Cover
Titel
Neueste Zeit.


Herausgeber
Wirsching, Andreas
Reihe
Oldenbourg Geschichte Lehrbuch
Erschienen
München 2006: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
478 S., 58 Abb., 4 Karten, 8 Graphiken
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Angerer, Universität Wien

Mit dem Band „Neueste Zeit“ findet das vierteilige „Oldenbourg Geschichte Lehrbuch“ (OGL) seinen chronologischen Abschluss. Behandelt der Pilot- und Vorgängerband die Frühe Neuzeit1, so widmet sich der letzte Band der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Das ist eine Besonderheit, denn den Einführungen in die Geschichte der Frühen Neuzeit2 stehen für jüngere Zeiträume bislang nur Einführungen in die Zeitgeschichte gegenüber3: Das „lange“ 19. Jahrhundert fällt meist zwischen die Stühle und findet in Studienbüchern zurzeit nur im angestammten, umfassenderen Rahmen der Geschichte der Neuzeit bzw. Neueren Geschichte Platz.4 Der Band füllt daher eine wichtige Lücke.

Der Aufbau folgt dem OGL-Schema: Epochenüberblicke, historiographische Zugänge, Methoden und Quellen, Forschungseinrichtungen. Grundlegende Arbeitstechniken, die schon im Vorgängerband abgehandelt worden sind, treten hinter Epochenspezifischerem zurück. Ansonsten hat der Band die allgemeinen Vorzüge und Schwächen der Reihe: einerseits Problemorientierung, Vielfalt, Zuverlässigkeit, spannende Aufmachung; andererseits eine Mischung aus Grund- und Spezialinformationen, die den Bogen etwas überspannt. Vom Grund- bis zum Doktoratsstudium werden Studierende darin immer neu fündig werden, erst recht bei gemeinsamer Verwendung mit den anderen Bänden der Reihe. Das ganze Buch oder auch nur einen Großteil braucht man aber wohl in keiner Studienphase, und ebenso wenig wird man damit zur Einführung auskommen. Dazu fehlt es gerade diesem Band an Breite, und manches, insbesondere im letzten Teil, ist schon zu speziell.

Ohne der Zeitgeschichte ihre Stellung als eigene Subdisziplin abzusprechen, präsentiert der Herausgeber die Neueste Zeit als Epoche der Moderne, deren „übergreifende Gesamtzusammenhänge“ keine „Einheit“ bilden würden (S. 10), sondern „wenig mehr als […] eine zeitliche Konvergenz ganz unterschiedlicher langfristiger Prozesse“ (S. 162). Wie langfristig und konvergierend diese sind, wird allerdings erst in Wirschings eigenem Epochenrückblick am Ende des ersten Buchteils deutlich. Die vorausgehenden Überblicke zerfallen in „Entfaltungsprozesse (19. Jahrhundert)“ einerseits, „Krise und Ambivalenz der Moderne (20. Jahrhundert)“ andererseits – und verkürzen damit die Perspektive zeitlich übergreifender Themen wie etwa Industrialisierung, Revolution der Wissenschaften, Lebenswelten in der Moderne. Über Konzepte der Moderne orientiert denn auch erst ein Beitrag am Ende des nächsten Buchteils: Daraus geht unter anderem hervor, dass der „internationale Konsens“ über Grenzen und Inhalt der „modernen“ Epoche noch nicht so weit gehen dürfte, wie der Herausgeber schreibt (S. 161) – umso weniger, als „Modern History“ eben nicht, wie irrtümlich angegeben (ebd.), „Neueste Geschichte“ oder „histoire contemporaine“ bedeutet, sondern einfach Neuere Geschichte im Sinne von Geschichte der Neuzeit von etwa 1500 bis heute.

Die übrigen Beiträge des zweiten Teils gelten der Geschichte der internationalen Beziehungen, der Gesellschaftsgeschichte, der Biographieforschung, der „Neuen Kulturgeschichte“, der Welt- bzw. Globalgeschichte und der historischen Bildforschung. Die Frauen- und Geschlechtergeschichte kommt verschiedentlich zur Sprache, vor allem im Beitrag zur Kulturgeschichte; daher wollte sie der Herausgeber nicht „isoliert“ behandeln lassen (S. 10, vgl. S. 176). Das Argument gegen einen eigenen Beitrag wäre allerdings überzeugender ausgefallen, wären frauen- und geschlechtergeschichtliche Ansätze im gesamten Band konsequenter integriert.

Der dritte Teil des Buchs bringt unter der Überschrift „Vorgehen der Forschung“ vergleichsweise unterschiedliche Beiträge: Der Bogen reicht von der Entfaltung der modernen Geschichtswissenschaften im 19. Jahrhundert über Vergleich bzw. Transnationalität und Oral History bis zu einer Gruppe von Beiträgen über Quellengattungen, Archive und Internetressourcen. Dazwischen finden sich kurze „interdisziplinäre Perspektiven“ – allerdings nur von Seiten der Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft. Der Blick auf die Volkskunde verliert sich in einer Disziplingeschichte, ohne zu zeigen, wo und wie Volkskunde und Geschichtswissenschaft zusammenarbeiten können; und Fächer wie Rechtswissenschaft oder Soziologie fehlen gänzlich.

Den Schluss dieses Buchteils bildet etwas unvermittelt ein Beitrag über Russland und die Sowjetunion „als Thema der Osteuropäischen Geschichte“. Abgesehen davon, dass der Beitrag kaum Zusammenhänge zwischen Zarenreich und Sowjetunion herausarbeitet und dass damit erneut die Gelegenheit versäumt wird, strukturelle Verbindungen zwischen 19. und 20. Jahrhundert aufzuzeigen: Unklar bleibt zudem, was die russische bzw. sowjetische Geschichte mit der ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen so verbindet, dass Osteuropäische Geschichte als übergreifende, regionale Spezialisierung wichtig ist, und zwar auch für die Zeit vor der Sowjetisierung Ostmitteleuropas und eines Großteils von Südosteuropa.

Wie alle OGL-Bände endet das Buch mit Überblicken zu Forschungseinrichtungen in ausgewählten Staaten. Dabei kommen so viele Archive, Bibliotheken und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen zur Sprache, dass man die Universitäten doch etwas vermisst (erwähnt werden nur Universitätsarchive und einzelne Spezialinstitute): Immerhin sind die meisten der rund 40 Autorinnen und Autoren des Buches universitär verankert, und der Herausgeber betont die Verbindung von Forschung und Lehre im Studium. Mit Recht tritt er dafür ein, das Geschichtsstudium von Anfang an „nicht passiv-rezeptiv, sondern aktiv-schöpferisch“ zu gestalten (S. 9) – dazu regt dieses Buch sehr gut an.

Auch verspricht Wirsching zurecht „manch ein Kabinettstück“ (S. 12): Neben seinen eigenen Überlegungen zur „Epochenbildung“ gehören dazu etwa die Beiträge von Thomas Hertfelder, Hans-Christof Kraus, Günther Kronenbitter, Marcus Llanque/Herfried Münkler, Willibald Steinmetz und Thomas Welskopp – andere stehen aber oft nur um wenig nach (lediglich der Artikel über „Industrielle Massengesellschaft zwischen Demokratie und Diktatur“ trägt einen irreführenden Titel und zerfranst). Gleichwohl: Die „Erfahrungen einer ganzen Generation überwiegend ‚jüngerer’ Historiker [und Historikerinnen]“ (S. 12) spiegelt das Buch nicht wider; genauso wenig bietet es „ein hinreichend repräsentatives Spektrum dessen, was die gegenwärtige Geschichtswissenschaft der Neuesten Zeit leistet“ (S. 11). Zumindest fehlt ein entscheidender, einschränkender Zusatz, nämlich die Ortsangabe „in Deutschland“. Die Auswahl und Gewichtung der Zugänge lässt sich nämlich mitunter am besten mit Besonderheiten der deutschen (manchmal süddeutschen) Forschungslandschaft erklären.

Ähnliches gilt für die „Konzentration auf die Geschichte des europäisch-atlantischen ‚Westens’“ (S. 10). Der Herausgeber begründet sie damit, dass Aufklärung und Liberalismus weltgeschichtlich Epoche machten und ihren Ursprung im Westen hatten. Nun war und bleibt die Wirkung der aufklärerisch-liberalen Idee auf die übrigen, größeren Teile der Welt bekanntlich so ambivalent wie die Moderne selbst, und diese Ambivalenz ist für das Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart zentral. Leider werden Imperialismus, Entkolonisierung und Globalisierung, Säkularisierung und Kulturkampf in den Epochenüberblicken bloß beiläufig erwähnt und tauchen ansonsten nur in historiographisch-methodisch orientierten Beiträgen kurz auf. Der Islam und sein Verhältnis zur Moderne kommen nicht vor, auch nicht das Osmanische Reich bzw. die Türkei (außer bei kurzen Nennungen im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armeniern und der zweiten Einwanderungswelle in die Bundesrepublik). Viel zu kurz kommt auch ein Kernthema der euro-atlantischen Geschichte im engeren Sinn: die europäische Integration.

Als weiterer Grund für die räumliche Einschränkung wird genannt, dass sich „der größte Teil der (deutschsprachigen) akademischen Lehre in der Neueren und Neuesten Geschichte auf Europa und Nordamerika bezieht“ (S. 11). Könnten und sollten nicht wenigstens Studienbücher versuchen, notorische Defizite der Lehre auszugleichen? Zu allem Überfluss konzentrieren sich einzelne Beiträge sogar ganz auf Deutschland. Der Vorgängerband über die Frühe Neuzeit hat schon mit seiner Untergliederung des ersten Teils in „Die Epoche im Europa-Maßstab“ und „Die Epoche im Welt-Maßstab“ sachgemäßere Leitlinien vorgegeben und geographisch durchweg weiter ausgeholt. Hinter solchen Maßstäben bleibt der Band „Neueste Zeit“ leider zurück.

Anmerkungen:
1 Völker-Rasor, Anette (Hrsg.), Frühe Neuzeit, München 2000, 2. Aufl. 2006. Siehe auch (mit Leseproben): <http://www.geschichte-lehrbuch.de/>.
2 Neben dem Band von Völker-Rasor zuletzt: Stollberg-Rilinger, Barbara; Flüchter, Antje (Hrsg.), Einführung in die Frühe Neuzeit [2001–2003], online unter URL: <http://www.uni-muenster.de/FNZ-Online/>; Emich, Birgit, Geschichte der Frühen Neuzeit studieren, Konstanz 2006; dies., Frühe Neuzeit 1500–1800, Konstanz 2008 (im Erscheinen).
3 Zuletzt: Möller, Horst; Wengst, Udo (Hrsg.), Einführung in die Zeitgeschichte, München 2003 (siehe meine Rezension: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-001>); Metzler, Gabriele, Einführung in das Studium der Zeitgeschichte, Paderborn 2004 (rezensiert von Jan-Holger Kirsch: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-011>).
4 Zuletzt: Schulze, Winfried, Einführung in die Neuere Geschichte, Stuttgart 1987, 4., völlig überarb. und aktualis. Aufl. Stuttgart 2002; Wolbring, Barbara, Neuere Geschichte studieren, Konstanz 2006 (rezensiert von Barbara Vogel: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-104>).

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