M. Leniger: Nationalsozialistische "Volkstumsarbeit"

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Titel
Nationalsozialistische "Volkstumsarbeit" und Umsiedlungspolitik 1933-1945. Von der Minderheitenbetreuung zur Siedlerauslese


Autor(en)
Leniger, Markus
Erschienen
Berlin 2006: Frank & Timme
Anzahl Seiten
254 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexa Stiller, Leibniz Universität Hannover, Historisches Seminar

Seit Götz Alys Buch „Endlösung” aus dem Jahr 1995 sowie Isabel Heinemanns Studie zum Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und dessen Beitrag zur Germanisierungs- und Selektionspolitik während des Zweiten Weltkrieges aus dem Jahr 2003 ist die nationalsozialistische „Volkstumspolitik” verstärkt in den Fokus der Forschungen zur NS-Besatzungspolitik und zur Genese des Holocaust gerückt.1 Nun legt Markus Leniger eine Studie über zwei bis heute noch unzureichend erforschte SS-Organisationen vor. Dabei handelt es sich um die Volksdeutsche Mittelstelle, die für die Umsiedlung der so genannten „Volksdeutschen” aus Ost- und Südosteuropa und deren Unterbringung in Lagern zuständig war, sowie um die Einwandererzentralstelle, die diese Umgesiedelten selektierte und einbürgerte. Beide Ämter gehörten – wie auch das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS – zum Apparat des Reichsführers-SS und Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) und waren mit Aspekten der ethnischen und rassischen „Neuordnung Europas” während des Zweiten Weltkrieges betraut.

Robert L. Koehl und Martin Broszat unterschieden in ihren frühen Studien zwischen einer „positiven” und eine „negativen” Seite der bevölkerungspolitischen Maßnahmen des NS-Regimes.2 „Positive” Bevölkerungspolitik sei in Bezug auf die „Volksdeutschen” betrieben worden, die auf vielfältige Weise gefördert und begünstigt wurden, während mittels der „negativen” Bevölkerungspolitik „Unerwünschte”, also als „minderwertig” betrachtete Deutsche, Polen, Juden und andere, ausgrenzt, entrechtet, enteignet und zu Millionen ermordet wurden. Leniger will in seiner Untersuchung überprüfen, inwieweit diese „positive” Seite für die betroffenen Menschen tatsächlich positiv war. Er konzentriert sich dabei insbesondere auf diejenigen “Volksdeutschen”, die zwischen Oktober 1939 und 1942 aus Ost- und Südosteuropa nach Deutschland umgesiedelt wurden. Dabei geht er insbesondere der Fragestellung nach, wie diese Menschen von der Volksdeutschen Mittelstelle und der Einwandererzentralstelle behandelt wurden. Stimmte die NS-Propaganda, die die „Rückkehrer” willkommen hieß und sie während ihres Integrationsprozesses der unbedingten Unterstützung durch die „Volksgemeinschaft“ versicherte, mit der Realität und dem Lebensalltag der „volksdeutschen” Umsiedler überein? Darüber hinaus geht es Leniger darum, die Verwaltungspraxis dieser beiden SS-Organisationen näher zu betrachten und gegen eine Tendenz der Forschung „zur Überrationalisierung und Überschätzung der Effizienz der SS-Hierarchie und ihrer Planungseliten” zu argumentieren (S. 19). So will er Alys „Chronologie des Scheiterns” auch für diesen Teilbereich der „Volkstumspolitik” nachweisen.

Der Aufbau der Untersuchung ist sehr übersichtlich. Im ersten Kapitel zeichnet Leniger die Vorgeschichte und die Anfänge dieser spezifischen „Volkstumspolitik” des RKF nach, wobei das Hauptaugenmerk auf der Politik gegenüber den im Ausland lebenden „Volksdeutschen” und ihrer ab Ende 1939 beginnenden Umsiedlung liegt. Im zweiten Kapitel geht es um die Organisation und die Maßnahmen der Volksdeutsche Mittelstelle ab jenem Zeitpunkt, an dem sich die so genannten Umsiedler in Deutschland befanden und, damit verbunden, um deren „Lageralltag”. Im dritten und letzten Kapitel behandelt Leniger den Aufbau sowie die Verwaltungs- und Selektionspraxis der Einwandererzentralstelle. Er fokussiert dabei besonders die Widersprüche, die aus der praktischen Anwendung von Rassentheorien entstehen mussten und geht auch auf die Konflikte ein, die über diese Frage innerhalb des RKF-Apparates entstanden.

Das erste Kapitel reicht von der Minderheitenpolitik der Weimarer Republik über die Machtübernahme der SS auf dem Feld der „Volkstumsarbeit” im Jahre 1936/1937, die Verhandlungen über die Umsiedlung der Südtiroler, die Umsiedlungsvereinbarungen im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes und die Ernennung Himmlers zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums am 7. Oktober 1939 bis hin zu den nationalsozialistischen Umsiedlungen der „Volksdeutschen” aus dem Baltikum, aus Ostpolen, Südosteuropa und Litauen. Leniger zufolge brach der Nationalsozialismus mit dem Paradigma der „traditionellen” Volkstumspolitik, die „Volksdeutschen” als Minderheiten in anderen Staaten zu unterstützen und zu „erhalten”. Sobald es außenpolitische Erwägungen opportun erschien, wurden die „Volksdeutschen” als Verhandlungsmasse hin- und hergeschoben, bis sie schließlich ab Sommer 1939 nach Deutschland (zwangs-)umgesiedelt wurden. Neu ist diese Auffassung allerdings nicht, man konnte sie schon in Valdis Lumans’ Monographie über die Volksdeutsche Mittelstelle aus dem Jahr 1993 finden.3

Anders als Lumans untersucht Leniger jedoch den Alltag in den Lagern der Volksdeutschen Mittelstelle und sieht in den „Umsiedlerlagern” auch nicht wie dieser ein Gegenstück zu den Konzentrationslagern, gleichsam als Lager für das „Herrenvolk” im Gegensatz zu solchen für die „Untermenschen”. Vielmehr sollten sie Leniger zufolge in erster Linie der Kontrolle und Disziplinierung der „Volksdeutschen” dienen, wurden sie doch von den Nationalsozialisten nicht nur willkommener Bevölkerungszuwachs, sondern auch misstrauisch als „Sicherheitsrisiko” beäugt. Daher sollten sie vor allem ihrer religiösen und spezifisch volkstümlichen Bräuche und Sitten entfremdet werden, um sie kompatibel für die imaginierte nationalsozialistische „Volksgemeinschaft” zu machen. „Der Blick in die Umsiedlerlager zeigt die Kehrseite der ‘Heim ins Reich’-Propaganda. Die ‘Volksdeutschen’ fanden nicht die ihnen versprochene neue Heimat, sondern sie wurden Teil der Lagergesellschaft des ‘Dritten Reiches’” (S. 146). Die Schikanen und Repressionen der Lagerleitungen gegenüber den Umsiedlern bis hin zur Einweisung in Arbeitserziehungslager und Konzentrationslager kann Leniger jedoch nur anhand von Einzelfällen und damit nicht empirisch dicht belegen. Die Verallgemeinerung zur implizit bei Leniger mitschwingenden These, dass die Umsiedlerlager Orte der totalen Entmündigung waren, ist wohl ebenso gewagt, wie die auf Aly zurückgehende Auffassung, dass ein Großteil der Umsiedler über mehrere Jahre hinweg in den Lagern festgesessen habe. Zwar waren diese Lager während des Krieges kontinuierlich stark belegt. Ob es sich bei den Insassen jedoch durchgängig um dieselben Personen handelte, ist damit noch lange nicht geklärt. Für eine gesicherte Aussage müssten die Lagerstatistiken detailliert durchgearbeitet werden, was Leniger nicht getan hat. Auch wäre eine stärkere Einbeziehung von Selbstzeugnissen der Umsiedler wünschenswert gewesen, besonders wenn man wie Leniger das erklärte Ziel hat, sich der Thematik alltagsgeschichtlich zu nähern.

Das dritte Kapitel wartet mit einer Fülle neuer Erkenntnisse und Einblicke in die Selektionspraxis des RKF-Apparates auf. Neben der Entstehung und dem Aufbau der Einwandererzentralstelle, einer Organisation des Reichssicherheitshauptamtes, nimmt Leniger hier insbesondere den Selektionsprozess in den Blick. Am Ende dieser so genannten „Durchschleusung” stand die Entscheidung, ob eine Umsiedler-Familie in den Osten, also in die annektierten westpolnischen Gebiete gehen und dort wieder Landwirtschaft betreiben konnte oder sie ins Altreich als Angestellte und Arbeiter vermittelt wurde. Lenigers Einschätzung des Selektionsprozesses relativiert in zwei Punkten Isabel Heinemanns These, dass das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (RuSHA) mit seinen rassentheoretischen Kriterien die Auswahl der „Neusiedler” bestimmte: Erstens sei das Reichssicherheitshauptamt tonangebend in der Einwandererzentralstelle und zweitens das ausschlaggebende Kriterium die „Erbgesundheit” gewesen, die vom medizinischen Fachpersonal der Einwandererzentralstelle begutachtet und festgelegt wurde. Zwar habe es immer wieder Konflikte zwischen den SS-Ärzten und den „Rasseeignungsprüfern” des RuSHA gegeben, letztendlich aber waren es Leniger zufolge die rassenhygienischen Untersuchungsergebnisse, die den Ausschlag für den „Ansatzentscheid“ gaben (S. 190, 196).

Leniger zeigt, dass nicht nur prominente Vertreter der deutschen Eugenik wie Fritz Lenz und Arthur Gütt beratend am Selektionsprozess beteiligt waren, sondern auch, dass es sich um eine rassenhygienische Totalerfassung der umgesiedelten „Volksdeutschen” gehandelt hat. Anhand dieser Ergebnisse ist es ihm möglich, die Selektionspraxis im Rahmen der „Volkstumspolitik” in eine Kontinuität der nationalsozialistischen Rassen- und Bevölkerungspolitik seit 1933 zu stellen und der Auffassung entgegenzuwirken, es habe sich um ein reines SS-Projekt auf der Grundlage von obskuren rassentheoretischen Selektionskriterien gehandelt. Damit eröffnet er eine durchaus neue Sichtweise auf die Behandlung der „Volksdeutschen“ im Nationalsozialismus. Ob es jedoch letztendlich große Unterschiede zwischen den rassenhygienischen und den rassentheoretischen Bewertungskriterien gab, stellt Leniger dahin, indem er explizit darauf hinweist, dass es sich bei beiden um subjektiv und willkürlich gesetzte Beurteilungen im Rahmen einer sozialen Kategorisierung handelte. „Erbgesundheit” und „Rasse” stellten demnach verwissenschaftlichte Instrumente für eine Inferiorisierung und Ausgrenzung vermeintlicher Zugehöriger der sozialen Unterschicht dar.

Die Volksdeutsche Mittelstelle wie auch die Einwandererzentralstelle bildeten im Laufe der Kriegsjahre jeweils einen enormen Verwaltungsapparat mit mehreren tausend Mitarbeitern aus, während sich die Verwaltungs- und Selektionspraxis bis ins Absurde differenzierte. Der Grund dafür war nach Leniger jedoch weniger, eine möglichst gute Betreuung der Umsiedler, ihre rasche Einbürgerung oder „Ansiedlung“ zu gewährleisten. Vielmehr sei er vor allem in der Selbstlegitimierung des Weiterbestehens dieser Organisationen in den letzten Kriegsjahren zu suchen. Gegenüber den „Volksdeutschen“ zeichneten sich beide Organisationen durch einen willkürlichen und schikanösen Umgang aus. Um eine „positive“ Behandlung dieser Menschen sei es nicht gegangen. Somit lautet Lenigers Resümee, dass sowohl die Betreuung als auch die Umsiedlerauslese gescheitert seien. Zu dieser Grundthese sei kritisch angemerkt, dass die Kategorisierung einer Politik als „erfolgreich“ oder als „gescheitert“ zuerst einmal der Klärung der anzulegenden Parameter von „Effizienz“ und „Erfolg“ bedarf. So könnte man beispielsweise die Frage aufwerfen, ob es denn überhaupt Himmlers Plan war, alle Umsiedler ohne Ausnahmen möglichst umgehend wieder in der Landwirtschaft als selbständige Bauern einzusetzen?

Insgesamt ist Lenigers Buch trotz der angesprochenen Probleme eine gut strukturierte und lesbare Studie, welche die Diskussion über den Themenkomplex fraglos voranbringt. Besonders die detailreiche Untersuchung der Verwaltungspraxis der Einwandererzentralstelle bietet viele neue Erkenntnisse und verknüpft die „volkstumspolitische“ Selektionspraxis mit weitergehenden Aspekten der nationalsozialistischen Rassen- und Bevölkerungspolitik.

Anmerkungen:
1 Aly, Götz, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995; Heinemann, Isabel, „Rasse, Siedlung, deutsches Blut”. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003.
2 Koehl, Robert L., RKFDV: German Resettlement and Population Policy 1939-1945. A History of the Reich Commission for the Strengthening of Germandom, Cambridge 1957; Broszat, Martin, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945, Frankfurt am Main 1965.
3 Lumans, Valdis O., Himmler’s Auxiliaries: The Volksdeutsche Mittelstelle and the German National Minorities of Europe 1933-45, Chapel Hill 1993.

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