W. Brandt: Verbrecher und andere Deutsche

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Titel
Verbrecher und andere Deutsche. Ein Bericht aus Deutschland 1946. Bearbeitet von Einhart Lorenz


Autor(en)
Brandt, Willy
Reihe
Willy-Brandt-Dokumente 1
Erschienen
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Krösche, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die Edition von Willy Brandts Bericht aus dem Nachkriegsdeutschland, der 1946 unter dem Titel „Forbrytere og andre tyskere“ in Oslo erschien, war längst überfällig. Der jetzt einer breiten Öffentlichkeit erstmals vollständig in deutscher Sprache zugänglich gemachte Bericht schlummerte seit Jahren im Willy-Brandt-Archiv. Dabei lag eine Übersetzung des für das skandinavische Publikum verfassten Buches bereits seit 1966 bzw. 1972 vor, erarbeitet von Dietrich Lutze. 1966 wurden jedoch lediglich Auszüge aus Brandts Bericht veröffentlicht.1 Eine frühzeitige und vollständige Publikation wäre schon deshalb sinnvoll gewesen, weil sie den Gegnern Brandts und ihren Verleumdungskampagnen wegen seiner Herkunft und seiner Emigration in den 1950er-/1960er-Jahren etwas Wind aus den Segeln hätte nehmen können. Gerade weil die deutsche Öffentlichkeit nur diffuse Kenntnisse von der Existenz und dem konkreten Inhalt der Schrift von 1946 hatte, wurde dem Missbrauch durch politische Kontrahenten Vorschub geleistet, wie Einhart Lorenz in seiner Einleitung zur jetzt erschienenen Ausgabe deutlich macht. Die politischen Gegner verdrehten den Titel in „Deutsche und andere Verbrecher“ und behaupteten, Brandt unterstelle den Deutschen eine Kollektivschuld für die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (S. 7).

Dagegen steht der tatsächliche Titel „Verbrecher und andere Deutsche“ treffend für Brandts Haltung zur Schuldfrage, die er im ersten Kapitel ausführlich darlegte. Er distanzierte sich ausdrücklich von einem Kollektivschuldvorwurf gegenüber der deutschen Bevölkerung und betonte, dass dieser auch nicht Grundlage der alliierten Politik sei.2 Die Deutschen seien keine „Nation von Verbrechern“, sondern durch besondere Umstände zu „Werkzeugen – und Opfern – des Nazismus“ geworden (S. 38). Damit unterstützte er keineswegs die in der Bevölkerung seit Kriegsende verbreiteten Bemühungen der Abwehr und Selbstrechtfertigung. Vielmehr zog er einen klaren Trennungsstrich zwischen Schuld und Verantwortung. Da breite Bevölkerungskreise das nationalsozialistische Regime unterstützt hätten, müssten sie nach dem Zusammenbruch auch Verantwortung übernehmen. Neben der Abkehr vom nationalsozialistischen Gedankengut war diese Verantwortung für Brandt die Voraussetzung eines demokratischen Neuanfangs. Zudem war es Brandts besonderes Ziel – wie schon der Titel ausdrückt –, die Existenz eines „anderen Deutschland“ während der NS-Zeit hervorzuheben.

Das Buch ist ein Ergebnis von Brandts Deutschlandbesuch vom November 1945 bis zum März 1946. Das wichtigste Ereignis in diesem Zeitraum war der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, den Brandt im Auftrag der Osloer Zeitung „Arbeiderbladet“ beobachtete. Einen „Prozessbericht“ stelle sein Buch dennoch nicht dar, wie er im Vorwort betonte (S. 35), denn das Urteil wurde erst ein halbes Jahr nach seiner Abreise verkündet. Somit konnte Brandt nur die Anklageerhebung verfolgen und nicht die Anfang März beginnenden Beweisanträge der Verteidigung sowie die von der internationalen Öffentlichkeit mit Spannung erwarteten Aussagen der Angeklagten. Dementsprechend beinhaltet das zweite Kapitel, das den Nürnberger Prozess zum Gegenstand hat, eine nahezu protokollarische Wiedergabe des Prozessabschnitts, in dem die vier Anklagevertreter der Alliierten ihr Beweismaterial vortrugen. Bis auf wenige Worte zur Begründung ihrer Verantwortlichkeit verzichtete Brandt dabei bewusst auf eine ausführliche Beschreibung der 21 Angeklagten, die ansonsten in der internationalen Berichterstattung viel Raum einnahm. Er machte lediglich deutlich, dass sie im Gerichtssaal eine „jämmerliche Figur“ abgaben (S. 112) und ihn ansonsten kaum interessieren würden – was ihn von anderen Prozessbeobachtern deutlich unterschied.

Mit Beginn des Prozesses bildete die Frage nach der Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofes (International Military Tribunal, IMT) einen Schwerpunkt des öffentlichen Diskurses. Eng damit verknüpft war der wiederholte Vorwurf, dass Sieger über Besiegte zu Gericht sitzen würden – ein Vorwurf, der insbesondere von den Angeklagten und ihren Verteidigern erhoben wurde. An der Legitimität des IMT hegte Brandt niemals Zweifel. Doch so sehr er die Koordination der vier Siegermächte bei der Prozessarbeit würdigte, gehörte er dennoch zu denjenigen, die sich eine Beteiligung von Deutschen am Verfahren gewünscht hätten. Während die amerikanische Informationskontrolle den deutschen Medienvertretern untersagte, in ihrer Berichterstattung Bedenken gegen die Funktion des Gerichtshofes zu äußern, konnte Brandt seine Vorstellungen gegenüber dem skandinavischen Leser offen darlegen. Dabei teilte er nicht den unter NS-Gegnern verbreiteten Wunsch nach einem deutschen Gericht, sondern befürwortete die Beteiligung der deutschen antinazistischen Seite an der Anklage. Allerdings ließ er dabei außer Acht, dass eine deutsche Anklagevertretung nicht nur eine Frage der Verfügbarkeit moralisch integren Personals gewesen wäre, sondern dass sie wohl kaum auf Akzeptanz in der internationalen Öffentlichkeit gestoßen wäre.

Im nächsten Kapitel sind neben der ausführlichen Beschreibung des deutschen Widerstandes vor allem die Bemerkungen zur öffentlichen Wahrnehmung des Nürnberger Prozesses von Interesse, zumal die Rezeptionsgeschichte des Verfahrens in der Zeitgeschichtsforschung bislang nur marginale Berücksichtigung gefunden hat. Brandt hebt die Bedeutung hervor, die die Information der deutschen Bevölkerung über den Prozessverlauf hatte. Vor diesem Hintergrund kritisiert er die unzureichende Zulassung deutscher Pressevertreter in den ersten Verhandlungsmonaten. Der Widerspruch zur Haltung der amerikanischen Besatzungsbehörde, die eine Aufklärung über den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus als zentrale Aufgabe des Nürnberger Prozesses und Bestandteil der demokratischen Umerziehung der Deutschen betrachtete, war offensichtlich. Zudem vermisste Brandt die Anwesenheit „hervorragende[r] deutsche[r] Juristen und repräsentative[r] Mitglieder antinazistischer Vereinigungen“ im Gerichtssaal (S. 127). Während viele ausländische Prozessbeobachter den Deutschen Desinteresse an den Nürnberger Ereignissen vorwarfen3, konstatierte Brandt für die Jahreswende 1945/46 eine wachsende Aufmerksamkeit gegenüber der Berichterstattung.

Der größte Teil des Buches (die Kapitel vier bis sieben) ist der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit und den Chancen eines demokratischen Neuanfangs gewidmet. Deutlich wird, dass Brandt fest an die demokratische Umgestaltung und die vorhandenen Kräfte dafür glaubte. Sein differenziertes Bild der Lage in den vier Besatzungszonen war ein Vermittlungsversuch zwischen Besatzungspolitik und deutscher Gesellschaft. Obwohl Brandt die Notwendigkeit der Besatzung nicht in Frage stellte, war er sich dennoch der Gefahr bewusst, die für die deutsche Einheit von der Teilung in vier Besatzungszonen ausging. In diesem Zusammenhang kritisierte er das Fehlen einer Zentralverwaltung und betonte die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Zusammenschlusses. Trotz des offensichtlichen Ost-West-Gegensatzes war Brandt optimistisch, dass es nicht zu einem Bruch zwischen der Sowjetunion und den Westmächten kommen werde, da ein solcher Konflikt nicht nur den Weltfrieden, sondern auch den deutschen Wiederaufbau sabotieren würde. Die Anzeichen dafür, dass der Ost-West-Konflikt bald politische Realität sein würde, nahm Brandt sensibel wahr. 20 Jahre später stand sein Name dann für eine Ostpolitik, die zur Entschärfung des Konflikts beigetragen hat.

Die Veröffentlichung ist sowohl aus Sicht des fachwissenschaftlichen Publikums als auch des historisch interessierten Laien zu begrüßen. Es handelt sich um ein wichtiges Zeitdokument, das die Stimmungslage in Deutschland 1945/46 anschaulich wiedergibt und um Verständnis für diese besondere Situation bei den skandinavischen Lesern wirbt, aber gleichzeitig die Verantwortung der gesamten deutschen Gesellschaft für das im Nationalsozialismus begangene Unrecht einfordert. Brandts Haltung gegenüber der Nachkriegsgesellschaft war weitaus versöhnlicher als diejenige anderer Remigranten wie etwa Alfred Döblin oder Erika Mann. Die Einleitung von Einhart Lorenz konzentriert sich auf die Entstehungsgeschichte von „Verbrecher und andere Deutsche“. Sie gibt einen interessanten Einblick in die norwegische und schwedische Rezeption des Buches – und somit in das deutsch-skandinavische Verhältnis nach 1945.

Anmerkungen:
1 Brandt, Willy, Draußen. Schriften während der Emigration, hrsg. von Günter Struve, München 1966.
2 Die Existenz eines Kollektivschuldvorwurfes ist bis heute umstritten. Norbert Frei spricht von einer „Konstruktion des deutschen Kollektivbewußtseins“ (Von deutscher Erfindungskraft oder: Die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit, in: Smith, Gary [Hrsg.], Hannah Arendt Revisited: „Eichmann in Jerusalem“ und die Folgen, Frankfurt am Main 2000, S. 163-176, hier S. 170).
3 Die amerikanische Journalistin Janet Flanner zum Beispiel kritisierte nicht nur das Desinteresse der deutschen Bevölkerung, sondern auch den geringen Umfang der deutschen Berichterstattung (Brief aus Nürnberg, in: Steffen Radlmaier [Hrsg.], Der Nürnberger Lernprozeß. Von Kriegsverbrechern und Starreportern, Frankfurt am Main 2001, S. 174-180).

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