Titel
Lawrence von Arabien: Don Quichotte oder Kreuzfahrer?. Die Konstruktion von T. E. Lawrence als Mann des Mittelalters in der Neuzeit


Autor(en)
Grünjes, Ina
Reihe
Hochschulschriften 12
Erschienen
Berlin 2006: Trafo Verlag
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 27,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Menning, Universität Trier

Thomas Edward Lawrence (1888-1935), durch die Verfilmung von 1962 den meisten besser bekannt als „Lawrence von Arabien“, war eine schillernde Gestalt. Geschichtsstudent und Archäologe vor dem Ersten Weltkrieg, gelangte er durch Filmvorträge, die seine Rolle im Arabischen Aufstand 1916-1918 glorifizierten, zu Ruhm. Nach Tätigkeiten bei den Friedensverhandlungen 1918/19 und im britischen Kolonialministerium trat er 1922 nach einem Namenswechsel als einfacher Soldat in die Royal Air Force ein und starb 1935 kurz nach seiner Entlassung an den Folgen eines Motorradunfalls. Mit all den Widersprüchlichkeiten der Biographie T. E. Lawrence’ einerseits, der langen Tradition biographischer Studien zu ihm andererseits, verspricht die hier vorliegende Dissertation in der Untersuchung der Konstruktion seiner Person in Biographien ein hervorragendes Subjekt gefunden zu haben.

Dem Untertitel folgend definiert Grünjes als Hauptziel: Es sollen „die Ursprünge der Darstellungen untersucht [werden], in denen Lawrence’ Leben immer wieder mit dem Mittelalter in Verbindung gebracht wird.“ (S. 12) Selbstaussagen und Aussagen der Biographien sollen dazu miteinander konfrontiert werden und anhand der vier Themenbereiche Illegitimität der Geburt, Mittelalterinteresse, Kreuzfahrerkonstruktion und Eintritt in die Royal Air Force die Konstruktion Lawrence’ in den Biographien untersucht werden. Gleichzeitig sollen Wandel und Persistenz der Darstellungsformen in den Blick genommen werden. Dabei wurden für die Untersuchung zwecks Eingrenzung des Materials nur Biographien aus dem angloamerikanischen Raum ausgewertet (S. 12).

Der Untersuchungsteil der Arbeit gliedert sich im Anschluss an die Themen in vier Kapitel. Im ersten Kapitel wird die illegitime Geburt untersucht. Neben der Frage, ab wann T. E. Lawrence wusste, dass seine Eltern nicht verheiratet waren, werden seine eigenen Aussagen dazu und die von Bekannten vorgestellt. Dabei wird gezeigt, dass er selber offensichtlich kein Problem mit seiner Illegitimität hatte. Dennoch wurde das Thema in Biographien seit 1955 immer wieder als Schlüssel zum Verständnis seiner Person herangezogen, da das Wissen um die Illegitimität eine negative Auswirkung auf seine Psyche gehabt haben soll. Als Ergebnis, so Grünjes, habe Lawrence zwar ein negatives Selbstbild besessen, die Illegitimität müsse hierfür aber nicht verantwortlich gewesen sein. Die Theorien der Biographen hierzu basierten daher nicht auf Fakten, sondern eigenen „Wertvorstellungen“ (S. 73). Aus den negativen Folgen der Illegitimität auf die Psyche schlossen im Weiteren zahlreiche Biographien, dass sich Lawrence in mittelalterliche Lebensphantasien geflüchtet habe. Sie begründen dies vor allem mit der Auswahl der Lektüre des jungen Lawrence. Das zweite Kapitel kann hierzu feststellen, dass Lawrence’ Interessen an der Literatur keineswegs allein dem Mittelalter galten, und die inhaltlichen Füllungen des Begriffs Mittelalter „mehr über die Sichtweise der Autorinnen und Autoren [...] verraten, als dass sie tatsächlich etwas über diese Themen oder Lawrence aussagen.“ (S. 124) Eine vermeintliche Flucht in mittelalterliche Lebensphantasien habe somit nicht stattgefunden.

Die Stilisierung Lawrence’ als Kreuzfahrer wird im dritten Kapitel untersucht. Dabei stellt sich heraus, dass ein ursprünglich sehr differenzierter Vergleich zwischen seiner Rolle im Arabischen Aufstand und den mittelalterlichen Kreuzzügen, die er in seiner universitären Abschlussarbeit untersucht hatte, sich im Laufe der Zeit abschliff, bis Lawrence schließlich als Kreuzfahrer an sich dargestellt werden konnte. Freilich hat auch dies wieder wenig mit der Realität zu tun, wie Grünjes zeigt. Lawrence sah sich selber weder als Kreuzfahrer noch als dessen neuzeitliches Pendant. Ähnliches lässt sich im vierten Kapitel verfolgen, in dem Lawrence’ Eintritt als einfacher Soldat in die Royal Air Force betrachtet wird. Dieser ist in den Biographien immer wieder mit dem Eintritt ins Kloster, der für einen mittelalterlichen Ritter nach seiner Rückkehr vom Kreuzzug nicht unüblich war, gleichgesetzt worden. Auch hier kann Grünjes zeigen, wie ein ursprünglich differenzierter Vergleich Lawrence’, der nur einige strukturelle Ähnlichkeiten des Kloster- und Kasernenlebens umschloss, sich verselbstständigte. Als Ergebnis ihrer Untersuchung kann zusammengefasst werden: Die Biographen „scheiterten ... am äußerst komplexen Charakter Lawrence’“ (S. 267) und haben es nicht vermocht, dessen Beschäftigung mit dem Mittelalter richtig zu deuten.

Drei Kritikpunkte sind anzumerken: Erstens klärt die Biographie zwar, wie die biographischen Konstrukte entstanden. Die viel interessantere Frage aber, warum diese entstanden, bleibt ungeklärt. Grünjes beklagt zwar immer wieder, „wie unkritisch mit dem Quellenmaterial seitens der Biographen umgegangen wurde“ (S. 216, auch 135, 138), fragt aber nie danach, warum dies geschah. Dies verdeutlicht die mangelnde Einbettung der Biographieentstehungen in den historischen Kontext, der zumeist nur als nicht näher ausgeführter „Zeitgeist“ (S. 193) oder in Form von „romantischen Klischees des Publikums“ (S. 264), die bedient wurden, auftaucht. Es ist jedoch erst dieser Hintergrund der verschiedenen Biographien T.E. Lawrence’, der den Umgang mit dem Quellenmaterial verständlich macht und den wirklichen Erkenntnisgewinn versprochen hätte. Zweitens ist die Literaturgrundlage zu bemängeln. So wird die Literatur zur Theorie der Biographie insgesamt kaum und die aktuelle gar nicht wahrgenommen. Auch Werke zur englischen Gesellschaftsgeschichte sind Mangelware. Gerade die Einbindung aktueller Literatur hätte aber wichtige Fragehorizonte und Erklärungsmöglichkeiten aufzeigen können. Drittens sind die zahlreichen Monita Grünjes’ an den Biographien zwar zu Recht angebracht, aber auch sie verheddert sich zuweilen in der Quellenlage. So mangelt es vielfach an der Unterscheidung zwischen Aussagen, die Lawrence während des Geschehens tätigte, und Stellungnahmen, die er dazu Jahre später niederschrieb. Dass er aber um die Schaffung eines Bildes seiner Person auch selbst bemüht war, kann man daran erkennen, dass er Gespräche mit seinen Biographen führte und deren Manuskripte teilweise vor der Veröffentlichung, wenn auch nicht immer mit Erfolg, korrigierte.

Dass vieles in den Biographien zu T. E. Lawrences seit den 1920er-Jahren nicht mit der „Realität“ bzw. seinen Selbstaussagen übereinstimmt, hat Ina Grünjes gezeigt. Sie klärt, „wie“ die Konstruktionen der bisherigen Biographien entstanden, aber nicht „warum“. Am Ende bleibt das Gefühl einer Biographie ex negativo. Nach dem Lesen weiß man besser, was Lawrence nicht war. Weniger klar aber wird, was er nun tatsächlich war, oder warum die Biographen ihn so konstruierten, wie sie es taten.