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Titel
Unter Kontrolle. Die Martin-Luther-Universität und das Ministerium für Staatssicherheit 1968-1989. Band 1 und 2


Autor(en)
Reichert, Steffen
Erschienen
Halle (Saale) 2007: Mitteldeutscher Verlag
Anzahl Seiten
670 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Großbölting, BStU

Im Poststalinismus seit dem Ende der 1950er-Jahre entwickelte sich das Ministerium für Staatssicherheit der DDR zu einem bürokratischen Monstrum, welches treffend als „Generalunternehmen für Machtsicherung und Unterdrückung“ beschrieben worden ist. Mit einem auch im Vergleich zu anderen osteuropäischen Geheimdiensten enormen Personalaufwand suchten die Mitarbeiter des MfS die in ihren Augen relevanten Bereiche des öffentlichen Lebens auszuspähen, mögliche Fehlentwicklungen und insbesondere oppositionelle Regungen im Keim zu ersticken. Dass dabei neben anderen Bildungsinstitutionen auch die Universitäten ins Blickfeld gerieten, liegt auf der Hand. Strukturen, „Ausmaß und inhaltliche Schwerpunkte“ sowie Folgen der MfS-Tätigkeit an der Martin-Luther-Universität Halle (MLU) zu eruieren, das hat Steffen Reichert zum Thema seiner in zwei Bänden publizierten Dissertation gemacht. Dabei setzt er mit dem Jahr 1968 ein, das mit der Dritten Hochschulreform, aber auch mit den Ereignissen in der Tschechoslowakei sowohl für die Universitäts- als auch für die allgemeine Geschichte bedeutende Einschnitte brachte. Seine Studie schließt mit einer kurzen Darstellung der ersten (personellen) Konsequenzen der „Aufarbeitung“ dieses Komplexes nach 1989.

In einem ersten Teil entfaltet Reichert breit, in welchen Strukturen und mit welchen Zuständigkeiten die Bezirksverwaltung Halle und die Berliner Zentrale des MfS die „Bearbeitung“ der MLU organisierten. Auf diese Weise wird eindrücklich der Aufwand deutlich, der betrieben wurde, um die Universität zu „sichern“. Zugleich belegt Reichert damit erneut, dass die Stasi nicht eigenständig agierte, sondern sich in ihren Aktivitäten an die Weisungen der SED gebunden hielt. Ebenfalls zeichnet der Autor die Konjunkturen des strukturellen und personellen Ausbaus für die Stasi nach und wiederholt damit auf der Ebene der Bezirksverwaltung die Ergebnisse, die am Beispiel der Zentrale bereits dargelegt wurden.

Das MfS etablierte an der Universität ein engmaschiges Netz von Informationsquellen. Gemessen am Einsatz von hauptamtlichen Mitarbeitern, aber auch der Dichte von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) in einzelnen Bereichen, konzentrierte man sich dabei vor allem auf die Theologie, die Germanistik, die Biowissenschaft und speziell die ökonomisch interessante Flüssigkristallforschung sowie die Medizin. Darüber hinaus wurden auch sogenannte Querschnittsbereiche wie die Wohnheime, der Universitätschor und Studentenclubs mit IMs durchsetzt. Eine besondere Herausforderung für die IM-führenden Mitarbeiter stellte die naturgemäß hohe Fluktuation unter den Studenten dar, verließen doch jährlich bis zu 2000 Studenten die Hochschule mit einem Abschluss, um ihrerseits neuen Kommilitonen Platz zu machen.

An den Zahlen gemessen war die Arbeit aus der Sicht des MfS dennoch durchaus erfolgreich: In den 1980er-Jahren gab es laut Reichert etwa 500 Inoffizielle beziehungsweise Gesellschaftliche Mitarbeiter und mehr als 110 konspirative Wohnungen. Die Direktoratsebene war, so zeichnet Reichert nach, „über mehr als 20 Jahre nahezu vollständig durch IM abgesichert […] und auch mehrere Prorektoren […] verfügten über Erfahrungen in der geheimdienstlichen Zusammenarbeit“ (S. 438f). In der Verwaltung und insbesondere im Personalbereich waren mehrere hauptamtliche Mitarbeiter des MfS platziert, die die Interessen der Stasi durchsetzen sollten. Wissenschaftler der verschiedenen Ebenen, die als IM geworben wurden, waren für die Stasi sowohl wegen ihrer Kontakte zu ausländischen Fachkollegen interessant wie auch als Gutachter: Spitzenforscher aus den Technik- und Naturwissenschaften wurden mit „operativen Personenkontrollen“ überzogen, um den „Geheimnisschutz“ zu gewährleisten und deren „Kontakte in das Operationsgebiet“ zu nutzen. Techniker und Ingenieure werteten fachspezifische Unterlagen aus, die der Geheimdienst aus dem Ausland beschafft hatte. Andere Uni-Angehörige untersuchten im Auftrag der Stasi Buchmanuskripte oder Kunstwerke auf mögliche politische Andeutungen, die dann von den Verfolgungsorganen als Subversion „geoutet“ und strafrechtlich relevant werden konnten (S. 318ff.).

Aber war damit die MLU „unter Kontrolle“, wie der Buchtitel suggeriert? Der zweite Teil des Buches, in dem der Autor die „Tätigkeitsfelder“ des MfS beschreibt, nährt diesen Zweifel, wie beispielhaft anhand einiger von Reicherts Studien nachzuweisen ist: Der im Sommer 1973 neu gegründete Studentenklub „Turm“ entwickelte sich zu einer „kulturellen und geistigen Oase“ – und das, obwohl die IM-Dichte rasch stieg, Programme genehmigt werden mussten und andere Maßnahmen getroffen wurden. Die mit der dritten Hochschulreform zur Sektion degradierte Fakultät der Evangelischen Theologen blieb trotz aller Bemühungen ein schwieriges Feld für die Stasi: Eine Entfremdung von der Amtskirche erreichte man durch die stärkere Einbindung in die Universitätsstrukturen dennoch nicht. Zwar war der Bischof bei Abschlussprüfungen nicht mehr anwesend, dennoch aber blieben die Kontakte zur Kirche eng. Die Genugtuung darüber, dass es gelungen war, eine kleine FDJ-Gruppe an der Sektion zu organisieren, zeigt spiegelbildlich, welch schweren Stand die Partei unter den Theologen hatte. Auch personelle Wechsel in der Sektionsleitung boten der Stasi nur wenige Ansatzpunkte. Die zu den Theologen beorderten ML-Dozenten waren zwar willig, hatten aber keinen Zugang zu den „inner circles“ der Theologenschaft. Über Abläufe und Diskussionen war die Staatssicherheit, so hat es den Anschein, grob informiert. Großflächig die Geschicke in seinem Sinne lenken zu können, davon aber war das MfS weit entfernt. So war beispielsweise 1989, als die Evangelische Studentengemeinde ESG einen Kulminationspunkt des zivilgesellschaftlichen Protestes bildete, das MfS allenfalls Beobachter.

Dort, wo das Handeln des MfS besonders plastisch untersucht werden könnte, macht die Arbeit Halt: Der Protest gegen die militärische Ausbildung, die Konflikte um die Evangelische Studentengemeinde - solche und andere Themen hätten sicher auch aus der Überlieferung der anderen Seite betrachtet werden können, bei Bedarf auch mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews, deren Aussagen dann mit dem Quellenmaterial abzugleichen gewesen wären. Natürlich, so ist einerseits einzuwenden, ist die Beschränkung, die sich Reichert an dieser Stelle auferlegt, sowohl von der Fragestellung als auch dem Anspruch einer Dissertation nach durchaus gerechtfertigt. Ohne Zweifel aber hätte sich der Autor andererseits bei seiner Rekonstruktion von Personal und Struktur durchaus entlasten können, wenn er großzügiger auf bereits vorhandene Literatur zurückgegriffen und so manches Detail nicht weiter beleuchtet hätte.

„Geheimdienstliches Wirken in einem diktatorischen System ist nur zu verstehen, wenn die Folgen dieser Maßnahmen beleuchtet werden“, so konstatiert Reichert selbst (S. 366). In Kapitel 13 wird er diesem eigenen Anspruch gerecht, wenn er „Maßnahmen der Repression und Zersetzung“ analysiert. Er schildert den Fall einer Bibliotheksmitarbeiterin, die sich trotz des Drucks vielfältiger Denunziationen standhaft weigerte, dem MfS zuzuarbeiten. Er nimmt den Vorgang um einen Assistenten auf, dem kritischer Äußerungen wegen auf Initiative der Stasi gekündigt wurde. Der Operative Vorgang „Ring“, in dem zwischen 1979 und 1983 eine ganze Reihe von Maßnahmen gegen den Biochemiker Peter Bohley gebündelt wurden, zeigt die schier unbegrenzten Möglichkeiten und zugleich die Abhängigkeit des MfS von den jeweiligen Kontexten. Am Vorgehen gegen den Philosophen Reinhard Mocek lässt sich nicht nur die Wirkmacht, sondern auch das Kompetenzwirrwarr der Staatsaktivitäten zeigen, wurde doch die Absetzung vom Amt des Dekans rasch „von oben“ wieder rückgängig gemacht.

Von großem Interesse sind die Ausführungen zum Jahre 1989 sowie dessen Vor- und Nachgeschichte. Soweit dem Rezensenten bekannt, werden hier erstmals auch die personellen Brüche und Neuanfänge um 1990 und in der Folgezeit dargestellt. Aber insbesondere die Schilderungen der oppositionellen Regungen aus dem Universitätsmilieu verweisen noch einmal auf die offen bleibende Perspektive: Warum eigentlich zeigte sich das MfS trotz des von Reichert konstatierten dichten Netzes von Sicherheitsüberwachung so überrascht und – im zweiten Schritt – hilflos angesichts der friedlichen Revolution, die eben auch Wurzeln auf dem Campus der MLU hatte? Solche Fragen sind für die Geschehnisse in und um die MfS-Zentrale bereits produktiv aufgeworfen und beantwortet worden.1 Gerade für das Binnenmilieu einer Institution wie der Universität sollte es deswegen möglich sein, noch präzisere oder weitere Antworten auf diese Frage zu finden. Das kann gelingen, indem man viel genauer hinter Dienstvorschriften, Maßnahmepläne und Berichte schaut und das Stasi-Handeln in die sozialen Szenarien einbettet.

Was es so schwierig macht, diese (natürlich wohlfeile) Forderung umzusetzen, lässt sich zwischen den Zeilen der Studie immer wieder erkennen: Trotz Vernichtungsaktionen stand Reichert ein Berg von Materialien zur Verfügung. Dessen Sichtung und Auswertung ist aufwendig und schwierig. Auch bedurfte es zweifelsohne der umständlichen und schwierigen Rekonstruktion von Befehlsketten und Stasi- und SED-internen Kommunikationswegen, um quellenkritisch weiterarbeiten zu können. Der Preis dafür, dass diese Untersuchungen unmittelbar auch in die Darstellung eingeflossen sind, ist der, dass die Struktur- und Organisationsgeschichte dominiert (und die dazu genutzten Quellen zum Teil bis in den Sprachgebrauch des Autors abfärben). Die Wirkungsgeschichte des Geheimdienstes und Repressionsapparats hingegen bleibt, sofern sie sich nicht in den Selbsteinschätzungen der Stasi spiegelt, unberücksichtigt: Was genau bedeutete die „flächendeckende“ Präsenz der Staatssicherheit im Alltag? Welche Konsequenzen für das soziale Leben und das Funktionieren einer Universität hatten diese Aktivitäten?2

Da einige der ostdeutschen Universitäten in den kommenden Jahren runde Gründungsjubiläen feiern, wird die vorliegende Studie sicher nicht die einzige zum Komplex Stasi und Universität bleiben. Reicherts Buch bietet ein solides Fundament, das viele Informationen und Analysen für vergleichbare Vorhaben beisteuert. Beste Voraussetzungen also dafür, das Wirken der Stasi und dessen Folgen im sozialen Raum Universität weiter auszuleuchten.

Anmerkungen:
1 Vgl. Süß, Walter, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999.
2 Vgl. zu einem in diese Richtung entwickelten Forschungsprogramm: Gieseke, Jens, Staatssicherheit und Gesellschaft – Plädoyer für einen Brückenschlag, in: ders. (Hrsg.), Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007, S. 7-22.

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