Cover
Titel
Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts


Herausgeber
Gebhard, Gunther; Geisler, Oliver; Schröter, Steffen
Anzahl Seiten
198 S.
Preis
€ 22,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Hufenreuter, Freie Universität Berlin

Der Begriff „Heimat“ erlebt in der Forschung seit Jahren eine ungebrochene Konjunktur. Mit den politischen Umbrüchen Anfang der 1990er-Jahre und den besonders in Osteuropa ins Wanken geratenen ideologischen wie geographischen Identitätskonstrukten avancierte der Begriff in der Wissenschaft zu einer zentralen Referenz, um neue und alte Strategien der Beheimatung im Kontext von Globalisierung und Mentalitätswandel zu untersuchen. Dabei ist ein interdisziplinärerer Zugriff unverzichtbar. In diesem Zusammenhang steht auch der vorliegende Band, ein Ergebnis der im November 2006 in Dresden abgehaltenen Tagung zum Thema „Heimat. Zwischen Lebenswelten und Inszenierung“ im Rahmen des „forums junge wissenschaft“. Neben der Einleitung versammelt der Band sechs Beiträge aus Geschichte, Soziologie und den Literaturwissenschaften. Deutlich wird die Multiperspektivität auch in der Einführung der drei Herausgeber, welche die Bedeutungsvielfalt und die damit einhergehenden begrifflichen Unschärfen und Mehrdeutigkeiten von Heimat als regelrechte „Provokation der Begrifflichkeit“ betonen und Heimat demnach eher als „Assoziationsgenerator“ behandelt wissen wollen (S. 9). Als die drei erstrangigen Bezugsgrößen für Heimat nennen die Herausgeber (Lebens-)Raum, Zeit und Identität. Auf dieser Grundlage sollen in den Aufsätzen „Konjunkturen und Konturen“ des Heimatdenkens untersucht werden.

Ein Beitrag von Eric Piltz beschäftigt sich mit dem grundlegenden Zusammenhang von Heimat, Raumerfahrung und territorialen Bindungen in der Frühen Neuzeit. Ein nicht einfaches Unterfangen: Zwar gab es zu dieser Zeit ein Verständnis von Heimat; der Begriff selbst ist jedoch zumindest in Quellen des 18. Jahrhunderts kaum anzutreffen. Piltz greift daher nach einer gelungenen begrifflichen Annäherung auf die Autobiographie Ulrich Bräkers (1735–1798) zurück, eines Bauern, der seine Reisen in einem Tagebuch dokumentierte. Piltz weist nach, dass besonders die Erfahrungen der Fremde in Kombination mit der Erinnerung an die Heimat und der damit verbundenen Orientierung im territorialen Raum Bräkers Verhältnis zur Welt bestimmten. Ebenfalls eng mit dem Aspekt raumbezogener Identität verbunden ist der zweite, dezidiert geschichtswissenschaftliche Beitrag von Doreen Eschinger. Er kann gleichermaßen unter der Perspektive der Gender- und der Holocaust-Forschung gelesen werden und behandelt den Massenmord an ungarischen Juden 1944, der zu einem teilweise irreparablen Bruch der ungarisch-jüdischen Identität führte und Ungarn als Heimat für einen großen Teil der Überlebenden kategorisch infrage stellte. Eschinger geht intensiv auf die historische Entwicklung des Verhältnisses von Ungarn und Juden sowie den darauf folgenden Zivilisationsbruch und Vertrauensverlust ein, den die ungarischen Juden vor allem als Verrat der nichtjüdischen Bevölkerung erlebten und begriffen.

Der anschließende Artikel von Bernd Hüppauf beschäftigt sich mit der vielseitigen Begriffs- und Verwendungsgeschichte von Heimat. Hüppauf konzentriert sich nicht nur auf die etymologische Herkunft, sondern untersucht ebenso die konzeptionellen Formen, in denen der Begriff Verwendung fand und findet – sowohl in seiner Beschränkung auf Raum und Zeit als auch in seiner Ausweitung auf utopische Konstrukte. Diskussionswürdig ist hierbei sicherlich der letzte Abschnitt des Beitrages, wo Hüppauf als „konkretes Beispiel“ die gesellschaftliche Situation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Berlin-Kreuzberg diskutiert und als zentrale Ursache für die Gewaltbereitschaft und mangelnden Zukunftsperspektiven der Betroffenen deren fehlendes Heimatgefühl anführt. Dieses, so Hüppauf, werde den Jugendlichen durch die Mehrheitsgesellschaft bewusst vorenthalten. Das mag stimmen, aber ob diese Jugendlichen tatsächlich „kein Ich“ besitzen (S. 135), da ihnen der mentale Raum fehle, in dem sie sich zu Hause fühlen könnten, was zu „Defekten der Seele“ führe, möchte der Rezensent als langjähriger Bewohner Berlin-Kreuzbergs in dieser Absolutheit doch in Zweifel ziehen. Hierfür empfiehlt es sich etwa, die Berliner Hiphop- und Rap-Szene genauer zu betrachten, die als Ergebnis der von Hüppauf zu Recht angeführten gesellschaftlichen Verweigerung eine Art alternative Heimat bildet, in der die Beteiligten ihre Identität, ihr „Ich“ durchaus autonom und selbstkritisch definieren.

In ähnliche Richtungen gehen die drei weiteren Beiträge, in denen die Frage im Vordergrund steht, wie nach dem Verlust bekannter Formen von Heimat eine Suche und Neuorientierung stattfindet. Alexandra Ludewig widmet sich Filmen, die unter den Kategorien „Ostalgie“ und „Westalgie“ als Verteidigungen eines gelebten und unwiederbringlich verlorenen Lebens beschrieben werden können und die als mentale Stützen auf der Suche nach einer neuen Identität und Heimat dienen. Völlig in Frage gestellt werden die konventionellen begrifflichen Dispositionen in den literarischen Texten von Angela Krauss („Die Überfliegerin“) und Christian Kracht („Faserland“), die Steffen Hendel behandelt. Die von ihm untersuchten fiktionalen Reiseberichte aus dem Jahr 1995 beschreiben Möglichkeiten, mit Herkunft, Identität und Heimat umzugehen. In beiden Texten scheint die Konstruktion von Identität letztlich nur noch auf subjektiven, individuellen und ästhetischen Kriterien zu beruhen. Komplementär dazu liest sich der abschließende Aufsatz von Christian Luckscheiter, der die literarischen Arbeiten Peter Handkes aus den Jahren um 2000 auf den Aspekt der Beheimatung in der Heimatlosigkeit hin untersucht. Auch hier geht es um den Bedeutungswandel, den der Begriff der Heimat in einer durch Globalisierung und Migration geprägten Welt erfährt. Heimat sieht Handke in der heutigen, auf Mobilität angewiesenen Gesellschaft durch Heimatlosigkeit und permanente geographische Ungebundenheit definiert. Auch wenn diese Beobachtung im vorliegenden Band vorerst nur an literarischen Beispielen verdeutlicht wird, gehört sie wohl zu den wichtigsten Erkenntnissen über den Wandel des Begriffes.

Zwar verfügt der Band nur über eine schwache inhaltliche Klammer und erscheint aus Sicht des Historikers etwas zu gegenwartsbezogen. Dennoch bietet jeder Artikel eine ausgesprochen anregende Lektüre, die viele weiterführende Fragen aufwirft und deutlich macht, dass „Heimat“ als kultur- und sozialwissenschaftlichem Begriff eine unverminderte Bedeutung innewohnt. Besonderes Lob gebührt zudem den Herausgebern wie Beiträgern, wenn man bedenkt, dass die Veröffentlichung schon elf Monate nach der Tagung vom November 2006 erfolgte und somit der innovative und aktuelle Impuls der Texte erhalten bleibt – was bei Tagungsbänden nicht unbedingt die Regel ist.

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