Titel
Frauenbewegung um 1900. Über Triest nach Zagreb


Autor(en)
Vittorelli, Natascha
Erschienen
Wien 2007: Löcker
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriella Hauch, Universität Linz

Die Historiographie der Frauenbewegung begann sich in den letzten Jahren – ausgelöst vom „Ende der Gewissheiten“ und unter dem theoretischen Schirm der Dekonstruktion des feministischen „Wir“ und des weißen Ethnozentrismus – einer kritischen Re/Inspektion zu unterziehen. Dies gilt auch für die Frauen- und Geschlechtergeschichte in Österreich bzw. zur Habsburger Monarchie.1 In diesem theoretischen und methodischen Kontext ist Natascha Vittorellis Forschungsarbeit einzubetten.

Eine ihrer zentralen Intentionen ist, die Frauenbewegungsgeschichtsschreibung – „jenes Wissen über feministische Vergangenheit, das sich durchgesetzt hat, jene „erfundenen Traditionen“ (S. 14) – „unvertraut zu machen“ (J. W. Scott). Die aus der theoretischen Klärung hervorgegangenen Fragen bezieht Vittorelli auf das Tandem von Festlegung und Gegengeschichten, das heißt, auf „andernorts“ vorgefundenes und auf eigene Recherche- und Interpretationsergebnisse (S. 11). Die Frauenbewegung um 1900 sucht Natascha Vittorelli mit Begrifflichkeiten der Frauenbewegungsgeschichtsschreibung zu analysieren und mit „konkreten historischen Rekonstruktionen“ (S. 15) zu konfrontieren. Als Basis dienen ihr dafür zeitgenössische Selbst- und Fremdbeschreibungen, in Form von Zeitungsartikeln, Briefen, andere in Nachlässen gefundene Dokumente, Gedichte und Romane. Um Spuren der heutigen Rezeption zu finden führt sie zudem gegenwartsgeschichtliche Interviews an. Viele der genutzten Quellen werden bei Vittorelli zum ersten Mal in deutscher Sprache publik gemacht.

Das Buch fokussiert auf die Frauenbewegung/en am Balkan. Diese Region gehört zu den geschlechterhistorisch schwach ausgeleuchteten geopolitischen ‚Rändern’, die im Sinne einer europäischen Frauen- und Geschlechtergeschichte in den kanonisierenden Diskurs der Forschungscommunity erst noch eingeschrieben werden sollten.2 Angesichts der Lücken in der Grundlagenforschung zu den Geschlechterverhältnissen und -beziehungen in diesen Regionen würde man jedoch eher einen auf den Ergebnissen eines internationalen Forschungsprojektes basierenden Sammelbandes erwarten3, als eine von einer einzelnen Autorin verfassten Monographie. Die Vielfalt des Archiv- und Handschriftenmaterials und die Liste zeitgenössischer Zeitschriften im bibliographischen Anhang, die die Gebiete des heutigen Italien, Slowenien, Kroatien und Serbien umfassen, verdeutlichen die Masse an bisher unerforschten Materialien, denen sich Vittorelli mit ihrer Arbeit genähert hat. Setzt man diese Fülle in Beziehung zu dem vorliegenden schmalen Band, liegt nahe, dies mit einer Entscheidung Vittorellis für radikale Reduktion in Zusammenhang zu bringen. Leider gewährt sie keinen Einblick in ihre Forschungswerkstatt.

Eine Reduktion ist mit Vor- und Nachteilen verbunden, da sie neben der Lesbarkeit auch knapp ausgeführte Differenzierungen respektive rudimentär geratene sozial- und politikgeschichtliche Kontextualisierungen fördert. Vittorellis Vorhaben ist dabei gerade hinsichtlich des vielschichtigen und widersprüchlichen Nationalitätengemischs in der späten Habsburger Monarchie besonders anspruchsvoll. Sie möchte die „gängigen (nationalen) Erzählweisen“ destabilisieren (S. 15) und stellt dabei die These auf, dass mögliche Differenzen zwischen südslawisch und jugoslawisch, slowenisch, kroatisch oder serbisch durch die hegemoniale Stellung des deutschen/österreichischen und magyarischen, nur geringen Erkenntnisgewinn bringen würden (S. 12). Eine Einbettung in die intensiv und breit geführte Debatte über Nation und Geschlecht, über Nationsformierung und Geschlechtsidentitäten hätte Möglichkeiten geboten, diese Annahme einer kritischen Inspektion zu unterziehen und die starke nationale Bezugnahme in von ihr untersuchten frauenbewegten Schriften exakter analytisch zu fassen.

Das Ergebnis ihrer Überlegungen stellt Vittorelli gekonnt in eine originelle, aus Fragmenten gebildete Struktur. Es gelingt ihr, in vier differenten jedoch miteinander verbundenen Kontexten ihr historisches Material zu präsentieren und zu analysieren. Eine Frauenrechtlerin, eine Frauenzeitung und ein Frauenverein sowie die Frage nach den Konzeptionalisierungen von Frauenbewegungen sind die Orientierungsmarken ihrer Erzählung. Am Beginn jedes Kapitels führt eine Art erklärender Lexikonartikel in die Thematik ein.

Im ersten Teil (S. 19-65) – „Eine Frauenrechtlerin“ – stellt sie Zofka Kveder (1878-1926) vor, eine Literatin und Journalistin, die aus einer Arbeiterfamilie stammt und sich bis zur Studentin an der Universität Bern emporarbeitete. Sie lebte in Triest und Prag, und ab 1906 in Zagreb, wo sie in zweiter Ehe mit dem sozialdemokratischen Politiker Demetrovic verheiratet war. Sie hatte drei Kinder aus erster Ehe, gab Zeitungen heraus, schrieb Theaterstücke und wurde zur „ersten Frauenrechtlerin“ stilisiert. Vittorelli rekonstruiert anhand ihrer Schriften die inhaltlichen Positionen zur Stellung von Frauen und dekonstruiert überzeugend anhand der Nachrufe die „wahre Zofka“. Sie zeigt die Antisemitin (die sie nicht sein wollte?) in der First Lady des kroatischen SHS-Staates, die sie nach Kriegsende wurde. In ihren letzten Jahren wendete sich „Zovfka“ mehr der pathetischen Nationalmystik und monarchistischer Propaganda zu. Sie inszenierte, wie Vittorelli darstellt, ihren Selbstmord entsprechend dem „Wunsch nach einer ihr würdigen Form posthumer Erinnerung“ (S. 39). Sie selbst versuchte die Kontrolle zu behalten und legte damit einen Baustein zur einsetzenden Heldinnen-Konstruktion.

Im zweiten Teil (S. 67-98) – „Eine Frauenzeitschrift“ – wird die Zeitschrift „Slovenka. Organ slowenischer Frauenschaft“, die 1897-1902 in Triest erschien, vorgestellt. Anhand der Koordinaten Geschlecht – Slowenisch – „erste Slowenische Frauenzeitschrift“ analysiert Vittorelli die inhaltliche Ausrichtung und Rezeption der Zeitschrift im multikulturellen Trieste/Trst/Triest und die folgenden Einschreibungen in nationale slowenische sowie frauenbewegte Traditionen. Sie fragt weiter, wie ein Projekt, das als „erstes“ seiner Art definiert wird, zum Maß für die Auf- bzw. Abwertung der Folgeprojekte gestaltet wurde, indem sie die später gegründeten vier „Slovenka“-Zeitschriften einer kritischen Inspektion unterzieht: Die erste Neugründung erfolgt 1919 in Ljubljana jedoch mit derselben Redakteurin, 1922 eine zweite in Gorica, die dritte wiederum in Triest und 1943 erhält ein im Widerstand gegen die NS-Okkupation produziertes „Organ freier slowenischer Frauen“ wiederum den Namen „Slovenka“. Die mit der Triester „Slovenka“ begründete Genealogie in der Rezeption und Historiographie des slowenischen Frauenzeitschriftenwesens wurde in der Ausstellung „Frauenzeitschriften auf slowenischem Gebiet 1897-1997“ in der Laibacher National- und Universitätsbibliothek deutlich und damit der „Mythos“ (S. 97), der allein ihre Existenz umgab, gefestigt.

Der dritte Teil (S. 99-126) – „Ein Frauenverein“ – stellt den „Wohltätigkeitsverein der Serbinnen in Novi Sad“ ins Zentrum, der von 1880 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges bestand. Dieser Verein subsumierte nationale, kulturelle und soziale Aktivitäten und machte so das Themenfeld der bürgerlichen Wohltätigkeit als frauenspezifisches Projekt deutlich. Die Stadt Novi Sad, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das „kleine serbische Athen“ genannt wurde, war multinational, multikonfessional und multikulturell geprägt sowie intellektuelles und künstlerisches Zentrum der Region – nicht Belgrad. Gerne würde man mehr erfahren über diese Stadt und ihre Milieus, wo bereits 1848 eine erfolgreiche jüdische Großhändlerin um die Gründung einer Frauenorganisation angesucht hatte. Aber Vittorellis Interesse gilt hier der Frage, wie, am Beispiel dieses Wohltätigkeitsvereins, die Typisierung und Begrifflichkeit von Frauenvereinen entwickelt und praktiziert werden könnten.4

Der vierte Teil (S. 127-165) - „Eine Frauenbewegung“ – führt nach Zagreb rund um das Jahr 1900 und zur Überlegung, ob es dort bereits eine Frauenbewegung gegeben hat. Vittorelli gelingt es, die in den vorangegangenen Kapiteln aufgeworfenen Fragestellungen zu Individuum, Medium und Verein als konstitutive Elemente von Frauenbewegung zu bündeln bzw. in Frage zu stellen. Innovativ ist in diesem Teil die Netzwerkanalyse von Frauenrechtlerinnen zu bewerten, die Vittorelli anhand von Ehrungs- und Würdigungstexten, die von 1898 bis 1958 in Frauenzeitschriften und der Tagespresse publiziert wurden, vornimmt. Gleichzeitig setzt sie sich mit dem Frauennetzwerk-Begriff und seiner Karriere in der Frauen- und Geschlechterforschung kritisch auseinander. Ihr erstelltes „Ehrerweisungsnetzwerk“ (S. 139) erlaubt einerseits Verbindungs- und Trennungslinien dieser Milieus und zwischen einzelnen politisch sowie sozial engagierten Frauen (und auch Männern) nachzuzeichnen, die sich gegen das Lehrerinnenzölibat, für das Frauenwahlrecht, aber auch für Wohltätigkeit und den Jugoslawismus engagierten. Andererseits stellt Vittorelli die Frage, inwiefern Frauennetzwerke und Frauenbewegungen kongruent gefasst oder differenziert betrachtet werden können. Die Einbeziehung der Zagreber Frauenvereine und Frauenzeitschriften dienen Vittorelli als weitere Bausteine zur Diskussion über die Frage, ob es in Zagreb 1900 eine Frauenbewegung gab oder nicht. Auf diese Weise sucht Vittorelli dem dialektischen Dilemma oder Paradoxon beizukommen, dass selbst im Versuch der Dekonstruktion erneute Konstruktionen vorgenommen werden.

Die Arbeit ist in mehrfacher Hinsicht eine spannende Lektüre. Auch für aktuelle Debatten in der Frauenbewegungs-Forschungscommunity: Natascha Vittorelli beginnt ihr Buch mit dem Satz „Schreiben und erzählen heißt vor allem auch: (vorläufig) festlegen.“ (S. 11) In Bezug auf die Frage nach dem Wesen und der Definition von ‚was ist Frauenbewegung’ legt sie sich nur als Fragende fest, selbst vorsichtige Definitionsversuche unterbleiben. Es scheint, als beabsichtige Vittorelli das unwegsame Feld der abstrahierenden Festlegung mit der philosophisch unterlegten Ironie von Judith Butler zu umgehen, mit der sie die Arbeit beschließt: „Feministinnen – und nicht zuletzt auch Frauenbewegungshistorikerinnen – brauchen Frauenbewegungen, aber müssen sie auch wissen was sie sind?“ (S. 174) An diese rhetorische Wendung kann die Frauenbewegungsgeschichtsschreibung anknüpfen und zu weiteren Diskursproduktionen in der „heißen“ epistemischen feministischen Kultur beitragen.5

Anmerkungen:
1 Z.B.: Hacker, Hanna, Gewalt ist: keine Frau. Der Akteurin oder eine Geschichte der Transgression, Königstein/Taunus 1998; Bernold, Monika; Gehmacher, Johanna, Auto/Biographie und Frauenfrage. Tagebücher, Briefwechsel, Politische Schriften von Mathilde Hanzel-Hübner 1884-1970, L’Homme Archiv 1. Quellen zur Feministischen Geschichtswissenschaft, Wien 2003.
2 Vgl. die Diskussion zu einer Europäischen Frauen- und Geschlechtergeschichte in: <www.univie.ac.at/Geschichte/Neuverortung-Geschlechtergeschichte/salon21/>.
3 Vgl. dazu: de Haan, Francisca; Daskalova, Krassimira; Loutfi, Anna (Ed.), A Biographical Dictionary of Women’s Movements and Feminisms. Central, Eastern and South Eastern Europe, 19th and 20th Centuries, Budapest 2006; Saurer, Edith; Lanzinger, Margareth; Frysak, Elisabeth (Hrsg.), Women's Movements. Networks and Debates in post-communist Countries in the 19th and 20th Centuries. L'Homme Schriften 13, Köln 2006.
4 Friedrich, Margret, “Vereinigung der Kräfte, Sammlung des kleinen Gutes zu einem gemeinschaftlichen Vermögen, kurz die Assoziation ist hier die einzige Rettung”. Zur Tätigkeit und Bedeutung der Frauenvereine im 19. Jahrhundert in Metropole und Provinz, in: Mazohl-Wallnig, Brigitte (Hrsg.), Bürgerliche Frauenkultur im 19. Jahrhundert. L’Homme Schriften 2, Köln 1995, S. 125-174.
5 Knapp, Gudrun-Axeli, Liebe, Widerstand und Erkenntnisproduktion im feministischen Diskurs, in: Bauer, Ingrid; Hämmerle, Christa; Hauch, Gabriella (Hrsg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen. L’Homme Schriften 10, Wien 2005, S. 39-49.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension