M. Baltzer: Der Berliner Kapitalmarkt

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Titel
Der Berliner Kapitalmarkt nach der Reichsgründung 1871. Gründerzeit, internationale Finanzmarktintegration und der Einfluss der Makroökonomie


Autor(en)
Baltzer, Markus
Reihe
Münsteraner Beiträge zur Cliometrie und quantitativen Wirtschaftsgeschichte 11
Erschienen
Münster 2007: LIT Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 193 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carsten Burhop, Max Planck Institut zur Erforschung der Gemeinschaftsgüter, Bonn

Obwohl die Gründerzeit der 1870er-Jahre seit Jahrzehnten als ein zentrales Ereignis der deutschen Wirtschaftsgeschichte gilt, gab es lange Zeit keine nennenswerte Forschung zu dieser Phase der Wirtschaftsgeschichte. Dies hat sich in den vergangenen Jahren mit einer historischen und einer betriebswirtschaftlichen Dissertation zur Gründerzeit geändert.1 Nun folgt mit nur geringem Abstand die 2005 abgeschlossene volkswirtschaftliche Dissertation von Markus Baltzer. Diese wurde an der Universität Tübingen unter der Betreuung von Jörg Baten angefertigt. Ebenso wie bei der Dissertation von Anja Weigt2 handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit eigentlich nicht um eine Monographie, sondern um die Zusammenfassung von mehreren Aufsätzen. Diese Form der kumulativen Dissertation ist längst internationaler Standard und setzt sich zunehmend an den führenden Fakultäten in Deutschland durch. Ob die Veröffentlichung der Dissertation in Form einer Monographie nun den veralteten Ansprüchen einer Promotionsordnung geschuldet ist, oder ob Baltzer damit einen anderen Leserkreis erschließen will, ist unerheblich. Den Leser erwartet jedenfalls eine qualitativ hochwertige Arbeit, der man jedoch anmerkt, dass es sich um eine Aufsatzsammlung handelt.

Die Monographie gliedert sich in acht Kapitel. Auf die kurze Einleitung folgt im zweiten Kapitel ein gelungener Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Gründerzeit. Des Weiteren werden die im Verlauf der Arbeit verwendeten Daten – insbesondere Aktienkurse und Lebensdaten von Unternehmen – sowie die notwendigen institutionellen Gegebenheiten erläutert. Der erste wesentliche Beitrag zur Forschung wird in Kapitel drei, einer empirischen Überlebensanalyse von Aktiengesellschaften, erbracht. Mit Hilfe von ökonometrischen Verfahren arbeitet Baltzer den negativen Einfluss der Liberalisierung des deutschen Aktienrechts im Jahre 1870 auf die Überlebenswahrscheinlichkeit von Aktiengesellschaften klar heraus. Selbst wenn man den Einfluss von Unternehmensgröße, Unternehmensalter und Branche des Unternehmens berücksichtigt, hatten nach 1870 gegründete Aktiengesellschaften eine niedrigere Lebensdauer als vor der Aktienrechtsreform geschaffene Gesellschaften. Dieser Effekt ist besonders deutlich für Aktienkreditbanken nachzuweisen, so dass die Gründerkrise vor allem als Bankenkrise betrachtet werden kann (S. 63).

Die Kapitel vier und fünf der Arbeit behandeln die internationalen Bezüge der Gründerkrise. Baltzer untersucht anhand von drei österreichischen Aktiengesellschaften, die alle an mehreren europäischen Börsen gehandelt worden sind, ob die Aktien dieser Gesellschaften an allen Börsen denselben Preis hatten und an welcher Börse kursrelevante Informationen vornehmlich im Kurs berücksichtigt worden sind. Methodisch ist dieser Abschnitt ausgesprochen innovativ und auch die Datenaufbereitung sehr präzise. Die hohe Qualität dieses Teils der Dissertation wurde dementsprechend auch bereits durch Veröffentlichung in einer international führenden Zeitschrift gewürdigt.3 Zunächst geht Baltzer der Frage nach, ob die großen europäischen Börsenplätze – Berlin, Wien, Frankfurt, Paris und London – schon während der frühen 1870er-Jahre integriert waren. Damit trägt er zu der aktuellen Kontroverse bei, die der Frage nachgeht, ob die europäischen Finanzmärkte bereits vor Etablierung des Goldstandards integriert gewesen sind. Wenn dies der Fall war, dann müssten die gleichen Aktien an unterschiedlichen Börsen den gleichen Preis erzielen. Dies war – bis auf sehr kleine, durch Handelskosten begründbare Abweichungen – der Fall. Dieses Ergebnis von Baltzer entspricht somit einem Ergebnis von Weigt, die dies bereits für die verschiedenen innerdeutschen Börsenplätze gezeigt hat.

Nachdem Baltzer die Preisintegration der Börsen nachgewiesen hat, geht er in Kapitel fünf der Frage nach, an welchen Börsen hauptsächlich neue Informationen im Kurs berücksichtigt worden sind. Dazu vergleicht er die Börsenschlusskurse, die aufgrund von unterschiedlichen institutionellen Gegebenheiten und aufgrund von Unterschieden in der Uhrzeitmessung, zu verschiedenen Zeiten festgestellt worden sind. Da Baltzer drei österreichische Aktien mit dem Heimatmarkt Wien betrachtet, wäre zu vermuten, dass kursrelevante Informationen vornehmlich in Wien berücksichtigt worden sind. Zudem hatte die Wiener Börse den frühesten Börsenschluss und somit müssten die Schlusskurse der anderen Börsen – Berlin, Frankfurt, Paris und London – dem Wiener Schlusskurs entsprechen. Erstaunlicherweise stellt sich jedoch heraus, dass die wesentlichen kursrelevanten Informationen nicht in Wien, sondern in Berlin berücksichtigt worden sind. Dies ist zugleich ein überzeugendes Argument dafür, dass die Gründerkrise ihren Ausgangspunkt in Berlin hatte.

In den Kapiteln sechs und sieben der Arbeit greift Baltzer über die 1870er-Jahre hinaus und untersucht den Zusammenhang zwischen makroökonomischen Variablen und der Börsenkursentwicklung in Deutschland während der Jahre 1870 bis 1913. In Kapitel sechs geht es dabei um die Frage, ob Aktien eine inflationssichere Geldanlage waren. In Kapitel sieben wird die Frage untersucht, inwieweit Differenzen zwischen kurz- und langfristigen Zinssätzen geeignet waren Rezessionen vorherzusagen. In diesen Abschnitten verwendet Baltzer moderne makroökonometrische Ansätze, die vor allem rein historisch interessierte Leser abschrecken dürften. Gleichwohl sind die Ergebnisse auch für Historiker relevant: Baltzer kann zeigen, dass Veränderungen der Aktienmarktrenditen keine Auswirkungen auf das reale Wirtschaftswachstum gehabt haben (S. 163). Dieser Befund unterstreicht, dass die Gründerkrise vornehmlich eine Aktienmarktkrise gewesen ist. Dieses Resultat bestätigt Baltzer indem er den Zusammenhang zwischen Zinssatzdifferenzen und Wirtschaftswachstum betrachtet (S. 173).

Insgesamt hat Markus Baltzer drei sehr gute Aufsätze geschrieben und diese in einen gemeinsamen Zusammenhang gestellt. Insbesondere konnte er erstmals quantitativ belegen, dass die Aktienrechtsnovelle von 1870 einen signifikant negativen Einfluss auf die Qualität der gegründeten Gesellschaften hatte. Des Weiteren liefert er überzeugende Argumente dafür, dass die Gründerkrise von Berlin ausging und im Wesentlichen eine Finanzmarktkrise gewesen ist.

Anmerkungen:
1 Burhop, Carsten, Die Kreditbanken in der Gründerzeit, Stuttgart 2004; Weigt, Anja, Der deutsche Kapitalmarkt vor dem Ersten Weltkrieg – Gründerboom, Gründerkrise und Effizienz des deutschen Aktienmarktes bis 1914, Frankfurt am Main 2005.
2 Vgl. ebd.
3 Baltzer, Markus, Cross-listed stocks as an information vehicle of speculation – Evidence from European cross-listings in the early 1870s, in: European Review of Economic History 10 (2006), S. 301-327.

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