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Titel
Lehrerlager 1932-1945. Politische Funktion und pädagogische Gestaltung


Autor(en)
Kraas, Andreas
Erschienen
Bad Heilbrunn 2004: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Hettling, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Um es gleich vorweg zu sagen: Andreas Kraas hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben, das Aufmerksamkeit verdient. Die historische Forschung zum Nationalsozialismus hat das Thema „Volksgemeinschaft“ in der letzten Zeit mehr und mehr in der engen Verbindung zur nationalsozialistischen Gewalt erfasst. Hieraus erwuchsen neue Erkenntnisse über den Nationalsozialismus.1 Kraas' Studie ist als bahnbrechende Arbeit zur Indoktrinierung von Funktionsträgern der Gesellschaft wie zur nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ zu lesen – gerade, weil er einen anderen Schwerpunkt setzt. Bei ihm steht nicht die Gewalt im Vordergrund, sondern der Erziehungsanspruch und die Erziehungsmethoden des Nationalsozialismus.

Nicht nur die Gewalt fungierte vor und nach 1933 als Mittel der Sozialisation, als Feld der Bewährung, als Motor der Gruppenbindung. Daneben erhofften viele von der nationalsozialistischen Bewegung eine 'innere Läuterung' und versuchten, die Bevölkerung umzuerziehen. Was Moeller van den Bruck als innere Auferstehung beschrieben hatte2, motivierte Pädagogen, Philosophen, Ideologen und andere Volkspädagogen zu zahllosen Erziehungsphantasien.3 Das ist nicht als umfassendes, durchdachtes nationalsozialistisches Konzept zu verstehen, auch wenn etwa Baldur von Schirach gerade die Hitlerjugend immer wieder als Erziehungsmedium beschwor. Vielmehr standen viele heterogene und auch gegensätzliche Konzeptionen nebeneinander, und lange Zeit einflussreiche Pädagogen wie Krieck sollte man weder intellektuell noch politisch überschätzen. Dennoch sind gerade die frühen Jahre der nationalsozialistischen Gesellschaft ohne diese heterogenen Versatzstücke einer utopischen, einer anderen Gesellschaft nicht hinreichend zu verstehen. Auch die Mobilisierungsfähigkeit des Regimes und die Mobilisierungswilligkeit breiter Kreise lassen sich ohne dieses zwiespältige Angebot einer Erziehung zur Volksgemeinschaft wohl nicht hinreichend verstehen.

Kraas Studie macht deutlich, dass beim Begriff „Lager“ im Nationalsozialismus nicht nur an Konzentrationslager gedacht werden sollte. Er untersucht das Lager als spezifischen Ort der „Menschenformung“ (Krieck), als Erziehungsmittel, welches mehrere Funktionen ausfüllen sollte. Historisch gesehen hatte die Jugendbewegung das Lager entdeckt. In Weimar waren vor allem im Arbeitsdienst massenhaft Lager entstanden – jedoch nicht primär in repressiver Absicht, sondern in sozialisierender.4 Der Nationalsozialismus übernahm das Lager als Erziehungsinstrument, veränderte jedoch zentrale Elemente. Die „Integrationslager“ (S. 14), wie Kraas sie nennt, waren zivile Lager, denen militärische Ordnung und Hierarchie aber nicht fremd waren.

In der nationalsozialistischen Ordnung setzten die neuen Machtträger nicht unbedingt auf neue Regelungen und Verordnungen, sondern – gerade in den frühen Jahren – auf eine Umerziehung der Bevölkerung. „Ihr müßt etwas anderes werden, als ihr wart“, verkündete Erziehungsminister Bernhard Rust den Lehrern. Nicht neue Lehrpläne sollten den neuartigen Unterricht herbeiführen, sondern die im Lager veränderten Lehrer. Rust proklamierte in diesem Sinne, den Sommer für die Lager freizuhalten und in ihnen die Lehrer „wissenschaftlich, wehrsportlich und nationalpolitisch zu überholen“ (S. 69). Derartige Lager für die Volksgenossen gab es nicht nur für die Jugend in der HJ, sondern für viele Teilgruppen – etwa auch für Beamte, Hochschullehrer und Journalisten.

Indem Kraas sich auf Lehrerlager konzentriert, gelingt es ihm, den Anspruch der Lager, die institutionelle Gliederung und Differenzierung sowie die internen Funktionsmechanismen detailliert und mit scharfem analytischen Blick zu erfassen. Er untersucht nicht nur die Lager des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB), sondern ebenso die von staatlichen oder halbstaatlichen Organisationen. Er fragt nach den Erziehungszielen in den Lagern, nach den Inhalten und dem Stellenwert der nationalsozialistischen „Schulung“. Dadurch gelingt es ihm auch, die Verbindung von ideologischer Schulung und fachlicher Qualifizierung genau zu erfassen. Die Lager dienten letztlich ebenso der Auswahl von Führungspersonal. Die Schulungen sollten einerseits möglichst breite Kreise der Bevölkerung erfassen, zugleich aber diente die Auslese als Mittel um Führungsnachwuchs zu rekrutieren.

Kraas skizziert nach einer knappen Einleitung zuerst Veränderungen der Ansprüche an das Lager und der Konkretisierung von Lagern vom Arbeitsdienst hin zu den nach 1933 entstehenden Lehrerlagern. Anschließend analysiert er im Hauptteil in sechs Kapiteln die Lehrerpädagogik (Organe, Institutionen und Selbstverständnis), die oft konkurrierende Lagerschulungen des Zentralinstitutes und damit des Reichserziehungsministeriums einerseits und des NSLB andererseits, sowie schließlich die Lagererfahrung. Letzteres stellt den – gelungenen – Versuch dar, mit Hilfe von Berichten und Lagerzeitungen die Wahrnehmung der Lagerinsassen zu analysieren. Durchaus wohlwollende Bereitschaft, sich auf die Volksgemeinschaft zu beziehen, rieb sich dabei oft an der Monotonie des Lageralltags und der Begrenztheit des Schulungsangebots.

Überzeugend ist die differenzierte Analyse des Lagers als intendierter zentraler Sozialisationsinstanz im Nationalsozialismus. Kraas hebt hervor, dass im Verständnis des Nationalsozialismus die „Kolonne“, das heißt die Kampf- und Schlägerverbände der SA und anderer Organisationen als Erziehungsform der „Kampfzeit“ verstanden wurde, dass im nationalsozialistischen Staat nach 1933 jedoch das „Lager“ eine NS-spezifische und privilegierte Erziehungsform darstellte (S. 112). Zwischen 1933 und 1935 habe sich der Übergang vollzogen – im Lager sollte der einzelne jene außeralltägliche Gemeinschaft erleben, die im Verständnis vieler Nationalsozialisten grundlegend war, um zum weltanschaulich gefestigten Volksgenossen zu werden. Organisationsprinzip des Lagers hierfür war die „arrangierte Ausnahmesituation“. Das Lager führte die Einzelnen aus der beruflichen, familialen und sozialen Umwelt heraus, konzentrierte die Insassen meist fern der Städte in der Natur, uniformierte die Bekleidung auf einfachem Niveau, um jede Hinweise auf die gewohnte soziale Stellung zu verbergen und zwängte die Teilnehmer in einen strikt geregelten Tagesablauf, der weit mehr Augenmerk auf physische Anstrengung als auf intellektuelle Stimulierung legte. Ritualisierungen mit Musik und Singen, mit Feiern und Inszenierungen wie Fahnenappellen suggerierten mehr eine ideologische Überhöhung, als dass sie wirklich als Sinnangebote aufgegriffen werden konnten.

Diesem Organisationsprinzip lag ein differenziertes Verständnis von Schulung zu Grunde, das sich – im Unterschied etwa zur Propaganda – nicht wahllos an alle richtete sondern gezielt einzelne Teilgruppen der Bevölkerung und durchaus auch dem Nationalsozialismus Nahestehende anzusprechen versuchte. Hierbei gab es deutliche Unterschiede zwischen dem staatlichen Ministerium und dem NSLB. Rusts Intention ging dahin, möglichst alle Erzieher in Lager zu führen, um hier eine Massenschulung durchzuführen und eine allgemeine 'Überholung' des Personals herbeizuführen. Im NSLB hingegen zielte man weit mehr auf eine „Auslese“ der Lehrer; das Lagersystem wurde in verschiedene Stufen differenziert und sollte einen gegliederten Aufstieg des Führungsnachwuchses strukturieren.

Auch wenn vieles an den nationalsozialistischen Vorhaben mit dem „Lager“ Absicht blieb oder an Konkurrenzen der verschiedenen Teilinstitutionen scheiterte, erweist sich in Kraas' Studie das Lager als Zugriff auf die nationalsozialistische Utopie der Volksgemeinschaft dennoch als äußerst fruchtbar. In einem prägnanten Teilaspekt wird deutlich, wie sehr der Nationalsozialismus nicht nur auf Gewalt setzte und beruhte, sondern auch auf die Erziehung bzw. Umerziehung der Volksgenossen. Das Ziel nationalsozialistischer Formationserziehung war eine „Formationserziehung“, welche einerseits die Organisation von Gemeinschaft, die Formation als Mittel der Erziehung zu nutzen suchte und andrerseits auf Formierung, auf Prägung zielte. Angestrebt wurde nicht eine individuelle Entwicklung, sondern eine Typisierung, die man durch Haltung zeigte.

Als Fazit bleibt: Kraas hat eine äußerst materialreiche, akribisch gearbeitete sowie methodisch reflektiert argumentierende Studie vorgelegt, welche als empirisches Beispiel für die von Broszat so genannte „populistische Attraktivität des Nationalsozialismus“5 gelesen werden kann, in welcher die widersprüchlichen Ansprüche und Maßnahmen des Nationalsozialismus ebenso analysiert werden wie auch die widersprüchlichen Situationen und Wahrnehmungen von Teilnehmern. Das „Lager“ war in seiner pädagogischen Gestaltung teilnehmerorientiert, nicht aber in seiner politischen Funktion und seinen ideologischen Zielen. Das öffnete Möglichkeiten der Mobilisierung6, begrenzte aber auch die zu erzielenden Sozialisationserfolge. Je mehr der Nationalsozialismus sich im Laufe der Jahre etablierte, desto mehr setzte er auf andere Mechanismen, insbesondere Gewalt.

Anmerkungen:
1 Wildt, Michael, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007.
2 Moeller van den Bruck, Arthur, Das dritte Reich, Hamburg 1931, S. 21: „Unsere Revolution beginnt erst: sie, die als Aufstand herauskam, der den Staat umwarf, beginnt mit der Auferstehung, die in den Menschen geschieht.“
3 Vgl. etwa Ehrhardt, Johannes, Erziehungsdenken und Erziehungspraxis des Nationalsozialismus, Diss. Berlin 1968.
4 Vgl. die Hinweise bei Patel, Kiran Klaus, „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933-1945, Göttingen 2003; Kock, Gerhard, „Der Führer sorgt für unsere Kinder ...“. Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg, Paderborn 1997.
5 Broszat, Martin, Pladoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus (1985), in: ders., Nach Hitler, München 1988, S. 266-281, hier S. 276.
6 Vgl. etwa die retrospektive Beschreibung bei Maschmann, Melitta, Fazit, Stuttgart 1963, S. 38-41.

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