C. Fohlin: Finance Capitalism and Germany's Rise to Industrial Power

Cover
Titel
Finance Capitalism and Germany's Rise to Industrial Power.


Autor(en)
Fohlin, Caroline
Reihe
Studies in Macroeconomic History
Erschienen
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
$ 85.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Ziegler, Ruhr-Universität Bochum

Nun ist sie also endlich erschienen! Seit über zehn Jahren wartet die kleine Gemeinde der deutschen Bankenhistoriker darauf, dass Caroline Fohlin ihre Dissertation aus dem Jahr 1994 doch noch veröffentlicht. Sie hat seit den 1990er-Jahren Jahren die Ergebnisse allerdings schon häppchenweise in zahlreichen Aufsätzen publiziert, und deshalb stellt sich natürlich die Frage, ob die Publikation nach mehr als zehn Jahren überhaupt noch sinnvoll ist. Auf den ersten Blick muss man diese Frage bejahen. Denn die Struktur des Buches scheint sich wesentlich von der Dissertation zu unterscheiden. Seinerzeit wurde neben dem deutschen auch das italienische Finanzsystem behandelt. Das ist für die Publikation entfallen. Stattdessen sind neue Kapitel hinzugekommen, hinter denen zumindest in einem Fall umfangreiche neue Forschung steht. Auch die zentrale These der Arbeit wurde – so kann man jedenfalls in Kenntnis der älteren Aufsätze vermuten – etwas modifiziert. Der Ausgangspunkt der Untersuchung, die grundsätzliche Kritik an der so genannten Gerschenkron-Orthodoxie, ist weiterhin derselbe. Die auf Alexander Gerschenkron1 fußende Interpretation der deutschen im Kontext der europäischen Industrialisierung geht davon aus, dass es mäßig rückständige Volkswirtschaften ganz wesentlich einem besonderen institutionellen Arrangement des Finanzsektors zu verdanken hatten, dass es ihnen gelang, den Vorsprung des Pioniers einzuholen. Aber während es in Fohlins älteren Aufsätzen noch hieß, dass kein messbarer Einfluss der Besonderheiten des deutschen bankorientierten Finanzsystems auf die erfolgreiche nachholende Industrialisierung nachweisbar sei, hebt sie heute hervor, dass das deutsche Finanzsystem zwar sehr gut funktioniert, aber ganz anders ausgesehen habe, als Gerschenkron und seine heutigen Epigonen glauben.

Das zentrale Kapitel für diese These ist das offenbar für dieses Buch neu geschriebene über „Securities Markets“. Dieses Kapitel ist zweifellos das Glanzstück des Buches. Denn Fohlin belegt eindrucksvoll die enge „symbiotische“ Beziehung zwischen „strong markets“ und „strong universal banks“. Allerdings widerlegt diese These keineswegs die Gerschenkronsche Interpretation. Die neuere, aber gleichwohl weiterhin von Gerschenkron inspirierte bankhistorische Forschung geht keineswegs von einer Dichotomie „banks versus markets“ aus, wie Fohlin behauptet (S. 222). Die Dichotomie lautet: „bank-oriented versus market-oriented financial systems“. Das ist etwas vollkommen anderes. Es ist zweifellos das Verdienst dieser Arbeit, die Bedeutung des deutschen, insbesondere des Berliner Wertpapiermarkts im Kaiserreich für das Funktionieren des deutschen bankorientierten Finanzsystems herausgearbeitet zu haben. Aber als Gerschenkronianer habe ich überhaupt kein Problem damit, eine solche Symbiose anzuerkennen. Denn niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass starke Universalbanken dauerhaft in der Lage gewesen wären, sich von den Entwicklungen an den Wertpapiermärkten abzukoppeln; und wenn es nicht die deutschen Wertpapiermärkte gewesen wären, weil die Universalbanken ihre Entwicklung verhindert hätten – was im übrigen niemand behauptet –, dann hätten sich zahlreiche potente deutsche Investoren eben nach London orientiert. Das haben sie aber nicht getan – also muss der deutsche Wertpapiermarkt wohl gut funktioniert haben. Das zu bezweifeln wäre nicht „orthodox“ sondern ignorant.

Was ich allerdings bezweifele, ist die von Fohlin daraus abgeleitete These, dass sich die beiden Finanzsysteme Deutschlands und Großbritanniens vor 1914 gar nicht wesentlich voneinander unterschieden hätten („In the pre-World War I era, universality translates to a joining of commercial and investment banking services, and while the German banks were pushing on the commercial banking side, the British banks began forays into investment banking services“, S. 105). Das britische Finanzsystem ist aber nicht Thema dieser Arbeit, und deshalb belässt Fohlin es bei einigen Literaturhinweisen zum britischen Bankwesen und zur Industriefinanzierung in Großbritannien. So einfach kann man eine solch weit reichende These jedoch nicht „belegen“.

Während das Kapitel über den deutschen Wertpapiermarkt wirklich gut gelungen und allen Interessierten dringend zur Lektüre zu empfehlen ist, ist der Rest des Buches über weite Strecken ärgerlich. Abgesehen davon, dass die Substanz der Kapitel über die Industriefinanzierung in Deutschland und die Wirkung der Finanzierungspraktiken deutscher Universalbanken auf die Unternehmenspolitik ihrer Kreditkunden bereits durch Fohlins frühere Veröffentlichungen bekannt ist, ist der Großteil des Textes offenbar mit dem der Dissertation identisch und nimmt seitdem erschienene Arbeiten, insbesondere solche europäischer Autoren, nicht zur Kenntnis. So fehlen die Dissertationen von Burhop2 und Krause3 und – besonders ärgerlich – ein (sogar in englischer Sprache erschienener) Aufsatz von Marco da Rin aus dem Jahr 1996(!)4 in den Fußnoten ebenso wie im Literaturverzeichnis. Auf dem Forschungsstand der Mitte der 1990er-Jahre sind diese Kapitel aber weitgehend wertlos. Noch ärgerlicher ist allerdings ein etwa 50 Seiten umfassendes Schluss- und Ausblickskapitel „Upheaval and Recovery“, das eine Art Handbuchartikel über die deutsche Bankengeschichte von 1914 bis in die Gegenwart darstellt. Methodisch fällt dieses Kapitel vollkommen aus dem Rahmen der Arbeit, die Thesen aus der volkswirtschaftlichen Forschung über die Funktionsweise von Finanzsystemen operationalisiert, sehr elaboriert quantitativ, wenn auch nur auf makroökonomischer Ebene testet und daraus bestimmte Schlüsse über die Validität dieser Thesen zieht. „Upheaval and Recovery“ hat dagegen überhaupt keinen Anspruch neue Forschungsansätze zu präsentieren, geschweige denn Forschungshypothesen zu testen, sondern gibt dem angelsächsischen Leser eine Art Einführung, wie es zur angeblichen „German Disease“ hat kommen können, wo das System vor 1914 doch anscheinend recht gut funktioniert hat („The adjustment to reunification, along with the structural alignment of the productive capacity of the German economy, has proven arduous. From the standpoint of the early-twenty-first century the rejuvenation of Germany securities markets to their pre-World War I standing appears unlikely in the near future.“ S. 328). Wer allerdings an solch einem Kapitel interessiert ist, wird mit den gut 250 Seiten davor wenig anfangen können.

Damit komme ich auf die Anfangsfrage zurück, ob die Publikation dieses Buch noch sinnvoll war, und die Antwort lautet nach der Lektüre: eindeutig nein! Entweder hätte Fohlin es bei einem prominent platzierten Aufsatz über den deutschen Wertpapiermarkt belassen und ein für englischsprachige Leser gedachtes Studienbuch über das deutsche Bankensystem schreiben sollen oder sie hätte, wenn sie die Ergebnisse ihrer langjährigen Forschung in der Zusammenschau präsentieren will, ihre alten Kapitel anhand der neueren Literatur überarbeiten und auf das Ausblickskapitel verzichten müssen.

Anmerkungen:
1 Gerschenkron, Alexander, Economic Backwardness in Historical Perspective, Cambridge/Massachusetts 1962.
2 Burhop, Carsten, Die Kreditbanken in der Gründerzeit, Stuttgart 2004.
3 Krause, Detlef, Die Commerz- und Disconto-Bank 1870-1920/23, Stuttgart 2004.
4 da Rin, Marco, Understanding the Development of German Kreditbanken, 1850-1914: An Approach from the Economics of Information, in: Financial History Review 3, S. 29-47.

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