W. Hardtwig (Hrsg.): Ordnungen in der Krise

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Titel
Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933


Herausgeber
Hardtwig, Wolfgang
Reihe
Ordnungssysteme 22
Erschienen
München 2007: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
566 S., 34 Abb.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Prinz, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster

Den Ausgangspunkt des Sammelbandes bilden Überlegungen zur Jahrhundertwende als Epochenschwelle und zur Krisenhaftigkeit des Wegs in die moderne Gesellschaft, wie sie der Essener Historiker Detlev Peukert Ende der 1980er-Jahre angestellt hat. Peukerts Deutung gewann ihre spezifischen Konturen besonders durch die Abgrenzung von dem, was er und viele andere, die ihm bald folgten, als Defizite der bis dahin vorherrschenden Sonderwegsdeutung deutscher Geschichte ansahen. Kritisiert wurde erstens die nahezu ausschließliche Erklärung des Nationalsozialismus aus Spannungen zwischen überständigen Traditionen und dem rasch voranschreitenden Modernisierungsprozess. Dem stellte Peukert die These gegenüber, dass der Nationalsozialismus vor allem aus inneren Widersprüchen und Krisen des Modernisierungsprozesses selbst zu erklären sei. Zweitens bemängelte er die Überbetonung der Stärke traditioneller Elemente in der deutschen Gesellschaft bis 1945 überhaupt. Inzwischen wird der relativen Modernität aller drei Epochen – des Kaiserreichs inklusive des Ersten Weltkriegs, der Weimarer Republik und auch des Nationalsozialismus – stärker als zuvor Rechnung getragen. Fragwürdig erschien drittens die tendenzielle Abwertung des Ersten Weltkriegs als eines krisenverschärfenden Elements. Tatsächlich ist unter dem neuen Paradigma gerade der Erste Weltkrieg in seiner radikalisierenden Wirkung gewissermaßen wieder aus der Versenkung aufgetaucht, in die ihn die überstarke Betonung der Kontinuität zwischen Weimar und dem Kaiserreich zeitweise verbannt hatte. Und schließlich erhob Peukert Einspruch gegen die Relativierung der Weimarer Republik als eigenständiger Epoche. Im Kontext der Sonderwegsthese war sie eher als Fortsetzung des Kaiserreichs unter anderen politischen Bedingungen denn als Periode aus eigenem Recht erschienen.

In groben Strichen ist dies auch der historiographische Rahmen, in welchem sich der vorliegende voluminöse Sammelband mit seinen – inklusive Einleitung – 22 Einzelbeiträgen bewegt. Die Besonderheit liegt in der thematischen Schwerpunktsetzung. Behandelt werden, in der Formulierung des Herausgebers Wolfgang Hardtwig, „Grundorientierungen“ (S. 11) fundamentalanthropologischer Art und deren krisenhafte Veränderung zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, und zwar: „Menschen und ihr Raum: Grenzraum, Naturraum, kolonialer Raum“, „Zeiterfahrungen und Zeitkonzepte“, „Geschlecht – Körper – Emotion“, „Massengesellschaft und Individualität“, „Gewalterfahrungen und Gewaltstrategien“ sowie „Die Krise der Ordnungen und das Bild“.

Der Band liefert viele Beispiele für ein differenzierteres, positiveres Bild der Weimarer Epoche. Kathleen Canning etwa verweist darauf, dass es mit der Erweiterung der Bürgerrechte, nicht zuletzt der Verleihung wichtiger politischer Partizipationsrechte an Frauen, eine neue Plattform für fortschrittlicheres Denken gab. Für eine nachhaltige Korrektur am Bild der Republik als Ort pessimistischer Zukunftserwartungen plädiert Rüdiger Graf in einem methodisch anspruchsvollen Beitrag. Große Teile der Weimarer Gesellschaft hätten trotz der Kriegsniederlage einem ausgesprochenen „Gestaltungsoptimismus“ gehuldigt (S. 139). Ein Beispiel für solchen Optimismus stellt der Beitrag von Dirk van Laak vor: Er zeigt, welch große Bedeutung Afrika im Zukunftshorizont und in Machbarkeitsvisionen der Zeitgenossen hatte – Visionen, die bis hin zu Plänen einer Trockenlegung des „erdgeschichtlichen Irrtums Mittelmeer“ gingen.

Unter dem Stichwort „Krise der Ordnungen“ fragt Alexander Schug nach einem zentralen Element im Erwartungshorizont und Selbstverständnis des deutschen Bürgertums: der Erwartung einer klaren Abgrenzung zwischen hoher Kunst, Werbung und politischer Propaganda. Was im Kaiserreich noch nicht bzw. erst in Ansätzen existierte, setzte sich in den 1920er-Jahren durch. Die Zellmembranen zwischen den Sphären wurden durchlässiger.

Als Kritik an vereinfachten Vorstellungen über Modernisierungsdefizite in der Weimarer Republik lässt sich auch Thomas Mergels Beitrag lesen. In nicht aufgelöstem Gegensatz zum Beitrag von Alexander Schug vertritt Mergel die These, dass die politische Ästhetik der republikanischen Parteien mit ihrem Anspruch auf Rationalität in der Republik noch klar unterscheidbar blieb von kommerzieller Ästhetik und Bildsprache.

Korrekturen anderer Art bietet Per Leos Untersuchung, die mit der Gegenüberstellung von Masse und Individuum ein zentrales Element bürgerlicher Selbstdeutung behandelt. Leo zeigt durch genaue Analyse von Großstadtinszenierungen, dass diese Gegenüberstellung mit dem Übergang zur Republik offenbar an Plausibilität und Einfluss verlor. Demgegenüber demonstriert Moritz Föllmer, dass das Ideal der Individualität im Verlauf der 1920er-Jahre in der liberalen Großstadt-Presse an Bedeutung gewann und, in deutlich abgeschwächter Form, über das Jahr 1933 hinweg fortlebte. Dass das Gerichtswesen und die öffentlichen Gerechtigkeitsvorstellungen nach 1919 mit der Überschrift „politische Reaktion“ nicht hinreichend beschrieben sind, lässt sich dem Beitrag von Daniel Siemens entnehmen. Das Verständnis von Verbrechen und Verbrechern wandelte sich in den 1920er-Jahren und wurde differenzierter.

Zu den gesellschaftlichen Strukturen, die von der Jahrhundertwende bis in die 1930er-Jahre hinein durchgängig Krisen und Ängste generierten, gehörte das Geschlechterverhältnis. Theaterstücke ganz unterschiedlicher Tendenz und Provenienz, die den Ersten Weltkrieg zum Thema machten, konvergierten im Versuch, „beschädigte Männlichkeit“ zu restaurieren, wie Martin Baumeister schreibt (S. 372). Auf Wandel in der Kontinuität weist Ute Planert hin. Sie unterstreicht in ihrem Beitrag, dass keine gerade Linie von entsprechenden Debatten über die Geschlechterverhältnisse um die Jahrhundertwende in die Weimarer Jahre bzw. in die NS-Zeit führt. In den radikalsten Entwürfen der Weimarer Rechten wurden Frauen aus dem Geburtsvorgang des kommenden Reiches schlichtweg eskamotiert. Kontinuität vom Kaiserreich zur Republik und Radikalisierung müssen in vielen Bereichen zusammen gedacht werden.

Auf eine andere epochenübergreifende Kontinuität verweist der Beitrag von Thomas Hippler. Erster und Zweiter Weltkrieg werden häufig kontrastierend aufeinander bezogen – als Stellungs- und Bewegungskrieg. Kaum im Bewusstsein verankert ist dagegen, dass der Erste Weltkrieg in Planung und Praxis bereits in großem Umfang ein Luftkrieg war und die daran anknüpfenden Planungen wesentliche Aspekte des Zweiten Weltkriegs vorwegnahmen.

Dass der NS-Staat ganz und gar nicht als traditionsverhaftetes Regime zu verstehen ist, wird in den Beiträgen von Thomas Rohkrämer und Willi Oberkrome über die Heimatschutzbewegung deutlich. Beide Autoren stellen übereinstimmend fest, dass es nach 1933 keine nachhaltige Aufwertung dieser Bewegung und ihres konservierend gedachten Programms gab.

Als ein implizites Plädoyer dafür, über Elemente der Sonderwegsdeutung neu nachzudenken, lässt sich schließlich Martin H. Geyers Beitrag lesen. Er zeigt nämlich, dass einer der sozialwissenschaftlichen Schlüsselbegriffe zur Beschreibung der deutschen Gesellschaft dieser Jahrzehnte aus dem historischen Kontext selbst stammt. Mit seiner Verankerung in der Begriffswelt der Zeitgenossen erfüllt der Begriff der „Ungleichzeitigkeit“ wesentliche Anforderungen für eine gehaltvolle historiographische Kategorie.

Zur Einordnung des Bandes seien abschließend einige übergreifende Gesichtspunkte genannt. So ertragreich es ist, nach Bedrohungsgefühlen und Krisenbewusstsein in Reaktion auf die Auflösung tradierter Ordnungsvorstellungen zu fragen, so wichtig ist es, weiterhin im Blick zu behalten, dass die große Mehrheit der Weimarer Zeitgenossen den Krisenbegriff in erster Linie mit der Wirtschaft assoziierte: Deren Entwicklung erschien damaligen Kommentatoren als eine nicht endenwollende Kette fortgesetzter Krisen – von der „Inflationskrise“, über die „Stabilisierungskrise“, die „Reinigungskrise“, die „Rationalisierungskrise“ und schließlich die „Weltwirtschaftskrise“. Im Blick auf das, was in den 1950er-Jahren geschah, bleibt eben doch zu fragen, ob all die Ordnungskrisen und Panikattacken der Weimarer Zeit solche Durchschlagskraft gewonnen hätten, wenn die Verteilungsspielräume vergleichbar stark zugenommen hätten wie nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Vorzug der Sonderwegsdeutung bestand gerade darin, die Forschung nachhaltig zum Vergleich anzuregen. Der Versuch, die Krisen der Zwischenkriegszeit als typische Folgen von Modernisierungsprozessen zu deuten, rückt demgegenüber die prozessuale Binnenlogik in den Vordergrund. Ob das, was sich hier andeutet, Nuancierungen eines im Grundsätzlichen unverändert geltenden Befundes oder ernsthafte Revisionen sind, kann immer nur der Vergleich zeigen – diachron insbesondere in Richtung auf die Bundesrepublik, synchron als Vergleich mit anderen Gesellschaften.

Für jeden, der sich mit deutscher Sozial- und Kulturgeschichte seit der Jahrhundertwende beschäftigt, ist der von Wolfgang Hardtwig herausgegebene und hier nur ausschnitthaft vorgestellte Band ein „Muss“. Die Beiträge bewegen sich empirisch wie methodisch, stilistisch wie vom Reflexionsniveau her auf einem beeindruckenden Niveau. Nachdem lange Zeit das Kaiserreich historiographisch runderneuert worden ist, gerät nun zunehmend Weimar in den Fokus. Das Bild der Republik erscheint differenzierter, in manchen Aspekten positiver. Der nächste Schritt sollte es sein, solche Nuancierungen mit der Sozial- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik zu verknüpfen.