E. Labouvie (Hrsg.): Adel in Sachsen-Anhalt

Titel
Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie


Herausgeber
Labouvie, Eva
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Axel Flügel, Universität Bielefeld

In der Frühen Neuzeit dominierte die Rivalität zwischen Preußen und Kursachsen die Gebiete, die seit 1990 das Bundesland Sachsen-Anhalt bilden. Die beiden kurfürstlichen Häuser kämpften um die Vorherrschaft im Erzbistum Magdeburg, in den Hochstiften Halberstadt, Merseburg und Naumburg-Zeitz, in den Grafschaften Mansfeld und Stolberg. Am Ende, insbesondere seit 1815, trug Preußen den Sieg davon. Allein das kleine, zudem noch in mehrere Linien zersplitterte Fürstentum Anhalt behielt durch Anlehnung an Preußen eine rechtliche Selbstständigkeit. Im Raum Sachsen-Anhalt gab es daher kein höfisches Zentrum wie in Dresden oder eine bedeutende korporativ organisierte Adelslandschaft, wie sie Heinz Reif für das Fürstbistum Münster untersucht hat. Ein Landadel als der vormoderne politische Stand des Landes par excellence entfällt hier weitgehend. Deshalb meint „Adel“ im vorliegenden Band allein das Milieu kleiner Reichsstände bzw. Standesherren. Diese Gegebenheiten sind schwierige Voraussetzungen für eine Geschichte des Adels, wie sie der aus einem Magdeburger Hauptseminar zur höfischen Kultur und adeligen Lebenswelt hervorgegangene und um weitere Beiträge ergänzte Band durchzuführen versucht. Daher richtet die Herausgeberin in der kurzen Einleitung ihr Interesse aus Not (und Neigung) auf die kulturelle Vielfalt adeliger Lebenswelten und auf den agierenden Menschen in seiner Lebenswelt (S. 2f.). Eine gewisse Aversion gegen vorliegende Modelle und Konstrukte der Adelsforschung begleitet diesen Versuch einer kulturgeschichtlichen und mikroperspektivischen Sicht. Die gegebene schwierige Ausgangslage und die kulturgeschichtliche Ausrichtung des Bandes machen eine Konzentration auf Einzelbeispiele nahezu unvermeidlich. Dass der Sammelband recht heterogen ausfällt, ist also zu akzeptieren, interessant hingegen bleibt die Frage, was die zwölf BeiträgerInnen aus ihren Einzelthemen gemacht haben.

Am Anfang des Bandes stehen völlig zu Recht sechs Beiträge zur geschlechtsspezifischen Lebenswelt adeliger Frauen und Männer. Behandelt werden zwei Vorfälle im Haus Anhalt-Bernburg: erstens die Heirat des Witwers und Erbprinzen Carl Friedrich (1668-1721) mit der Bürgerlichen Wilhelmine Charlotte Nüssler (1683-1740), spätere Gräfin Ballenstedt, im Jahr 1715 als Beispiel einer standesungleichen Verbindung (Carolin Doller). Zweitens die Ehescheidung zwischen Alexander Friedrich Christian (1767-1834) und Marie Friederike von Hessen-Kassel (geboren 1768) im Jahr 1817 nach dreiundzwanzig Jahren Ehe (Katrin Iffert). Ein weiterer Beitrag widmet sich Gisela Agnes von Anhalt-Köthen (1669-1740), ihrer Witwenschaft sowie ihrer Regentschaft in den Jahren 1704 bis 1716 (Katrin Rawert). In allen Beiträgen stehen die individuellen Sichtweisen und die Handlungsspielräume der Individuen – hier der adeligen Frau als Ehefrau, als Regentin und als Witwe – im Mittelpunkt der Darstellung. Leider erfährt man aber kaum etwas über die finanziellen und sonstigen Bestimmungen der jeweiligen Eheverabredungen oder Eheverträge, die vor allem für den Witwenstand von großer Bedeutung waren. Auch die Ausstattung und der weitere Lebensweg der Kinder aus der standesungleichen Ehe der Gräfin Ballenstedt werden nicht mehr berücksichtigt. Der letzte Beitrag zur weiblichen Lebenswelt ist der einzige englischsprachige Beitrag des Sammelbandes, welcher dem Selbstentwurf der Luise von Anhalt-Dessau (1750-1812) in ihrem Reisetagebuch von 1775 gewidmet ist (Johanna Geyer-Kordesch).

Die männliche Lebenswelt wird in den beiden anschließenden Beiträgen thematisiert, und zwar zum einen anhand der Kavalierstouren von Victor Friedrich von Anhalt Bernburg im Jahr 1717/18, von Heinrich Ernst zu Stolberg-Wernigerode 1738 und Johann Georg von Anhalt-Dessau 1765-68 (Stefan Schulz), der das Reisen selbst als Bildungserlebnis hervorhebt. Der zweite Beitrag stellt die Ehrvorstellungen adeliger Offiziere, die im 18. Jahrhundert im preußischen Infanterieregiment Alt-Anhalt dienten und in Halle stationiert waren (Jutta Nowosadtko und Sascha Möbius), in den Mittelpunkt. Inwieweit es sich bei diesen Offizieren und ihrer Ehre vor allem um abgefundene nachgeborene Söhne der adeligen Grundherren, um landlosen Adel oder um Kinder aus standesungleichen Verbindungen handelt, wie z.B. im Fall von Georg Heinrich von Berenhorst (siehe S. 155 und S. 125), bleibt offen.

Aspekte der Adelskultur im engeren Sinne behandeln anschließend zwei Beiträge zur adeligen Erinnerungskultur in der Form der adeligen Familiengräber für die Häuser Sachsen-Weißenfels, Anhalt-Zerbst und Anhalt-Dessau im 17. und 18. Jahrhundert (Angela Damisch) und zur Funktion des höfischen Balletts am Ende des 17. Jahrhunderts in der Sekundogenitur Sachsen-Weißenfels (Bernhard Jahn), letzteres insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den teilnehmenden Geschwistern und den Unterschied zwischen den ältesten und den nachgeborenen Kindern. Schließlich untersucht ein weiterer Beitrag die repräsentative Bedeutung der Taufe für den Zusammenhalt und den Zusammenhang der regionalen Adelsgesellschaft am Beispiel der Tauffeste von 1607/09 in Anhalt-Köthen sowie den Wandel der Sprache in den Geburtsanzeigen und Gratulationsschreiben im 18. Jahrhundert (Eva Labouvie).

Die drei abschließenden Aufsätze des Bandes liegen außerhalb der kulturwissenschaftlichen Perspektive. Zwei Aufsätze stellen die Grafen Stolberg als Unternehmer vor und zwar einerseits die (erfolglosen) Versuche Mitte des 16. Jahrhunderts, eine verbesserte Wasserhebemaschine im Bergbau zu installieren (Jörg Brückner), andererseits die frühindustriellen Unternehmungen des Grafen Henrich zu Stolberg-Wernigerode (1772-1854) in Ilsenburg, Magdeburg und Hattingen (Uwe Lagatz). Der letzte Beitrag des Bandes präsentiert den Fall der Nobilitierung einer Kaufmannsfamilie im 19. Jahrhundert anhand des Tabakfabrikanten und Rittergutsbesitzers Johann Gottlob Nathusius (1760-1835) und seiner 1840/57 geadelten Söhne. (Ramona Myrrhe). Dieser Beitrag, wie der von Lagatz, fällt allerdings deutlich zu hagiographisch aus.

Am Ende der Lektüre lässt sich festhalten, dass die verschiedenen Spezialisten in diesem Sammelband für ihr jeweiliges Thema interessantes Material finden. Der Band ist zudem mit zahlreichen Abbildungen, darunter sechs farbige, großzügig ausgestattet, allerdings vermisst man eine historische Karte der Adelsherrschaften in Sachsen-Anhalt und ein Personenregister. Eine mehr oder weniger zusammenhängende Darstellung des frühneuzeitlichen Adels und seiner Kultur in Sachsen-Anhalt zu erwarten, überfordert jedoch den Band. Dazu fehlt es nicht zuletzt an einer ausführlichen problemorientierten Einleitung, welche die Einzelbeiträge nicht nur vorstellt, sondern in den lokalen und den historischen Kontext einbettet. Dennoch ist es sehr zu begrüßen, dass mit diesem Sammelband ein weiterer Anfang zur Adelsforschung in Sachsen-Anhalt gemacht wurde.

Allerdings sind auch die Kosten der in diesem Band selbst gewählten (oder auferlegten) kulturwissenschaftlichen Eingrenzung auf die „Perspektive des erlebenden Individuums“ (S. 228) nicht zu übersehen. Wie man leicht vermuten kann, wird ein Aspekt adeliger Lebenswelt und Kultur vollständig ausgeblendet: der Adel als Grundherr (und Grundherrin!). Ob dies mangels Quellen oder mangels Interesse geschieht, lässt sich nicht beurteilen. Es ist aber gerade in mikro- und kulturgeschichtlicher Hinsicht nicht zwingend. Außerdem wird unter der kulturwissenschaftlichen Fahne die für die frühe Neuzeit so zentrale rechtliche Dimension im Alltag aller adeligen Akteure vom Chef des Hauses über die Ehefrau bis zur Mitgift der jüngsten Tochter sträflich vernachlässigt. Hier wird geradezu eine Chance vertan. Auf diese Weise bleibt am Ende völlig unklar, was die Faszination der frühneuzeitlichen Adelswelt ausmacht, die nicht in den touristisch nutzbaren Überbleibseln der Schlösser und Parks besteht, sondern darin liegt, dass sie eine die adeligen Rangstufen, die adeligen Häuser, Männer und Frauen, Söhne und Töchter, Erstgeborene und Nachgeborene usw. umfassende, durchdringende und akzeptierte Kultur der ungleichen Rechte und rechtlichen Ungleichheit, der eifersüchtigen Konkurrenz um die eigenen Rechte und der ständigen Suche nach Rangerhöhung ausmacht.

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