduzenten hervorgebracht hat. Aufgearbeitet und zum Teil ausführlich diskutiert werden die widerstreitenden Positionen der russischen Avantgarde und der marxistischen Ästhetik Georg Lukács, die das postrevolutionäre Kunstfeld der Sowjetunion prägten und auf diese Weise auch für das Kunstfeld der späteren DDR orientierungsleitend wurden. Dessen Merkmal war eine hohe Wertschätzung der Kunst bei gleichzeitiger Aufhebung ihrer Autonomie. Letztere wurde durch ein höfisch-akademisches Auftragsmodell abgelöst. Den Kunstschaffenden wurde Prestige und soziale Absicherung geboten, im Gegenzug erwartete man ihre Unterstützung bei der Verbreitung und symbolischen Legitimation der sozialistischen Idee. Das für das Kunstfeld sonst so zentrale Merkmal der permanenten symbolischen Revolution durch die jeweiligen Avantgarden wurde ausgehebelt. Damit erübrigten sich jedoch keineswegs auch die Autonomieansprüche der Kunstschaffenden. Die für sowjetische, aber auch das ostdeutsche Kunstfeld typische Gegensatzspannung verlief entsprechend zwischen einem „(autonomen) Gestaltungswillen und einem (kollektiven) Gestaltungszwang“ (S. 105). Bogusz arbeitet die Entstehung einer neuen Sozialfigur des Kulturproduzenten heraus, der sich durch eine besondere „Kunst der Aushandlung“ gegenüber dem Politischen auszeichnete und sich dabei seiner Macht durchaus bewusst war.

Im dritten Kapitel werden dann diese allgemeinen Charakteristiken für das Theaterfeld der DDR spezifiziert und mit den Produktionsbedingungen und Reproduktionslogiken des westdeutschen Theaterfeldes kontrastiert. Trotz der zweifellos vorhandenen Differenzen liegt der Autorin viel daran, auch die strukturellen Parallelen herauszuarbeiten. Diese Suche nach Wahlverwandtschaften nimmt auch im vierten Kapitel einen prominenten Platz ein. In ihm geht es um die Volksbühne selbst, ihre Stellung im Gesamtberliner Theaterfeld und um einige ihrer Hauptakteure. Nachgezeichnet werden die sozialen Laufbahnen der Ostdeutschen Frank Castorf (Intendant) und Bert Neumann (Bühnenbildner) sowie der Westdeutschen Christoph Schlingensief und René Pollesch (Regisseure), wobei der Genese ihrer spezifischen Arbeitsansätze besondere Aufmerksamkeit zukommt. Alle vier standen bis 1989 für jeweils „typische“ Positionen innerhalb des sozialistischen und kapitalistischen Feldes der Kunstproduktion, die sie vor unterschiedliche Herausforderungen stellten und die sie je spezifische Strategien und Professionsethiken entwickeln ließ. Allerdings sieht die Autorin auch wesentliche Überschneidungen oder – mit Bourdieu gesprochen – „Homologien“, auf denen die erfolgreiche Zusammenarbeit der Akteure an der Volksbühne gründet und die sich in den 1990er-Jahren am Haus zu einer „institutionellen Leitidee“ verdichten. Denn die von allen Akteuren vollzogenen Abweichungsbewegungen innerhalb ihrer jeweiligen Felder fungierten, so die These Bogusz, als „projektive Praktiken der Instituierung von Grenzexistenzen [...], deren anomische Intentionen im Zuge ihrer Institutionalisierung“ (S. 232) an der Volksbühne in den 1990er-Jahren erfolgreich transformiert wurden. Als „Spezialisten für den Aufbau kultureller Gegensatzspannungen“ etablierten die Akteure ein „multipolares Spannungsgefüge“ (S. 273) an der Volksbühne und eine Praxis der (ästhetischen) Dauerreflexion über den Utopieverlust und den „Einbruch des Realen“, die die anomischen Ausgangsbedingungen erfolgreich verstetigte. Darin, so die Autorin, liegen ihre spezifische Leistung und das Alleinstellungsmerkmal der Volksbühne.

Insgesamt handelt es sich bei der Dissertation von Tanja Bogusz um eine anspruchsvolle und komplex argumentierende Studie, in der Feldforschung, Zeitgeschichte und Theoriearbeit eine gelungene Synthese eingehen. Unzulänglichkeiten, wie der zuweilen unklar gebrauchte Diktatur-Begriff schmälern den positiven Gesamteindruck nicht nachhaltig. Gefragt werden kann allerdings, ob die Volksbühne bzw. die dort beobachteten Phänomene tatsächlich so einzigartig sind, wie Bogusz glaubt. Nicht nur Künstler, auch Funktionseliten anderer Felder hatten die Grenzen des Staatssozialismus schon vor 1989 ausgelotet, abweichende Praktiken – wenn nicht erprobt, so doch imaginiert – und konnten dieses Wissen später erfolgreich transformieren. Eine weitergehende Debatte über die Generalisierbarkeit der Befunde scheint mir daher ein lohnenswertes Unterfangen zu sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Detje, Robin, Castorf. Provokation aus Prinzip, Berlin 2002; sowie Irmer, Thomas; Müller, Harald, Zehn Jahre Volksbühne – Intendanz Frank Castorf, Berlin 2003.
2 Bourdieu, Pierre, Die Regeln der Kunst, Frankfurt am Main 2001, S. 216.
3 Mit dem Begriff „Instituierung“ bezeichnet Castoriadis eine Art Proto-Ebene von Institutionalität, die als projektierende Handlungsform die Möglichkeit einer Institutionalisierung in sich trägt, dieser aber vorgelagert ist. Vgl. Castoriadis, Cornelius, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt am Main 1990.

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