R. Karl: Altkeltische Sozialstrukturen

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Titel
Altkeltische Sozialstrukturen.


Autor(en)
Karl, Raimund
Reihe
Archaeolingua 18
Erschienen
Budapest 2006: Archaeolingua
Anzahl Seiten
609 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Müller, Universität Mannheim

Das Interesse, das sowohl von Wissenschaftlern als auch von Laien den Kelten entgegengebracht wird, ist ungebrochen. Die Komplexität keltologischer Forschungen wird dabei durch das weite Verbreitungsgebiet dieser Volksgruppe bedingt, was zu einer Vielzahl von Fragestellungen und Lösungsmodellen führt. Aufgrund der Forschungen der letzten Jahrzehnte müssen hierbei Probleme, die auf den ersten Blick schon in der älteren Literatur thematisiert wurden, von neuem behandelt und die Erkenntnisse dem aktuellen Stand der Forschung angepasst werden. Vor allem die Interdisziplinarität keltologischer Forschung macht diese Arbeiten unabdingbar, erschwert sie aber auch.

Der Wiener Keltologe und Prähistoriker Raimund Karl behandelt in seiner 2006 erschienenen Habilitationsschrift die altkeltischen Sozialstrukturen. Zu Beginn seiner Arbeit legt er seine zum Teil komplexen theoretischen und methodischen Überlegungen dar. Dabei versucht er diese bildhaft anhand naturwissenschaftlicher Beispiele zu erklären, was gelegentlich gezwungen und zusammenhanglos wirkt. Dem folgt ein Kapitel, welches den aktuellen Forschungsstand wiedergibt und intensiv auf die Quellenproblematik eingeht. Hier werden auch einige der bislang entwickelten Sozialmodelle vorgestellt und erläutert (S. 40–61). Dabei äußert Karl berechtigte Kritik an der Vorgehensweise von Fachkollegen, insbesondere an ihrer Auswahl der Belegquellen.1 Wichtige Forschungsliteratur wird den einzelnen Modellen zugeordnet, wobei Karl zum Teil relativ lange Zitate anderer Wissenschaftler in seinen Text einfließen lässt. Dass ihm beim Beleg dieser Zitate auch einmal ein Fehler unterläuft 2, ist zwar zu verschmerzen, doch hätte auch der Verzicht auf diese Zitate kaum einen Qualitätsverlust dargestellt.

Im vierten Kapitel beginnt Karl mit der Vorstellung seines neuen Modells altkeltischer Sozialstrukturen, welches seinen eigenen Angaben zufolge versucht, „Elemente darzustellen, die im kulturellen Kontinuum der zentral- und westeuropäischen Eisenzeit, aber auch in den Osten bis in den zentralanatolischen Raum hinein zur Entstehung von Selbstähnlichkeiten im sozialen Aufbau ‚keltischer‘ Gesellschaften geführt haben“ (S. 63). Um dies zu erreichen, erörtert Karl zuerst die Grundlagen altkeltischer Sozialstrukturen. Hierbei beginnt der Autor mit der Bedeutung der Wohneinheiten sowie den Rechten der Hausherren und -frauen und behandelt in diesem Zusammenhang auch das Eherecht. Als Beleg für eine Polygamie bei den Kelten, die Karl nicht anzweifelt, zieht er allerdings wenig überzeugend den Germanen Ariovist heran, da dieser eine keltische Frau hatte und in Gallien agierte (S. 76). Nach der anschließenden Betrachtung weiterer Haushaltsmitglieder wie Kindern, Sklaven und Dienern wendet sich Karl der Bedeutung der Abstammung zu. In diesem Rahmen liefert er eine ausgezeichnete Übersicht über keltisches „Eherecht“, der eine detailreiche Übersicht zu den diversen Beziehungen folgt, so etwa zu den unterschiedlichsten Eltern-Kind-Beziehungen. Anschließend geht Karl den alltäglichen Beziehungen nach und stellt Überlegungen zu den verschiedenen Ständen und Berufen an. Auch das Klientelwesen wird ausführlich erörtert, wobei die Bedeutung des Adels – auf die Problematik des deutschen Begriffes weist Karl zu Recht hin (S. 326) – sowohl als Klienten als auch als Patrone verdeutlicht wird. Abschließend konstatiert Karl überzeugend eine relative Stabilität seiner beschriebenen Sozialstrukturen.

Das fünfte Kapitel widmet sich der sozialen Differenzierung, die sich aus dem im vierten Kapitel erläuterten System ergibt. Zu Recht weist Karl darauf hin, dass die Forschung oftmals nur bemüht ist, eine hierarchische Differenzierung vorzunehmen, die „heterarchische“, also innerhalb einer sozialen Ebene, aber meist vernachlässigt wird. Eine Betrachtung der Schnittpunkte beider Differenzierungsarten erfolgte, wie Karl richtig bemerkt (S. 335), bislang nicht. In der Folge entwickelt Karl selbst ein komplexes, aber überzeugendes Modell der sozialen Differenzierung bei den Kelten. Hierfür bestimmt er in schon gewohnter Gründlichkeit den „sozialen Wert“ einzelner Personengruppen, wobei er ausführlich auf einzelne Berufsgruppen wie Schmiede, Ärzte und Zimmerleute eingeht, um anschließend die durch ihre soziale Stellung privilegierten Personen zu behandeln. Ausführlich geht Karl auf Funktion und Identifizierung keltischer Könige ein, und stellt dabei die berechtigte Frage, inwieweit man anhand von Grabbeigaben sichere Aussagen über den Bestatteten machen kann (S. 381–384 und 404). Überzeugend wird in diesem Kapitel die Komplexität der sozialen Differenzierung der keltischen Gesellschaft dargestellt. Abschließend untersucht der Autor die soziale Mobilität und konstatiert, wohl zu Recht, für das von ihm beschriebene System eine Langzeitstabilität (S. 421).

Da jedes soziale System in irgendeiner Weise sozialem Druck und damit auch Veränderungen unterworfen ist, kommt auch Karl nicht umhin, sich in seinem sechsten Kapitel dieses Themas anzunehmen. Er unterscheidet zwischen zwei Strategien sozialer Interaktion (S. 423): der Ausübung von Zwängen und der freiwilligen Kooperation. In der Folge beschreibt Karl die verschiedenen Interaktionsmöglichkeiten in und zwischen den unterschiedlichsten sozialen Gruppen, beginnend mit der Familie bis hin zu den größeren sozialen Gruppen, wobei er auch die religiösen Gruppierungen (Barden und Druiden) nicht außer Acht lässt. Da jedes soziale System in einer wechselseitigen Abhängigkeit zu politischen Handlungen steht, beschäftigt sich Karl im siebten Kapitel mit dieser Thematik, wobei ihn „Prozesse, die ein wahrscheinliches Resultat aus dem vorgestellten Modell sind“ (S. 467), interessieren. In diesem Kapitel liefert der Autor einen ausgezeichneten Überblick über die Literatur zu den keltischen Herrschaftssystemen und bespricht eine Vielzahl politischer Situationen. Unter anderem wertet er die Königtümer der Kelten als Sonderform der keltischen Adelsrepubliken (S. 483). Abschließend entwickelt Karl eine zu seinem zuvor beschriebenen Sozialsystem passende „Metaerzählung“ eisenzeitlicher keltischer Regierungsformen. Im letzten Kapitel gibt Karl eine gelungene zweisprachige Zusammenfassung seiner Ergebnisse, gefolgt von einem umfangreichen Literaturverzeichnis und einem ebenso umfangreichen Glossar. Einzig das Fehlen eines Index ist an dieser Stelle negativ anzumerken.

Karls Arbeit ist durch einen äußerst kritischen Umgang mit anderen Forschungsergebnissen geprägt. Dabei ist seine Kritik stets fundiert und überzeugend vorgetragen. Dass sich Karl um einen möglichst umfassenden Forschungsüberblick bemüht hat, zeigen die zahlreichen Literaturangaben. Erfreulich deutlich, vor allem für den in der Materie unerfahrenen Leser, weist Karl wiederholt auf Probleme der Datenerhebung und -auswertung hin (so unter anderem auf S. 337f.). Seine Argumentation ist dabei stets wohlbegründet. Auffällig ist sein Umgang mit dem Quellenmaterial, das meist sinnvoll und erfreulich großzügig in seinen Text eingebaut ist. Dass der Autor dabei grundsätzlich Original und Übersetzung nebeneinander stellt, erleichtert ebenfalls das Verständnis. Jedoch hätte er sich einer einheitlichen Übersetzungssprache bedienen sollen. Auch die Zitierweise der antiken Quellen muss als ungewöhnlich angesehen werden; das Werk des Livius wird zum Beispiel mit der Abkürzung „AUC“ zitiert (S. 543). Ein Blick in das Literaturverzeichnis offenbart diesbezüglich weitere ungebräuchliche Abkürzungen, die einem Leser, der mit den traditionellen Abkürzungen vertraut ist, die Lektüre an manchen Stellen erschwert. Der rundum positive Eindruck des Buches, sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf die Herstellungsqualität, wird nur durch einige Abbildungen und Skizzen geschmälert, die im vorliegenden Exemplar leider verwackelt gedruckt sind (so z.B. S. 317).

Zusammenfassend kann man sagen, dass es bei Karls „Altkeltischen Sozialstrukturen“ um ein Werk handelt, das die keltologische Forschung einerseits bereichert und andererseits sicherlich auch eine Vielzahl neuer Diskussionen initiieren wird.

Anmerkungen:
1 So unter anderem S. 41.
2 So auf S. 56, wo ein Zitat von S. James versehentlich als „Jones 1999: 78“ angegeben wird.

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