E. Pollock: Stalin and the Soviet Science Wars

Cover
Titel
Stalin and the Soviet Science Wars.


Autor(en)
Pollock, Ethan
Erschienen
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 29,98
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Beyrau, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Eberhard Karls Universität Tübingen

Mit seiner Monographie nimmt Ethan Pollock, Assistenzprofessor an der Brown University/Providence RI, ein Thema auf, das seit den Wendungen zur Sozial- und dann zur Kulturgeschichte obsolet zu sein schien. Es geht um die großen ideologischen Debatten in der Sowjetunion nach 1945. Nach dem Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ und nach der Expansion des „Friedenslagers“ sowie in der Konfrontation mit den USA schien es, als ob zentrale Bausteine des Marxismus-Leninismus neu gehauen und zementiert werden müssten. Sie hatten den inzwischen kanonischen „Kurzen Lehrgang. Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ von 1938 zu ergänzen. Denn der Marxismus war spätestens seit den 1930er-Jahren zu einem Ensemble katechetischer Lehrsätze geronnen, die nun durch Einsichten in neue „Wahrheiten“ und „Gesetzmäßigkeiten“ zu ergänzen und modifizieren waren.

In der Monographie werden folgende Debatten untersucht: die Auseinandersetzungen um ein Lehrbuch zur westeuropäischen Philosophie von Georgi Aleksandrow 1946/47 (Kap. 2), der Streit um Trofim Lyssenkos Agrobiologie und die berüchtigte Sitzung der Landwirtschafts-Akademie im Juli/August 1948 (Kap. 3), die Debatten im Vorfeld der nicht zustande gekommenen unionsweiten Konferenz der Physiker und Mathematiker 1948 und 1949 (Kap. 4), die Entthronung des Sprachwissenschaftlers Nikolai Marr durch Stalins Schrift über „Marxismus und Sprachwissenschaft“ aus dem Jahre 1950 (Kap. 5), die Kämpfe um das „richtige“ Erbe des Physiologen Iwan Pawlow 1949 bis 1950 (Kap. 6) und schließlich die Suche nach einer angemessenen Erklärung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus. Diese Suche hatte schon 1941 eingesetzt (Kap. 7).

Der Wissenschaftshistoriker Aleksei Kojewnikow hatte seiner Zeit mit Blick auf diese öffentlichen Diskussionen von „Spielen der innerparteilichen Demokratie“ gesprochen, deren Regeln auf die weitere Öffentlichkeit übertragen worden seien.1 Die Spielregeln dieser Debatten bestanden nach Kojewnikow darin, dass sie – jedenfalls für die Beteiligten – intransparent waren. Das Regelwerk schien zwar bekannt zu sein, aber die Resultate blieben unvorhersehbar. Um die Regeln dieser Debatten zu erkunden, untersucht Ethan Pollock folgende Ebenen – und die entsprechenden (Archiv-)Materialien: Anhand der Dokumente des Zentralkomitees (ZK) und hier besonders der Abteilung für Agitation und Propaganda (unter Andrei Schdanow) und ihrer Wissenschaftssektion (unter Juri Schdanow) sowie anhand der persönlichen Nachlässe maßgeblicher Parteisekretäre können die Steuerung bzw. die Begleitung der öffentlichen Diskussionen durch Stalin und das ZK rekonstruiert werden. Mit der Auswertung von Materialien wissenschaftlicher Einrichtungen und besonders der Publizistik lässt sich auch der weitere Kontext von Debatten unter Wissenschaftlern einschließlich „direktiver“ Beiträge erfassen.

Die rhetorischen Standards, das „bolschewistische Reden“ der Diskursteilnehmer, waren schon seit den 1930er-Jahren eingeübt. Hinzukamen nach dem Krieg der russozentrische Nachkriegspatriotismus, später noch der „Antikosmospolitismus“ und im weiteren Sinne die Stereotype des Kalten Krieges. Sie strukturierten den allgemeinen Hintergrund, die Tonart und in mancher Hinsicht auch die Themen öffentlicher Debatten. In allen hier behandelten Wissensfeldern ging es den Teilnehmern um „Wahrheiten“ und „Gesetzmäßigkeiten“, die mit einer manchmal schon kultischen Verehrung einzelner Wissenschaftler und immer auch Stalins als unumstößlichen Autoritäten einhergingen. Es konnte hierbei um ihre Bestätigung, wie im Falle der physiologischen Lehren Pawlows, aber auch um den Sturz einer Autorität wie im Falle Nikolai Marrs gehen.

Die Durchsicht der Materialien des Zentralkomitees und der persönlichen Nachlässe erlaubt es Ethan Pollock, neben der Skizzierung der einzelnen Diskursfelder ihre Verquickung mit den Machtspielen im ZK selber nachzuzeichnen. Dies schloss nicht aus, dass es Stalin und den Schdanows zugleich um neue Justierungen im Spannungsfeld zwischen den eigenen politischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, den tradierten Dogmen des Marxismus-Leninismus und wissenschaftlichen „Wahrheiten“ ging. Das Ziel war ihre Amalgamierung in einem in sich stimmigen Wissenskosmos.

Den Autor interessieren nun in besonderer Weise die politische Beobachtung, Begleitung und die Interventionen Stalins und seiner Beauftragten. Diese teils öffentlichen, teils konspirativen Aktionen werden mit dem Machtkampf zwischen den Cliquen um Andrei Schdanow und um Georgi Malenkow sowie Lawrenti Berija, den für Wirtschaft und Rüstung verantwortlichen Parteisekretären in Beziehung gesetzt. Auf den Schlachtfeldern um die richtige Einordnung der westlichen (deutschen) Philosophie vor Marx, um die Deutung der Quantenmechanik und Relativitätstheorie und wohl auch um den Nutzen von Lyssenkos Agrobiologie verlor Schdanow seinen bis dahin „direktiven“ Einfluss in Fragen der Ideologie. Interessanter als diese in den Grundzügen bekannten Machtspiele ist die Nachzeichnung der unterschiedlichen Strategien und Techniken auf Seiten Stalins und des ZK, Debatten anzustoßen, aufzunehmen, zu begleiten, zu steuern und eventuell zu intervenieren. Hier belegt Ethan Pollock die Vielfalt von Steuerungsinstrumenten und damit indirekt die mangelnde Transparenz der Debattenverläufe, wenn nicht von vornherein die Stellungnahmen Stalins oder anderer Autoritäten erkennbar waren.

Im Falle der Mathematiker und Physiker wurde vor allem hinter den Kulissen agiert. Daran waren Wissenschaftler aus dem Umfeld der Atomprojekte ebenso beteiligt wie Wissenschaftsfunktionäre, Berija und Stalin. Obwohl Andrei Schdanow und wohl auch Stalin eher mit den ideologischen Heißspornen der Moskauer Universität sympathisierten, die Quantenmechanik und Relativitätstheorie für (jüdisches) Teufelswerk hielten, soll Stalin schließlich mit Blick auf das Gelingen des Atombomben-Projektes befohlen haben, die – zumeist jüdischen – Physiker in Ruhe zu lassen: „Wir können sie später erschießen“. (S. 91) Offen mischten sich die für Ideologie zuständigen Parteisekretäre in die Philosophie-Diskussionen ein, während Stalin seine Meinung in den Auseinandersetzungen um die Agrobiologie erst ganz am Schluss der Debatte preisgab, dies aber zugleich mit einer ideologischen Belehrung Lyssenkos verband. Die Diskussionen um das Erbe Pawlows wurden geradezu konspirativ gesteuert, während sich Stalin in den Fragen der Sprachwissenschaften und noch mehr in denen der ökonomischen „Gesetze“ des Sozialismus in unterschiedlichem Grade als gleichberechtigter Partner der Öffentlichkeit präsentierte.2 Es versteht sich von selbst, dass Stalins Bescheidenheitsattitüde schon habituell in kultische Ergebenheitsadressen mündete, und dass öffentliche Kontroversen nach seinen Verlautbarungen ihr Ende fanden, wie es das kodifizierte Verhalten in der Partei vorschrieb.

Die Darstellung des Umgangs mit öffentlichen, für die Neuformierung des Marxismus-Leninismus wichtigen Themenfeldern seitens des ZK und Stalins gewähren neue Einblicke in das Verhältnis von Steuerung und Eigendynamik bei der Herausbildung des ideologischen Systems im Spätstalinismus. Man vermisst ein wenig Fragen nach ihrem Stellenwert und der Bedeutung für das Herrschaftssystem und seine Legitimation. Ethan Pollock begnügt sich mit dem zweifellos richtigen Hinweis, dass Stalin als Theoretiker ernst genommen werden wollte und ernst genommen werden sollte. Wie das Beispiel der mit Rücksicht auf das Atomprojekt weitgehend unterbundenen Diskussionen um die Relativitätstheorie und Quantenmechanik belegen soll, habe auch Stalin anerkennen oder wenigstens hinnehmen müssen, dass ideologische Gewissheiten und wissenschaftliche „Wahrheiten“ auseinander fallen konnten (S. 221). Hierin wird eine erste Bruchstelle gesehen, die zu späteren offeneren Konflikten zwischen Physikern wie Sacharow und der Partei führten. Die Versuche, neue wissenschaftliche Erkenntnisse in Übereinstimmung mit Grundannahmen des Marxismus-Leninismus zu bringen, blieben aber nach 1953 für die Mehrheit der wissenschaftlichen Milieus maßgeblich. Ihre Einsichten veränderten sich in der Zeit des Tauwetters nur wenig und wurden von Generationen von Parteigenossen, Schülern und Studenten gepaukt. Diese mit dem Ausbau des Parteischulungswesens und des Unterrichtsfaches Marxismus-Leninismus an Schulen und Hochschulen nach 1945 verbundenen Aspekte interessieren Pollock zwar nicht, aber sie machen die folgenreiche Bedeutung und den historischen Stellenwert der spätstalinistischen Diskurse und ihrer Resultate aus. Hierin sehe ich trotz einiger Modifikationen, die nach 1953 in den ideologischen „Überbau“ eingefügt wurden, die eigentliche Bedeutung der Diskussionen im Nachkriegs-Stalinismus.

Insgesamt liegt mit Ethan Pollocks „Stalin and the Soviet Science Wars“ eine beeindruckende Studie vor. Ihren Gewinn sehe ich vor allem in der Untersuchung des Umgangs Stalins und seiner Entourage mit wissenschaftlichen und ideologischen Fragen und deren öffentlicher Erörterung. Indirekt wird damit zugleich, wenn auch wenig systematisch, ein Panorama dessen geboten, was „Öffentlichkeit“ im Spätstalinismus bedeutet hat.

Anmerkungen:
1 Kojevnikov, Alexei, Rituals of Stalinist Culture at Work: Science and the Games of Intraparty Democracy circa 1948, in: Russian Review 57 (1998), 1, S. 23-52; Leicht verändert wieder abgedruckt unter dem Titel: Games of Stalinist Democracy. Ideological Discussions in Soviet Sciences 1947-1952, in: Fitzpatrick, Sheila (Hrsg.), Stalinism. New Directions, London 2000, S. 142-175.
2 Stalin, Josef, Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, Berlin 1952; ders., Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Berlin 1953.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension