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Titel
Das ungeliebte Erbe. Ein Vergleich der zivilen und militärischen Rezeption des 20. Juli 1944 im Westdeutschland der Nachkriegszeit


Autor(en)
Baur, Tobias
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
305 S.
Preis
€ 51,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Hikel, Graduiertenkolleg "Archiv - Macht - Wissen", Universität Bielefeld

Seit Tom Cruise als Hauptdarsteller eines amerikanischen Spielfilms über den 20. Juli 1944 agiert, ist in Deutschland wieder eine Diskussion darüber aufgekommen, wie man mit den damaligen Ereignissen umgehen sollte. Daran beteiligt sind die großen Tages- und Wochenzeitungen ebenso wie die Boulevard-Magazine im Fernsehen. Die Aufmerksamkeit, die diesem Thema zuteil wird, ist sicherlich nicht allein dem „Sommerloch“ geschuldet. Vielmehr rührt die Auseinandersetzung an die Grundfesten bundesdeutscher Traditionsbildung, denn seit dem Tag des Attentats wird über die Täter, ihr Handeln und ihre Bedeutung für Deutschland gestritten. Tobias Baur widmet sich aus historischer Perspektive dem Thema „Rezeptionsgeschichte des 20. Juli 1944“. In seiner Dissertation untersucht er die zivile und militärische Rezeption des Stauffenberg-Attentats. Mit der vergleichenden Vorgehensweise möchte er einen Beitrag leisten zu einer neuen Militärgeschichte, die „Wechselwirkungen von Militär und Gesellschaft aufdeckt und nachvollziehbar macht, die auf die zeitgenössische Analyse von Militär und Gesellschaft erhellend wirken“ (S. 14).

Baurs Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile, die die zivile bzw. militärische Auseinandersetzung mit dem 20. Juli in den Jahren 1944 bis 1959 thematisieren. Der Buchtitel, der eine umfassendere Untersuchung erwarten lässt, ist insofern irreführend. Die auf den ersten Blick etwas überraschende Zäsur 1959 wird damit begründet, dass damals im militärischen wie im zivilen Bereich verschiedene Entwicklungen zu einem vorläufigen Ende kamen: Mit Cord von Hobe hielt zum ersten Mal ein ranghoher Bundeswehroffizier bei der Gedenkfeier zum 20. Juli im Bendlerblock in Berlin die offizielle Gedenkrede. Ebenfalls 1959 verabschiedete die SPD das Godesberger Programm und wandelte sich endgültig zu einer Volkspartei.

Im ersten Teil untersucht Baur die zivile Rezeptionsgeschichte. Diese unterteilt er in vier Phasen: Die erste ist die Zeit unmittelbar nach dem Attentat bis zum Kriegsende, die anderen drei umfassen die Jahre 1945–1948 („Währungsunion“), 1948–1953 („Beginn der Konsolidierung“) und 1954–1959 („Im Zeichen des Wirtschaftswunders“). Innerhalb dieser Blöcke werden jeweils verschiedene Diskursfelder bearbeitet. Dazu gehören etwa „Feierstunden und Gedenkreden“, „Diskussionen in politischen Gremien“, juristische Aufarbeitung, Schulbücher, Presse und Rundfunk. Dieser Zugang hat den Vorteil, dass Baur in kleinen, in sich geschlossenen Einheiten sehr unterschiedliche Ereignisse darstellen kann, die gleichsam Kristallisationspunkte des gesamten Diskurses sind. Dazu zählen etwa der Remer-Prozess von 1952, Zeitungsartikel zu den Gedenktagen, die Beratungen des Bundestages zum Soldatengesetz im Oktober 1955 und die Kollektivschuld-Debatte.

Leider gehen dabei allzu oft die übergeordneten Entwicklungslinien verloren, und es ist für den Leser schwierig, zwischen den weit auseinander stehenden, aber thematisch verflochtenen Passagen noch einen „roten Faden“ zu finden. Hinzu kommt, dass die einzelnen Themenbereiche sehr unterschiedlich tief bearbeitet sind, was sich schon an der jeweiligen Seitenzahl festmachen lässt. So gibt es Teilkapitel, die auf knapp zwei Seiten abgehandelt werden; andere bekommen deutlich mehr Raum. Dies erweckt den Eindruck, einerseits nur Oberflächliches zu erfahren, andererseits mit Detailinformationen überfrachtet zu werden. Einige wichtige Aspekte der Rezeptionsgeschichte fehlen ganz. Die Faktoren, die zu einer einseitigen Fixierung der deutschen Erinnerung an den Widerstand auf den 20. Juli führten, werden nicht thematisiert. Auch auf die Bedeutung des Gedenkens an den 20. Juli innerhalb des deutsch-deutschen Systemkonflikts wird nicht eingegangen. Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR fand in Westdeutschland eine Parallelisierung dieses Ereignisses mit dem 20. Juli statt, die dazu führte, dass der 20. Juli in der Öffentlichkeit nun wesentlich positiver bewertet wurde.1

Dennoch ergibt sich aus diesem Mosaik ein vielschichtiges Gesamtbild der deutschen Nachkriegsgesellschaft und ihrer Auseinandersetzung mit dem Widerstand des 20. Juli. Baur gelingt es, ganz unterschiedliche Rezipientenkreise und Diskursebenen offenzulegen. So kann er sehr differenziert darstellen, dass es – nach einigen Anlaufschwierigkeiten – sehr schnell einen Konsens der „veröffentlichten Meinung“ in Zeitungen, politischen Reden usw. gab, den militärischen Widerstand positiv zu bewerten. Die „Mehrheitsmeinung“, die Baur vor allem durch die Auswertung von Umfragen ermittelte, stand dem Widerstand hingegen indifferent oder ablehnend gegenüber.

Sehr detailliert fällt in vielem auch der zweite Hauptteil zur militärischen Rezeption des 20. Juli aus. Dieser Abschnitt ist Baur wesentlich besser gelungen, und man erkennt deutlich, dass hier sein eigentliches Interesse liegt. Er behandelt in chronologischer Folge die wichtigsten Gremien und Institutionen für den Aufbau und die weitere Entwicklung in den ersten Jahren der Bundeswehr. Im Gegensatz zu seiner Vorgehensweise bei der zivilen Rezeption spielen in diesen Kapiteln einzelne Akteure innerhalb der institutionellen Gliederungen eine große Rolle. Allerdings ist es nicht immer leicht, die zahlreichen Querverbindungen und persönlichen Netzwerke im Auge zu behalten. Sicherlich hat Baur in deren Rekonstruktion sehr viel Mühe investiert, doch wäre es bisweilen wünschenswert gewesen, diese Passagen zugunsten leichterer Lesbarkeit etwas zu straffen.

Planungen zum Neuaufbau einer westdeutschen Armee gab es ab 1950. Daran waren viele ehemalige Wehrmachtsoffiziere beteiligt, die zum Teil das Attentat vom 20. Juli mitgetragen oder gebilligt hatten. Ausführlich stellt Baur dar, wie bei der Himmeroder Tagung im Oktober 1950 die Erfahrungen aus Diktatur und Widerstand in die Diskussionen einflossen, auch wenn der 20. Juli kaum explizit erwähnt wurde. Die Fragen nach Gehorsam und Gehorsamsverweigerung, nach der gesellschaftlichen Verankerung des Soldaten, nach der Wahrung von Menschenwürde und der Abschaffung von „überlebten Einrichtungen“ innerhalb der Armee, die hier eine Rolle spielten, waren auch zentral für das Konzept der „Inneren Führung“. Die Ausarbeitung stammte maßgeblich von Wolf Graf von Baudissin, der während des Zweiten Weltkriegs Generalstabsoffizier gewesen war. Baur führt die Wurzeln der „Inneren Führung“ vor allem auf Baudissins Interpretation des 20. Juli zurück.

Die Tragfähigkeit und die Umsetzungsmöglichkeiten dieses Konzepts wurden erstmals mit der Personalauswahl für die Bundeswehr akut. Anhand der Arbeit des Personalgutachterausschusses und der Annahmeorganisation wird dies detailliert nachvollzogen und gezeigt, dass die Haltung zum 20. Juli ein wichtiges Kriterium vor allem für die Beurteilung der höheren Dienstgrade war. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die – leider nur in einer Fußnote zitierten – Bewerbungsschreiben an die Annahmeorganisation, die vom Fortleben vieler nun abgelehnter militärischer Traditionen, nationalistischer und rassistischer Ressentiments sowie einer großen Unsicherheit im Umgang mit der neuen Bundeswehr zeugen. Trotzdem ging das Konzept im Großen und Ganzen auf. Baur zeigt, dass durch Personalauswahl und Generationswechsel die Ablehnung des 20. Juli nach und nach sank. Auch der Umgangston und das Verhalten der Soldaten änderten sich im Sinne der „Inneren Führung“. Dass damit die Diskussion um den 20. Juli noch nicht beendet war, verfolgt Baur an der Arbeit des Bundesverteidigungsministeriums bis hin zur Gedenkfeier zum 15. Jahrestag des 20. Juli 1944 im Jahr 1959.

Ein abschließendes Kapitel fasst auf sechs Seiten die Ergebnisse der Arbeit ganz knapp zusammen. Allerdings wird hier versäumt, die Erkenntnisse zu ziviler und militärischer Rezeption explizit aufeinander zu beziehen. Dies ist umso enttäuschender, als in den Teilkapiteln immer wieder Vergleiche angedeutet werden, die zeigen, dass hier sehr interessante Ergebnisse zu erwarten gewesen wären. Trotz aller Kritik – Baur legt überzeugend dar, dass es in der Bundesrepublik nicht nur eine Rezeptionsgeschichte des 20. Juli 1944 gab, sondern eine Vielzahl von Deutungsmodellen. Ein weiteres Verdienst des Buches liegt in dem Nachweis, welche Relevanz diese Modelle in der frühen Nachkriegszeit als Grundlage politischen Handelns besaßen.

Anmerkung:
1 Vgl. Wolfrum, Edgar, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999.

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