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Titel
"Heute kann ich das ja sagen". Lagererfahrungen von Insassen sowjetischer Speziallager in der SBZ/DDR


Autor(en)
Ochs, Eva
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
351 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ilko-Sascha Kowalczuk, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU)

Die „doppelte Geschichte“ historischer Orte wie Buchenwald oder Sachsenhausen zählte nach 1989/90 zu jenen heftig umstrittenen Themen, die die Öffentlichkeit nachhaltig bewegten. Geschichtspolitische Ambitionen standen oft wissenschaftlichen Forschungen entgegen. Die Leidensgeschichten der KZ-Häftlinge wurden oftmals den Leidensgeschichten von Häftlingen der sowjetischen Speziallager entgegenstellt. Die Opfergruppen konkurrierten miteinander, ihre politischen Vertreter versuchten, Hierarchien von Opfern zu etablieren. Die Heftigkeit der Debatte war nicht nur mit der Entdeckung von Massengräbern zu erklären. Vor allem schlug zu Buche, dass die Geschichte der sowjetischen Speziallager in Ost wie West weithin unbekannt und sogar tabuisiert worden war, so dass ihre „Neuentdeckung“ auch die Entdeckung einer weithin unbekannten Opfergruppe bedeutete. Parallel dazu wurde dieser „neuen Opfergruppe“ ihr Status von vielen auch gleich wieder abgesprochen, weil sie im eigentlichen Sinne keine „Opfer“, sondern „Täter“ der NS-Diktatur gewesen und demzufolge nach alliierten Maßstäben inhaftiert worden seien. Diese Auseinandersetzungen um die Geschichte der Speziallager und ihrer Insassen ist immer mehr versachlicht worden, nachdem die ersten, auf sowjetischen und deutschen Quellen basierenden Arbeiten publiziert wurden.1 Zwar wird auch in der Gegenwart immer wieder versucht, die Geschichte der Speziallager geschichtspolitisch zu instrumentalisieren2, aber dies geschieht mittlerweile längst nicht mehr mit dem Erfolg wie noch in den 1990er-Jahren, weil eine Reihe von Basisdaten dieser Geschichte als wissenschaftlich gesichert gelten.

Die Alliierten hatten sich auf der Potsdamer Konferenz darauf geeinigt, Repräsentanten der Hitler-Diktatur zu inhaftieren. In der US-Zone wurden ca. 100.000 Personen in acht Lagern interniert, in der britischen betraf es 90.800 in elf Lagern. Über die Anzahl der Insassen in den acht Lagern der französischen Zone gibt es keine Angaben. In der SBZ richtete die Besatzungsmacht zehn solcher Lager ein. Nur eine Minderheit der Lagerinsassen war formell von einem Militärtribunal oder von einem andern Gericht verurteilt worden. Die Lager wurden entsprechend dem sowjetischen Sprachgebrauch als Speziallager und die Inhaftierten als „Spezialkontingent“ bezeichnet. Das sowjetische Gulag-System ist im Prinzip bis an die Elbe ausgeweitet worden. Bis Anfang Mai 1945 existierten im gesamten osteuropäischen Besatzungsgebiet über vierzig Lager und Gefängnisse, die meisten in Gebieten östlich von Oder und Neiße. Mit Befehl Nr. 315 wurde die Abteilung Speziallager des NKWD der UdSSR in Deutschland am 18. April 1945 durch Generaloberst Serow gebildet.

In den Speziallagern in der SBZ waren insgesamt knapp 190.000 Personen inhaftiert, darunter 35.000 Sowjetbürger. Von den über 150.000 in den Speziallagern der SBZ inhaftierten Deutschen wurden nur etwa zehn Prozent verurteilt. Hinzu kamen etwa 270.000 Deutsche, die beim Vormarsch der Roten Armee in Osteuropa verhaftet, interniert und in die Sowjetunion deportiert wurden.

Insgesamt sind 43.000 Internierte in ostdeutschen Speziallagern verstorben, vor allem an Unterernährung und Tbc. 786 Personen wurden erschossen. Die Lebensbedingungen war hart, die Ernährung war mangelhaft, aber sie glichen denen im übrigen Gulag-System. Im Februar/März 1950 befanden sich noch knapp 30.000 Personen in den letzten drei verbliebenen Lagern. 15.000 wurden entlassen, 3.400 bis dahin nicht Verurteilte sind dem DDR-Innenministerium übergeben worden, ebenso – zur Verbüßung ihrer Strafen – 10.500 weitere Personen, die bereits vom SMT verurteilt worden waren.

Obwohl die Forschung nicht nur generelle Analysen zum Speziallagersystem, sondern auch zu den einzelnen Haftorten vorlegte, fehlte bislang eine systematische Untersuchung zu den Haftbedingungen, der Häftlingsgesellschaft und den Verarbeitungsmustern des Erlebten. Zwar ist bekannt, dass etwa zwei Drittel der Häftlinge als NS-belastet eingestuft wurden – wobei die Belastungsgrade das gesamte Spektrum von nomineller Mitgliedschaft in einer NS-Organisation bis hin zu höheren Funktionen im NS-Mordsystem umfassten. Etwa ein Drittel galt als NS-unbelastete Gegner des neuen Systems. Die Häftlingsgesellschaft war im Laufe der Zeit Wandlungen unterworfen, aber die schriftlichen Überlieferungen der Besatzungsmacht lassen kaum Rückschlüsse auf die innere Verfasstheit der Speziallager zu.

Diese Forschungslücke versucht nun die Arbeit von Eva Ochs zu schließen, indem sie 38 lebensgeschichtliche Interviews mit früheren Lagerinsassen führte (S. 7). Die Arbeit entstand als an der Fernuniversität Hagen 2003 verteidigte Dissertation; die meisten Interviews sind jedoch zehn Jahre früher geführt worden (S. 341). Methodisch handelt es sich um narrative Interviews (S. 9). Der Autorin geht es im Kern nicht um die Rekonstruktion historischer Prozesse und Strukturen, „sondern darum, den subjektiven Erlebnissen, Wahrnehmungen und Erfahrungen der Zeitzeugen auf die Spur zu kommen“ (S. 13).

Die Arbeit gliedert sich in zwei große Kapitel. Im ersten geht es um „Lagererfahrungen“. Darin werden in der Sicht der Interviewten die verschiedenartigen Gründe für Verhaftungen, die unterschiedlichen Verhörerfahrungen, die Lebensbedingungen, die Häftlingsorganisation sowie die Heimkehrerfahrungen reflektiert. Im zweiten Kapitel deutet die Autorin die Lagererfahrungen nach systematischen Gesichtspunkten. Zum einen werden die Erinnerungsmuster von „Gegnern der Besatzungsmacht“ mit denen der „Gruppe der NS-Belasteten“ verglichen. Zum anderen untersucht Ochs, wie sich das Nachlagerleben in der DDR und in der Bundesrepublik entwickelte, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten existierten.

Diese Studie verdient Aufmerksamkeit, weil sie erstmals ein breites Arsenal an Erfahrungen und Erinnerungen bietet, die das Leben in einem sowjetischen Speziallager kennzeichneten und zugleich die unterschiedlichen Verarbeitungsmuster analysiert, die diese Erfahrungen hervorbrachten. Für die Nachkriegsforschung sind über die Erfahrungsmuster hinaus zugleich einige Befunde interessant, die es lohnen, weiter bearbeitet zu werden. Dazu gehört zum Beispiel die häufige Behauptung, die sowjetische Besatzungsmacht habe aus Quotengründen wahllos auf der Straße Verhaftungen vorgenommen. Eva Ochs weist demgegenüber darauf hin, dass ihre Interviewpartner dies zwar fast durchweg aussagten, aber nur ein Gesprächspartner dies auch unmittelbar erlebt hatte. Sie stellt die zu diskutierende These auf, diese Verhaftungen „von der Straße weg“ seien eine Legende, um die Unschuld der Lagerinsassen zu bekräftigen (S. 47).

Weitgehend neu für die Forschung ist ihr Abschnitt über das Verhältnis der Häftlinge zu den sowjetischen Bewachern. Direkte Kontakte mit diesen gab es demzufolge für die meisten Häftlinge nicht, auch Misshandlungen oder andere Schikanen durch sowjetische Soldaten kamen im Lager eher selten vor, und das Wachpersonal habe sich insgesamt, im Gegensatz zu den deutschen Polizisten, ab 1950 positiv verhalten (S. 100). Viel kritischer reflektieren die Zeitzeugen zumeist die Häftlingsselbstverwaltung. Dieser wird oftmals Brutalität, Egoismus und Verbrechen nachgesagt. Vielfach wird vermutet, dass die Besatzer zielbewusst frühere Polizisten, Offiziere, Gestapomitarbeiter oder KZ-Personal mit Aufgaben der Lagerselbstverwaltung betrauten, weil die gewohnt waren, Befehle zu empfangen und rücksichtslos umzusetzen (S. 110). Auch hier fallen die konkreten Befunde unterschiedlich aus, aber insgesamt ist der Blick auf die Lagerselbstverwaltung neu. Allerdings gab es in West-Berlin bereits zehn Jahre nach Auflösung der Speziallager gegen einen Häftlingsfunktionär einen Prozess, der mit einer Zuchthausstrafe von sechs Jahren endete (S. 112).

Auch zu den Erfahrungen nach der Lagerzeit bietet Ochs viele interessante Einblicke. So etwa, wenn sie feststellen muss, dass nur ein Interviewpartner aus der Gruppe der NS-Belasteten sich im Gespräch mit der eigenen Schuld auseinander setzte (S. 223). Die Festnahme erfolgte in der mehrheitlichen Perspektive nicht wegen eigener Taten, sondern wegen Denunziation und der behaupteten Willkür der NKWD-Verhaftungspraxis (S. 222). Demgegenüber wirft die Erzählung eines Interviewpartners, seine Häftlingszeit im Speziallager sei mit der betrieblichen Kaderleitung in der DDR „stillschweigend“ als Kriegsgefangenschaft „abgebucht“ worden (S. 240), ein Schlaglicht auf die Diktaturpraxis im SED-Staat, die eben nicht nur mit einer bloßen Herrschaftsgeschichte erfasst und erklärt werden kann, sondern die nur im Kontext anderer Perspektiven, etwa der Alltagsgeschichte, analysiert werden kann.

Dass in diesen Speziallagern keine „Umerziehung“ stattfand, ist ein Gemeinplatz, den diese Studie aber erstmals beschreibt. Neben der Darstellung von Häftlingsgesellschaften, Lagerselbstverwaltung und dem Verhältnis zu den sowjetischen Bewachern sind für die Forschung zwei weitere Aspekte neu, die sowohl für die deutsche Teilungsgeschichte als auch für die Zeit seit 1990 interessant sind. Erstens konstatiert Ochs, dass beide Häftlingsgruppen – NS-Belastete und NS-unbelastete Gegner des neuen Systems – ihre Lagerzeit fast ausnahmslos gleich deuten. Ochs erklärt dies mit einer Solidarisierung aufgrund einer gleichen Leidensgeschichte und einer ähnlichen subjektiven Unschuldsvermutung (S. 327). Zweitens stellte die Autorin fest, dass die Häftlinge über ihre Haftzeit bis 1989 weithin schwiegen – und zwar unabhängig davon, ob sie in der DDR oder der Bundesrepublik lebten. In der DDR war das Thema staatlich tabuisiert. Aber auch in der bundesdeutschen Gesellschaft fand sich dafür nur an den Rändern Platz (S. 328).3

In Folge der Revolution von 1989/90 ist auch das Schweigen über die sowjetischen Speziallager gebrochen worden. Ochs weist darauf hin, dass für viele ehemalige Häftlinge nun eine Zeit der Hoffnung anbrach, die für viele wiederum enttäuschend ausfiel, weil die Leidenszeit öffentlich pauschal in den Geruch einer NS-Belastung geriet. Da die meisten Interviews in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre geführt worden sind (zwei 1996 und eines 1997), muss dieses Ergebnis als Momentaufnahme der 1990er-Jahre gelten. Es wäre interessant zu erfahren, ob sich diese Wahrnehmung, soweit noch verifizierbar, verändert hat.

Eva Ochs’ Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Erfahrungsgeschichte eines besonders bedrückenden Teils der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ihre Arbeit zeigt, wozu eine anteilnehmende wissenschaftliche Zeitgeschichtsforschung in der Lage ist. Sie verdeutlicht aber auch, dass Oral History eine Ausschnittswissenschaft ist. So wie so mancher Politiker die Welt nur über Pressespiegel wahrnimmt, ist eben Oral History auch nur eine Perspektive, die legitim, aber eben auch ohne andere Betrachtungswinkel ermüden oder verzerren kann. Oral History ist letztlich ein Pressespiegel, den man so oder so bewerten und sehen kann. Es ist wieder einmal eine Frage der Perspektive.

Anmerkungen:
1 Zu den Wichtigsten zählen z.B.: von Plato, Alexander (Hrsg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950. Band 1: Studien und Bericht. Berlin 1998; Possekel, Ralf (Hrsg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950. Band 2: Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik, Berlin 1998; Reif-Spirek, Peter; Ritscher, Bodo (Hrsg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“, Berlin 1999. In Eva Ochs’ Monographie findet sich eine Bibliographie (S. 333–340), die bis auf die Arbeiten, die im Rahmen der beiden Enquete-Kommissionen zu Geschichte und Folgen der SED-Diktatur veröffentlicht worden sind (1995, 1999), alle wichtige älteren und neueren Titel enthält.
2 Zuletzt im April 2006, als eine geschichtspolitisch ambitionierte Rede des brandenburgischen Innenministers Schönbohm zu heftigen Reaktionen führte.
3 In einem anderen Kontext ist das auch für politische Aktivisten dargestellt und diskutiert worden, die im Umfeld des 17. Juni 1953 in die Bundesrepublik flüchteten, vgl.: Eisenfeld, Bernd; Kowalczuk, Ilko-Sascha; Neubert, Erhard, Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni in der deutschen Geschichte, Bremen 2004, v.a. Kapitel 6: „Antikommunismus als Lebensaufgabe“ (S. 501-588, speziell S. 561-588). Dort wird das Abdriften einzelner aus der DDR stammender Antikommunisten an den rechtsextremen Rand der Bundesrepublik als Folge der politischen Kultur in den 1960er- und 1970er-Jahren thematisiert.

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