Cover
Titel
Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis 20. Jahrhundert


Herausgeber
François, Etienne; Seifarth, Jörg; Struck, Bernhard
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 37,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Krzoska, Mainz

Die Beschäftigung mit Grenzen und Grenzräumen hat im letzten Jahrzehnt in den Kulturwissenschaften an Bedeutung deutlich zugenommen. Dabei profitierten insbesondere die Historiker – wie in so vielen anderen Fällen auch – methodisch eindeutig von den Nachbardisziplinen, hier vor allem von der Geographie und der (Raum-)Soziologie. Im Zuge des glänzend vermarkteten „spatial turn“ und der neueren Nationalismusforschung galt und gilt das Interesse verstärkt den Regionen, in denen Altes und Neues, Eigenes und Fremdes unmittelbar zusammentrafen. Politische Schwerpunktsetzungen und Wunschbilder weiterverfolgend, begannen auch die strukturell und inhaltlich differenzierten Geisteswissenschaften nach Verbindungslinien zwischen Ost und West zu suchen, wobei das – politisch mittlerweile klinisch tote – „Weimarer Dreieck“ aus Frankreich, Deutschland und Polen eine wichtige Funktion erfüllte.

Der vorliegende Band unternimmt den zweifellos schwierigen Versuch, die Entwicklungen von Grenzen und Grenzdiskursen über Länder und Zeiten hinweg anhand von Einzelstudien nachzuzeichnen. Die Herausgeber vermieden dabei bewusst die Gefahr, durch die modische und überstrapazierte Methode des Vergleichs Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Beiträgen zu konstruieren, die der Vielfalt der behandelten Themen nicht hätten gerecht werden können. Dass es auf der anderen Seite nicht zu einer Beliebigkeit der Texte gekommen ist, verdankt sich der ambitionierten und sehr gelungenen thematischen Einführung der Herausgeber, die auf nur wenigen Seiten zentrale methodische und theoretische Fragen der Grenzproblematik behandelt und sie mit den im Band behandelten Fallbeispielen geschickt verbindet. Nach einem kurzen Überblick über den Stand und die Desiderata der Forschung folgt ein Blick auf die Zentrum-/Peripheriendiskussion in Bezug auf Deutschlands Grenzen sowie die Frage der makrohistorischen Grenzsetzungen der drei betroffenen Staaten seit dem Ende der Frühen Neuzeit. Ein für den Kontext des Buches wichtiges und in den Beiträgen immer wieder aufgegriffenes Motiv stellt die Suche nach der eigentlichen Begriffsdefinition von Grenze dar, wobei verschiedene Möglichkeiten in unterschiedlichen Sprachen erwähnt und erläutert werden. Den Abschluss der Einführung bieten Überlegungen zum Zeit- und Rhythmuscharakter von Grenzen.

Die elf Aufsätze des Bandes sind in drei Kapiteln untergebracht. Das erste mit dem Titel „Deutschlands Grenzen: innen und außen“ enthält zunächst Christoph Duhamelles aus seiner umfangreichen Beschäftigung mit dem katholischen Eichsfeld in der Frühen Neuzeit hervorgegangenen Text zu territorialen Grenzen, konfessioneller Differenz und sozialer Abgrenzung. Die alltagsgeschichtliche Betrachtung zeugt von einem vielschichtigen Umgang mit Grenze; Duhamelle spricht von einer „Mischung von Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander“ (S.46) verbunden mit Eigeninteressen der betroffenen Bevölkerung. Die scheinbaren Widersprüche lösen sich beim Betrachten der jeweiligen konkreten Situation zwar auf, es wird aber deutlich, wie schwierig es ist, von einem einzelnen Ereignis allgemeinere Schlussfolgerungen im größeren Rahmen ableiten zu können. Anschließend untersucht Claire Gantet die Wahrnehmungen und Repräsentationen der Außengrenzen des Heiligen Römischen Reiches zwischen 1648 und 1700. Dabei hebt sie – gewissermaßen in Anlehnung an die bekannten Thesen Georg Schmidts – die Politisierung der Debatten um Rhein und Donau deutlich hervor. Nicht erst die Französische Revolution und deren Folgen hätten das patriotische Vokabular in Deutschland verstärkt. Die Politisierung habe zudem zu einer Homogenisierung „von unten“, also aus der Gesellschaft heraus, geführt. Bernhard Struck betrachtet die Rolle der Grenzen in der deutschen Reiseliteratur über Polen und Frankreich um 1800 anhand ausgewählter Beispiele. Hierbei wird klar, dass in jener Zeit dem Grenzübertritt als solchem nicht die spätere Bedeutung zukam, sondern von den Reisenden zunächst eine Übergangszone verschiedenartiger Kulturen wahrgenommen wurde. Allerdings habe sich diese Wahrnehmung schon zwanzig Jahre später deutlich zugunsten der Betrachtung linearer Grenzen geändert, der eher regionale Blick sei von einem eher nationalen abgelöst worden. Es stellt sich indes die Frage, ob deutscherseits gerade bei der Beschreibung Polens und der Polen wirklich erst nach 1830 von einer „Nationalisierung der Stereotypen“ durch deutsche Reisende gesprochen werden kann. Die Verbreitung des deutlich älteren Topos der „polnischen Wirtschaft“ spricht eher dagegen.1

Das zweite Kapitel zu „Grenzräumen: Ost und West“ wird eingeleitet durch die deutsche Übersetzung des im französischen Original bereits 1997 erschienenen, nichtsdestotrotz aber weiterhin nicht nur lesenswerten, sondern terminologisch bereichernden Beitrags von Daniel Nordman über die Veränderung des Grenzbegriffes im frühneuzeitlichen Frankreich.2 Ausgangspunkt ist die Expansion des französischen Territoriums unter Ludwig XIV. Im 18. Jahrhundert wurde die Zahl der Gebietsanschlüsse zwar immer geringer, dafür nahmen die konkreten Grenzverträge zu, die unklare Verläufe im Kleinen beseitigen und den Staat kompakter machen sollten. Die vermeintliche Unbestimmtheit der Grenzen, die es zu ändern galt, entpuppt sich als Vehikel zur offensiven Grenzausdehnung, die mit den Begriff „frontière“ belegt wird, der die „friedliche Formulierung“ einer „limite“ mehr und mehr ersetzte. Diese Entwicklung setzte sich dann im 19. und 20. Jahrhundert fort, wobei der Verfasser die Unterschiede zu Deutschland betont.

Auf mikrohistorischer Ebene einem ähnlichen Thema widmet sich Stefanie Schlesier in ihrer Betrachtung der Grenzwahrnehmung in Lothringen und der preußischen Rheinprovinz zwischen 1815 und 1914. Sie betont die verschiedenen Arten der Durchlässigkeit der Grenze im Alltag und in den jeweiligen historischen Epochen. So bedeutete die Grenzziehung nach 1871 zum einen die Schaffung neuer, vor allem ökonomischer Verbindungen innerhalb der Reichsgrenzen, verstärkte zum anderen aber auch den Widerstand eines großen Teils der einheimischen, mehrheitlich frankophilen Bevölkerung. Hier hätte sich vielleicht ein Vergleich zum Elsass angeboten, wo sich nach den ersten Jahren des Protests bis 1914 immer stärker eine pragmatische Haltung der lokalen Einwohner herausbildete.3 Nicolas Beaupré widmet sich der in Vielem vergleichbaren Entwicklung im Saarland, allerdings zwischen 1918 und 1935. Auch hier war es das Gefühl, von fremden Truppen besetzt zu sein, dass die Saarländer enger zusammenrücken ließ. Die konkrete Grenze wurde zum Ort eines Konfliktes, der in den Köpfen der Bevölkerung, aber auch der französischen Soldaten, tagtäglich stattfand und vor dessen Hintergrund sich das Zusammengehörigkeitsgefühl mit Deutschland weiter verstärkte. Interessant wäre hier ein Blick auf die „blutende Grenze“ im Osten des Reiches gewesen, wo sich ähnliche Phänomene ereigneten – etwa die Häufigkeit nationaler Manifestationen und Grenzzwischenfälle im Alltag –, andererseits die Wahrnehmung eines kulturellen Gefälles deutlich vorhanden war, das im Westen keine Rolle spielen konnte.4

Zu den interessantesten, weil thematisch ungewöhnlichsten Beiträgen des Bandes zählt der kurze Aufsatz Nikolaus Wolfs über Grenzen und Ökonomie am Beispiel Deutschlands und Polens 1885-1934, der die Problematik leider nur anreißen kann, aber eine Vielzahl von Fragen für die Forschung aufzeigt. Der Verfasser untersucht auf der Basis wirtschaftswissenschaftlicher Modelle die Rolle der Handelsströme und die „longue durée“ von Grenzen für ökonomische Prozesse. Dabei schätzt er die Bedeutung sozialer Netzwerke höher ein als die politisch-institutioneller Rahmenbedingungen. So sei es zu erklären, dass sich die Grenzen der alten Teilungsgebiete Polens bis weit in die Zwischenkriegszeit hinein als erstaunlich persistent erwiesen, ein Element der Trägheit, das er in Ansätzen auch für das Deutsche Reich nach 1871 nachweisen kann. Andreas Kossert beschäftigt sich dann mit der Bedeutung Masurens als konstruiertem Grenzland von der wilhelminischen Politik bis zum Nationalsozialismus. Dabei kann er in Anknüpfung an seine monographischen Darstellungen zu diesem Thema zeigen, wie die soziale Lage Ostpreußens und die Kriegserfahrung der Jahre 1914-1918 eine wesentliche Rolle beim Siegeszug des Nationalsozialismus spielten.5 Das „Bollwerk Masuren“ hatte mit etwaigen realen Bedrohungen schließlich nichts mehr zu tun, sondern mündete letztlich in der Lebensraumideologie, die über die alten Grenzlinien weit hinausgehen sollte.

Das letzte Kapitel befasst sich mit Grenzziehungen in Literatur und Wissenschaft. Thomas Serrier versucht sich dem deutsch-polnischen Grenzraum im 19. und 20. Jahrhundert als einem Feld der Geschichtskultur anzunähern und plädiert trotz aller Schwierigkeiten für die Fruchtbarkeit des beziehungsgeschichtlichen Ansatzes auch und gerade in der kollektiven Gedächtnisforschung. Iris Schröder betrachtet die Rolle der Geographiewissenschaft in Deutschland und Frankreich im frühen 19. Jahrhundert. Der Beitrag, der ungeachtet seines wissenschaftsgeschichtlichen Profils wegen seines Themas im vorderen Buchteil besser aufgehoben gewesen wäre, untersucht den Wandel des Umgangs mit Grenzen in zentralen geographischen Werken dieser Zeit. Er zeigt den Weg hin zu einer Nationalisierung und Popularisierung der Geographie in beiden Ländern, wobei die Darstellung der Grenzen jedoch meist den politischen Entwicklungen folgte, ohne diese ihrerseits voranzutreiben. Im abschließenden Beitrag des Bandes widmet sich Morgane Labbé der Geschichte der deutschen Kartographie mit dem Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert. Besondere Bedeutung misst sie den Sprachenkarten und deren Fähigkeit zu, „Nationalitäten im Raum zu quantifizieren“.

Alles in allem belegen die ganz verschiedenartigen Ansätze, welche Vielfalt der Betrachtung von Grenzen und Grenzräumen nach wie vor möglich ist. Die Vermutung, nach der sich die Beschäftigung mit diesem Thema durch die Menge der Publikationen der letzten Jahre erschöpft habe, lässt sich anhand der Beiträge dieses Bandes nicht bestätigen. Vielmehr scheint es so, dass erst durch einen intensiveren Blick auf Fallbeispiele eine Annäherung an weiterführende grundlegende Aussagen zur Problematik erreicht werden kann. Somit darf man gespannt sein auf den zweiten Band mit weiteren Beiträgen zu diesem Thema, dessen Erscheinen bereits angekündigt ist. 6

Anmerkungen:
1 Siehe dazu Orlowski, Hubert, „Polnische Wirtschaft“. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit, Wiesbaden 1996.
2 Nordman, Daniel, Des limites d’État aux frontières nationales, in: Nora, Pierre (Hrsg.), Lieux de mémoire. Bd. 1, Paris 1997, S. 1125-1146.
3 Siehe dazu z.B. Riederer, Günter, Feiern im Reichsland. Politische Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in Elsaß-Lothringen (1871-1918), Trier 2004.
4 Vgl. die Beiträge von Juliane Haubold-Stolle, Andrzej Michalczyk und Urszula Biel in dem Sammelband: Haubold-Stolle, Juliane; Linek, Bernard (Hrsg.), Górny Slask wyobrazony / Imaginiertes Oberschlesien, Opole 2005.
5 Kossert, Andreas, Preußen, Deutsche oder Polen? Die Masuren im Spannungsfeld des ethnischen Nationalismus 1870-1956, Wiesbaden 2001; ders., Masuren. Ostpreußens vergessener Süden, Berlin 2001; ders., Ostpreußen, Geschichte und Mythos, München 2005.
6 Duhamelle, Christoph; Kossert, Andreas; Struck, Bernhard (Hrsg.), Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2007.

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