N. Leonhardt: Piktoral-Dramaturgie

Titel
Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899)


Autor(en)
Leonhardt, Nic
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 33,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Lazardzig, Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin

Das deutsche Theater und seine Dramatik im 19. Jahrhundert sind schlecht beleumundet. Von zweit- und drittklassigen Klassiker-Adepten ist hier zumeist die Rede, von sinn- und verstandlosen Possenstücken, von Gebrauchs- und Tendenzdramatik und nicht zuletzt von einer allein am Spektakel und am Schauwert orientierten Ökonomisierung der Bühne; Tendenzen, die sich in eine Geschichte kultureller Regression fügen, deren Protagonisten aber – paradoxerweise – das Hohelied der ‚Kultur’ anstimmen. All zu oft dient eine solche Betrachtung des Theaters im 19. Jahrhundert dazu, als Abstoßungspunkt für die massenmediale Revolutionierung durch den Film bzw. das Aufkommen der Theateravantgarden um 1900 herhalten zu müssen.

Es ist das große Verdienst der Theaterwissenschaftlerin Nic Leonhardt diesen überkommenen theaterhistoriographischen Deutungsmustern eine ganz andere und ungleich differenziertere Sicht der dramatischen und vor allem theatralen Produktion zwischen 1869 und 1899 entgegenzuhalten. Ihre quellengesättigte und aspektreiche Dissertationsschrift unter dem Titel „Piktoral-Dramaturgie“ (ein Begriff, den die Verfasserin von Martin Meisel 1 übernimmt) schließt auf zu den heuristischen und methodischen Verfahren der Visualitäts- und Intermedialitätsforschung (namentlich Barbara M. Stafford, W.J.T. Mitchell und Nicholas Mirzoeff) und versteht diese gewinnbringend auf ihren historischen Gegenstandsbereich anzuwenden und weiterzuentwickeln. Leonhardt unterlässt es dabei – und dies ist im Vergleich zu den genannten Autoren äußerst lobenswert – ihre Analysen zur visuellen Kultur in eine prä-cinematische Betrachtung des Theaters münden zu lassen. Dieser wohltuende Verzicht auf medienteleologische Deutungsmuster ermöglicht eine synchrone sowie diachrone Betrachtung von Bildmedien und Bilder vermittelnden Institutionen. Das Theater, so nun die Kernthese der Untersuchung, ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland sowohl Agent als auch Epitom einer ganz wesentlich am Visuellen orientierten Kultur im Schnittfeld von Politik, Ökonomie und Ästhetik sowie einer sich gesellschaftlich manifestierenden visuellen Kompetenz.

Der historische Zeitraum dieser theoretisch wohl fundierten Studie ist zum einen durch die Gewerbefreiheit der Theater im Norddeutschen Bund markiert, die eine Ausdifferenzierung der Theaterformen im Deutschen Reich zur Folge hatte. Zum anderen ist es das aus medien- und kulturhistorischer Sicht eher symbolisch gewählte Jahr 1899, welches die Orientierung auf die visuelle Kultur des 19. Jahrhunderts anzeigt und die häufig gebrauchte und gleichsam magisch instrumentalisierte Wendung „um 1900“ unterläuft. Als Quellengrundlage für die Beziehung von Theater und visueller Kultur verstanden als „hybride Interdisziplin des Visuellen“ (S. 25) dienen der Verfasserin illustrierte Zeitungen, Kritiken und Programmschriften, Theaterzettel, Zensurakten, Almanache sowie Bildmaterial wie Fotografien, Lithografien oder Szenen-Skizzen. Auf historiographisch vorbildliche Weise erläutert Leonhardt in ihrer Einleitung die spezifische Aussagekraft der jeweiligen Quellen für die visuelle Kultur, deren Medien und Institutionen. Beachtung verdient hier insbesondere die Einbeziehung der so genannten „Theaterzensurbibliothek“ des Berliner Landesarchivs. Aufgrund des ministeriellen Zensurerlasses von 1851 findet sich in den Zensurakten der Berliner Polizeibehörde eine immer noch weitgehend unerforschte Dokumentation der Theaterproduktion in Berlin und Preußen zwischen 1851 und 1918, die Leonhardt nun erstmals auf breiterer Basis mit Blick auf ihre Thematik auswertet. Entsprechend ist die Studie geographisch vor allem in der sprichwörtlichen „Theatermetropole“ Berlin situiert – was aufgrund des kulturellen und ästhetischen Vorbildcharakters der neuen Reichshauptstadt Berlin sowie deren Legitimationsbestrebungen durchaus sinnvoll erscheint.

Unterteilt ist die Studie in drei Kapitel sowie eine etwas ausführlich geratene Einleitung von über 60 Seiten, in der die Verfasserin auf sehr grundlegende Weise den nutzbringenden Charakter der Visualitätsforschung für die theoretisch und methodisch häufig schwachbrüstig daherkommende Theaterhistoriographie beleuchtet. Vieles, was hier Erwähnung findet, hätte vielleicht auch auf die Einzelkapitel verteilt werden können. Dies gilt insbesondere für die Ausführungen zum sozialen Stellenwert und zur innergesellschaftlichen Bedeutung der Unterhaltungsindustrie der neuen Kapitale Berlin (S. 54-65).

Analog zu den gewählten Markierungen des Untersuchungszeitraumes beleuchtet die Verfasserin in den ersten beiden Kapiteln die ökonomischen Kräfte sowie die spezifischen (technischen) Medien visueller Kultur aus der Perspektive des Theaters. Das erste Kapitel skizziert „Die Visuelle Kultur des 19. Jahrhunderts“ (S. 67-116) – freilich mit einer Fokussierung auf dessen zweite Hälfte. In den Blick genommen werden – und dies unterscheidet die Studie von anderen Forschungsansätzen zur Visuellen Kultur – nicht bloß visuelle Medien, sondern ebenso die Stätten und Institutionen piktoraler Diffusion und visuellen Konsums (mit edukativen wie rekreativen Absichten). Dabei wird ein Spektrum durchlaufen, welches die Medien Panorama, Diorama, Illustrationen sowie Fotografie, Panoptika und Einrichtungen der urbanen Bauform Passage umfasst. Diese, zunächst wenig überraschend anmutende Auswahl optischer Medien/Institutionen dient dazu, gleichsam die Symptomlage einer somatisch zu nennenden Schaulust als Resultat städtischer Massenkultur zu beschreiben. Die Lust an belehrender Illustration und unterhaltsamer Illusion, die Leonhardt herausarbeitet, unterscheidet sich dabei wesentlich von dem Nützlich- und Vergnüglichkeitspostulat des 17. und 18. Jahrhunderts durch die ökonomische Grundierung, die Schaffung von Schau-Werten.

Anschaulich wird dies im zweiten Kapitel zur „Ökonomie und Heterogenität theatraler Unterhaltung“ (S. 117-145), in dem die aus der Gewerbefreiheit (1869) resultierende Theatervielfalt in Berlin beleuchtet wird. Leonhardt widmet sich hier der von zahlreichen Theaterkritikern als „Krise des Theaters“, als „Theaterfrage“ oder „Theater-Kalamität“ apostrophierten Ausrichtung der Bühnen am Visuellen und Spektakulären als Effekt einer Ökonomisierung der Kunst. Anschaulich wird dies etwa am Beispiel des Kroll-Theaters, zu dessen Repertoire Schauexperimente, Spektakel und Opern zählten, und dessen Vorhang zugleich als Werbeträger für Haushaltsgeräte und ähnliches diente. Auch im Berliner Circus Renz wird der Vorhang in den späten 1890er-Jahren während der Pausen als Projektionswand für Reklame genutzt. Im dritten und längsten Kapitel der Untersuchung („Mise en Scène und Dramaturgie der Bilder“, S. 147-296) erfolgt nun eine Synthese der zuvor herausgearbeiteten technisch-medialen und ökonomischen Bedingungen der Schaulust auf dem Theater: Anhand von zwei Leitmotiven („Bilder des Krieges“ und „Kolonien im Blick“) wird das deutsche (und insbesondere das Berliner) Theater des späten 19. Jahrhunderts als eine Art ‚Umschlagplatz des Visuellen’ interpretiert, fußend vor allem auf Pantomimen, allegorischen Apotheosen, Tableau vivants, Ausstattungs-, Spektakel- oder Schaustücken, Bilderfolgen und optischen Medien. Dabei wird ausdrücklich das gesamte Spektrum an populären theatralen Spielstätten (reichend von den Tingel-Tangel über die Rauchtheater, Varietébühnen und Spektakeltheater bis hin zum Zirkus) in die Untersuchung eingebunden. Der gesellschaftliche Einfluss dieser Spielstätten lag ja nicht zuletzt darin, dass Arbeiter und Bürger hier in ihrer Vergnügungslust trotz sozialer Differenzen zusammenfanden. Eindrucksvoll weist Leonhardt den Einfluss und die Funktionalisierung medial produzierter und zirkulierter Bildmotive für die nationale Identifikation nach, etwa am Beispiel des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 bzw. der Schlacht von Sedan. Auch der medial produzierte und institutionell diffundierte Blick auf die deutschen Kolonien erfüllte diese Funktion, wie en détail an der mehr als sechshundert Aufführungen erlebenden Bilderfolge „Stanley in Afrika“ (Uraufführung 1889 im Victoria-Theater) gezeigt wird. Die Persistenz medial erzeugter Bilder vermag Zeit und Raum historisch-politischer Ereignisse zum Gegenstand einer Piktoral-Dramaturgie werden zu lassen, als deren Agenten die Theaterinstitutionen und Spielstätten – politisch affirmativ – fungieren. Dies auf der Basis eines breiten Quellenkorpus herausgearbeitet und analysiert zu haben, gehört sicherlich zu den am meisten beeindruckenden Leistungen des Buches.

Gleichsam unter der Hand bietet Leonhardt (vor allem im zweiten und dritten Kapitel) eine veritable Theatergeschichte Berlins für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese wird dadurch komplettiert, dass sich im Anhang eine Übersicht über insgesamt 54 (!) Spielstätten Berlins zwischen 1860 und 1900 befindet (S. 315-344), ergänzt um wertvolle Informationen zu Fassungsvermögen, Programmgestaltung, Konzessionsinhaber bzw. Direktorium und Publikum. Hier ist auf der Basis der Zensurakten im Berliner Landesarchiv Grundlagenarbeit geleistet worden. Namens-, Sach- und Dramenverzeichnis runden das Buch auf vorbildliche Weise ab und stellen bei der Quellenfülle ein wertvolles Hilfsmittel dar.

Der insgesamt sehr positive Gesamteindruck wird allein durch ein zu enges, zu gedrängtes Schriftbild getrübt. Auch die zahlreichen Abbildungen (52) sind im Abdruck fast durchweg zu klein und zum Teil sehr schlecht reproduziert (insbesondere die Abb. 2, 26, 28, 37, 38, 46), was gerade bei einer Forschungsarbeit zur Visuellen Kultur merkwürdig erscheinen muss. Der allgemein zu konstatierende Wegfall eines Verlagslektorats für geisteswissenschaftliche Forschungsliteratur (hier zu verantworten durch den transcript Verlag aus Bielefeld) fällt leider auch bei diesem Buch an der einen oder anderen Stelle auf.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass mit Nic Leonhardts Studie zur Piktoral-Dramaturgie eine wegweisende Untersuchung zur Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts vorliegt, die Neuland betreten hat. Jede sich ausschließlich an der Dramenproduktion jener Zeit orientierende Deutung greift – dies wird augenfällig – zu kurz. Berücksichtigt werden muss jene, ungleich schwerer zu ermittelnde, politische, ökonomische und ästhetische Performanz des Visuellen auf dem Theater, dem Schauplatz des 19. Jahrhunderts.

Anmerkungen:
1 Vgl. Meisel, Martin, Realizations. Narrative, Pictorial, and Theatrical Arts in Nineteenth-Century England, Princeton 1983.
[2] Vgl. etwa jüngst: Finney, Gail (Hrsg.), Visual Culture in Twentieth-Century Germany. Text as Spectacle, Bloomington 2006.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch