D. E. Wilhite: Tertullian the African

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Titel
Tertullian the African. An Anthropological Reading of Tertullian's Context and Identities


Autor(en)
Wilhite, David E.
Reihe
Millennium-Studien 14
Erschienen
Berlin u.a. 2007: de Gruyter
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henrike Maria Zilling, Technische Universität Berlin

Wilhites Untersuchung stellt mit Hieronymus Tertullian ganz in einen afrikanischen Kontext. Fest steht aber nur, dass die Metropole Karthago seine Heimat war, in der er lebte und wirkte; sonst wissen wir über Tertullian so gut wie nichts, weil er selbst uns so wenig über sich verrät; und auch das Zeugnis der Kirchenväter ist eher rudimentär. Wilhite nähert sich diesem Problem, indem er den postkolonialistischen Ansatz in der Anthropologie als Sichtweise voraussetzt, welcher „as a ‚reading practice‘“ ein ganzes Set neuer hermeneutischer Fragen aufwerfe (S. 4). Damit steht seine Arbeit unter der übergeordneten Fragestellung: „Does Tertullian write with an African self-identity that exists alongside his other identities, such as that of a Christian?“ (S. 8) Insgesamt sind es fünf Theorien oder fünf Identitätsfacetten, die Wilhites theoretischen und methodischen Zugriff auf Tertullian leiten: die „Social Identity“, die „Kinship Identity“, die „Class Identity“, die „Ethnic Identity“ und die „Religious Identity“.

Seine Arbeit gehorcht einem strengen Konzept: Jedes Kapitel wird von einem Theorie- und Methodenteil eröffnet, der leider meist länger als die auf Tertullian verwendeten Seiten ausfällt. Fruchtbar erweist sich diese Herangehensweise vor allem im ersten Untersuchungsabschnitt. Der Ansatzpunkt ist hier das Konzept der Identität in Bezug auf den/das Andere/n („Other“, S. 39ff.). Im romanisierten Afrika betraf dies drei soziale Hauptgruppen: erstens die römischen Besatzer, die sich selbst im Gegensatz zu den Barbaren oder den provinzialen „Anderen“ definierten; zweitens die Masse der unterworfenen, überwiegend indigenen Nordafrikaner, deren Identität aus Familien- und Clanzugehörigkeit, aus der Sprache oder ihrer Religion sowie neuerdings durch die Erfahrung, nicht römisch, sondern nordafrikanisch zu sein, geformt war; drittens die afrikanischen Eliten, die in ihren Assimilations- und Akkulturationsbemühungen soweit gingen, dass sie sich noch römischer gaben, als die Römer es waren („Selbstromanisierung“). Ein solches Verhalten könnte vor seiner Konversion auch von Tertullian praktiziert und möglicherweise in der Schrift De pallio verarbeitet worden sein. Entscheidend für den „Sitz im Leben“ der Mantelschrift ist hingegen die agonale Konfrontation zwischen dem Orator christianus Tertullian und paganen Rhetoren. Wilhite betont, dass ein antirömischer Tertullian die „Principes semper Africae“ aufrufe, sich von den Römern abzugrenzen (S. 145). Diese Wertung scheint mir verkürzt, beachtet man, dass Tertullian in der Schrift besonders hervorhebt, dass das Pallium nunmehr Christen bekleide und das Christentum eben die „melior Philosophia“ sei, welche im Unterschied zur Philosophie (und Rhetorik) ohne viele Worte auskomme und sich mit dem sittlichen, weil einfachen Lebenswandel begnüge.1 Tertullian, so scheint es, ist doch eher an ethischen und weniger an ethnischen Fragen interessiert.

Aufschlussreich sind wieder Wilhites Überlegungen zu den potenziellen Anklägern der Christen. Für Kleinasien wissen wir aus dem bekannten Pliniusbrief, dass es sehr wahrscheinlich die lokalen Opferkultunternehmer und Gewerbetreibenden waren, denen es wirtschaftlich schlechter ging, seitdem die Christen nicht mehr am Opferkult und der örtlichen Festkultur teilnehmen wollten. Man lastete den Christen also einen regelrechten Wirtschaftsboykott an, dem der Statthalter Plinius in Kleinasien offensichtlich erfolgreich begegnen konnte, indem er einerseits hartnäckige Christen zum Tode verurteilte und andererseits auf eine gesellschaftspolitische Reintegration der Apostaten setzte. In diesem Sinne interpretiert Wilhite die afrikanische Situation im Fall der Märtyrer aus der kleinen Ortschaft Scili: Der Statthalter Saturninus, ein Angehöriger der neuen Eliten, wie Wilhite vermutet, will beispielsweise den Christen Speratus zu einem Schwur beim Genius des Kaisers bewegen und dadurch den gesellschaftlichen Frieden wiederherstellen, was allerdings bei allen sechs angezeigten Christen misslingt.2 Wilhite stellt plausibel dar, dass diese „postkolonialistische“ Realität durchaus vergleichbare Konsequenzen für das regionale Christentum und die Gemeinden vor Ort hatte und dass in den Antworten der bekenntnistreuen Christen eine spezifisch christliche Identität begegnet, die sich in einem deutlichen Gegensatz zwischen dem „‚Lord‘ of the Christians and the ‚lord‘ of the world“ zeigt (S. 57).

Kritisch zu beurteilen ist es dagegen, dass Wilhite die christliche Ablehnung Roms zu einseitig akzentuiert. Betrachtet man beispielsweise die Äußerung der scilitanischen Märtyrerin Donata, entsteht ein anderes Bild: Diese bekennt: „Ehre dem Kaiser als Kaiser, doch Gott allein ist’s, dem Furcht (timor) gebührt“.3 Die Märtyrerin trifft eine Unterscheidung zwischen Kaiser und Gott, indem sie deutlich macht, dass die Gehorsamspflicht gegenüber dem Willen Gottes für die Christen eine stärkere Kraft als der Gehorsam gegenüber dem Kaiser war. Dies ist aber etwas anderes als eine antirömische Haltung. Eine solche sieht Wilhite bei Tertullian dagegen durchgängig vorhanden: „[I]n both books of Ad nationes Tertullian constructs an audience which is different from his own social identity yet shares a common enemy, or ‚Other‘: the Roman colonizers.“ (S. 67) Auch im Apologeticum sei Rom der Feind und darüber hinaus eine nichtchristliche „audience located specifically in Rome“ der direkt angesprochene Gegner (S. 69f. mit Verweis auf Apol. 35,6). Völlig unklar bleibt indessen, wie das Apologeticum eine pagane Leserschaft speziell in der Stadt Rom gefunden haben soll. Hier wird es zum Problem, dass Wilhite das Hauptwerk Tertullians nicht angemessen in seiner komplexen Argumentation berücksichtigt, denn sonst hätte das Angebot, welches Tertullian hier dem römischen Staat macht, nicht übergangen werden können. Dieses lässt am Bild eines antirömischen Tertullian doch eher Zweifel aufkommen. Ein Ansatz wäre es, den christlichen Hörer seiner Schrift ernst zu nehmen. Dann zielt die Verteidigung des christlichen Glaubens, zu der auch der innovative Entwurf eines christlichen Römerreiches im Sinne des paulinischen Diktums (Röm 13,1–7) gehört, vor allem nach innen: Wer sonst sollte diese christliche Reichstheologie verstehen als die Christen? Für die christliche Identitätsfindung leistet die Apologie Glaubenskonsolidierung, und diese erfolgt ganz entschieden, indem einerseits die Kluft zwischen Christen und Nichtchristen betont und andererseits – zugespitzt in der Äußerung „Uns (Christen) gehört der Kaiser eher an, von unserem Gott ist er eingesetzt“ – ein christlicher Kaiser beschworen und vereinnahmt wird.4

Nicht nachvollziehbar ist auch, warum Wilhite überhaupt selten nach der Intention der besprochenen Werke fragt; dabei wäre ihm die christliche Gemeinde von Karthago näher gekommen, mit der Tertullian offensichtlich Probleme hatte. So bleibt die Gemeindesituation in Karthago überhaupt bei Wilhite konturlos und das, obwohl Untertitel und Einleitung doch eine Kontextualisierung Tertullians versprechen. Dies mag damit zusammenhängen, dass ihm Schöllgens sozialgeschichtliche Untersuchung über Karthago zur Zeit Tertullians vermutlich nicht bekannt ist, zumindest zitiert er sie nicht.5 Unverständlich bleibt so, warum er bei der anthropologischen Multiperspektivität ausgerechnet die lokale Perspektive von Tertullians Karthago weitgehend ausblendet.

Wilhite lässt bewusst den Theologen Tertullian außen vor, aber er will dennoch seine religiöse Identität anhand weniger Textauszüge aus Ad martyras und den Schriften aus der montanistischen Phase Tertullians aufspüren. Für Tertullians Martyriumsparänese verweist er auf Ad mart. 4, wo exemplarisch mythologische und historische Heroinen vorgestellt werden. Er erwähnt die demonstrative Selbsttötung oder vielmehr Opferung der Lucretia für das Ende monarchischer Tyrannei. Nicht einleuchten will, warum dies „in direct resistance to Rome“ geschah (S. 166). Ein antirömisch eingestellter Tertullian hätte diese Galionsfigur römischer Tugendhaftigkeit wohl kaum als Exempel angeführt. Eines scheint mir dagegen ganz deutlich zu sein: Die von Tertullian verlangte bedingungslose Martyriumsbereitschaft stand nicht einmal für die Martyriumsanwärter, die im Gefängnis von Karthago schmachteten, wirklich fest. Gerade hier spiegeln die von Wilhite angeführten Textstellen die Gemeindesituation in Karthago wider, die eine in den Augen Tertullians laxe Gemeinde zeigen, welche nicht bereit ist, seiner Martyriumstheologie und seinen rigoristischen disziplinären Forderungen zu entsprechen. Hier liegen auch die Ursachen für seine Hinwendung zum Montanismus, dessen afrikanische Form Tertullian als wichtiges Mitglied einer ecclesiola in ecclesia vertritt – konkret ist an eine montanistische, aber nicht schismatische Hauskirche um Tertullian zu denken, die in einem Spannungsverhältnis zu der von diesem so bezeichneten „Psychikerkirche“ steht, wobei für Wilhite der an erster Stelle adressierte „Psychiker“ der Bischof von Rom und die römische Kirche ist (S. 180).

Es stellt sich hingegen noch eine ganz andere Frage: Warum ist Tertullian als stadtbekannter Christ und ausgewiesener Befürworter des Martyriums selbst kein Märtyrer geworden? Schützte Tertullian vielleicht doch sein römisches Bürgerrecht oder sogar eine nicht zu beweisende römisch-italische Herkunft vor einem Blutzeugnis? Wir wissen es genauso wenig wie Wilhite, der aber in seinen Schlussfolgerungen behauptet, dass „Tertullianus Afer“ bei Hieronymus 6 nicht nur ein Hinweis auf den Lebensmittelpunkt, sondern ein sicheres Indiz für indigene afrikanische Wurzeln Tertullians sei (S. 177ff.).

Insgesamt gelingt es Wilhite zwar, neue Perspektiven zu besetzen, er erreicht aber kein wirkliches „Re-reading“ von Tertullians Werken. Das kann insofern auch nicht gelingen, als die Analysen der ausgewählten Werke von vornherein auf wenige Schlaglichter reduziert werden. Und bei aller Stringenz in der Vorgehensweise Wilhites liegt doch etwas tendenziell Schematisches darin, fünfmal nach demselben Muster aufgebaute Kapitel vorzufinden. Betont sei allerdings, dass Wilhite es versteht, diese einführenden Abschnitte gut und eingängig zu schreiben. Letztlich stellt sich die Grundsatzfrage, ob es überhaupt so etwas wie eine einzige afrikanische Identität gibt – immerhin haben wir es in Nordafrika, dem ehemals punisch beherrschten Afrika, mit einer berberischen nordafrikanischen Urbevölkerung und eben mit den Puniern zu tun, um nur zwei ethnische Identitäten zu nennen. Entsprechend diffizil und problematisch ist der Nachweis einer ethnisch definierten afrikanisch-christlichen Identität bei Tertullian. Mein Haupteinwand jedoch ist der, dass der theoretische Ansatz nach dem Anwendungsfall „Tertullian“ keine wirklich kritische Überprüfung erfährt; denn auch wenn der Befund mitunter negativ ausfiele, wäre das auch ein Ergebnis.

Anmerkungen:
1 De pall 6,1–2; vgl. McKechnie, Paul, Tertullian’s De pallio and life in Roman Carthage, in: Prudentia 24,2 (1992), S. 44–66.
2 PSS 5 und14.
3 PSS 9; vgl. Mt 22,21.
4 Apol. 33,1; vgl. 30,1–4; 26,1.
5 Schöllgen, Georg, Ecclesia sordida? Zur Frage der sozialen Schichtung frühchristlicher Gemeinden am Beispiel Karthagos zur Zeit Tertullians, Münster 1984.
6 Hier. chron. A.D. 208, GCS 47, S. 212k Helm.

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