H. Kiesewetter: Industrialisierung Sachsens

Titel
Die Industrialisierung Sachsens.


Autor(en)
Kiesewetter, Hubert
Reihe
Regionale Industrialisierung 5
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathias Mutz, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Göttingen

Die Geschichte der Industrialisierung aus regionaler Perspektive zu schreiben, kann zweifelsohne als Hubert Kiesewetters wissenschaftliches Lebenswerk bezeichnet werden. Unter dem Titel „Die Industrialisierung Sachsens. Ein regional-vergleichendes Erklärungsmodell" ist nun seine hierfür zentrale, 1988 erstmals veröffentlichte Habilitationsschrift neu herausgegeben worden.1 Über den Sinn einer solchen „Neuauflage“ nach 20 Jahren kann man streiten, sie spricht jedoch nicht zuletzt für die anhaltende Nachfrage nach Arbeiten zum Thema. Zu Recht nennen Rainer Karlsch und Michael Schäfer in ihrer vor kurzem erschienenen Überblicksdarstellung zur Wirtschaftsgeschichte Sachsens Kiesewetter – zusammen mit Rudolf Forberger – als entscheidenden Referenzpunkt. Gleichzeitig mahnen sie jedoch Defizite der sächsischen Industrialisierungsgeschichte an, die zwar zuletzt neue Impulse erhalten habe, jedoch „ohne bisher die in anderen wichtigen Industrieregionen Europas gesetzten Standards bereits erreicht zu haben“. 2 Die Entstehungsgeschichte der vorliegenden Arbeit, auf die Kiesewetter im neuen Vorwort ausführlich eingeht, verweist auf eine wichtige Ursache hierfür, wenn dort die Bearbeitung des Themas in einer Zeit mit zwei deutschen Staaten beschrieben wird. Die dadurch begründeten Disparitäten und Diskontinuitäten der Forschungslandschaft sind kaum auszugleichen, zumal Forschungslücken durch veränderte Forschungsinteressen im Grunde fortgeschrieben werden.

Dass das Buch „inhaltlich und stilistisch gründlich überarbeitet“ wurde, wie Kiesewetter erklärt (S. 12), ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Die Arbeit hat ihr äußeres Gesicht kaum verändert, Kapitelstruktur und Textkörper sind erhalten geblieben. Lediglich einige wenige Absätze wurden eingefügt, die vor allem auf die 1999/2003 posthum erschienene Arbeit Rudolf Forbergers Bezug nehmen.3 Ansonsten spielt sich die Überarbeitung in den Fußnoten und im Literaturverzeichnis ab. Dementsprechend wird sich diese Rezension der Neuauflage auf drei Fragen konzentrieren. Erstens: Welche Kritikpunkte wurden bei Erscheinen der ersten Auflage aufgeworfen? Dann: Welche anderen Punkte erscheinen aus heutiger Perspektive bemerkenswert? Und schließlich: Wie sind die Unterschiede zu Forberger zu beurteilen, die Kiesewetter selbst stark macht?

Kiesewetters umfangreiche Habilitationsschrift wurde nach ihrem Erscheinen als wichtiger Beitrag zur deutschen Industrialisierungsgeschichte gewürdigt. Vor allem die breite Quellen- und Literaturbasis und das methodisch-strukturierte Vorgehen wurden dabei hervorgehoben. 4 Auf der Grundlage der staatlichen Aktenüberlieferung geht Kiesewetter in drei Schritten vor: In einem ersten Teil (Kapitel 1-6) zeichnet er die Entwicklung der staatlichen Verfassungs- und Wirtschaftspolitik und die darin sichtbar werdenden Liberalisierungsschritte nach. Der zentrale zweite Abschnitt (Kapitel 7-14) schildert dann die Entwicklung von Bevölkerung und Erwerbstätigkeit sowie einzelner zentraler Wirtschaftsbereiche (Landwirtschaft, Handwerk, Bergbau, Baumwollindustrie, Maschinenbauindustrie usw.). Abschließend werden unter dem Titel „Staat und Unternehmen“ die Wirkungen der staatlichen Gewerbeförderung untersucht (Kapitel 15). Als zentrale Thesen zur Beantwortung der Frage, warum es gerade dem Königreich Sachsen gelang, eine Vorreiterrolle in der deutschen Industrialisierung zu übernehmen, werden dabei die Bedeutung der Verwaltungs- und Agrarreformen nach der Revolution von 1830/31, die wichtige Rolle staatlicher Gewerbeförderung und ein besonderer Industrialisierungsdruck durch die Importabhängigkeit Sachsens bei Nahrungsmitteln herausgearbeitet. Im auf Sekundärliteratur beruhenden Vergleich mit anderen Regionen entwickelt Kiesewetter schließlich ein Faktorenmodell zur regionalen Industrialisierung, in dem acht Bereiche Berücksichtigung finden: staatliche Reformen, Landwirtschaft, Bevölkerungsentwicklung, Kapital, Bildung, Außenhandel, natürliche Ressourcen und technischer Fortschritt.

Dieses regional-vergleichende Erklärungsmodell wurde einerseits als wichtiger Impuls für die weitere Forschung gewertet, andererseits aber auch dafür kritisiert, bestimmte Deutungszusammenhänge zu erzwingen und aufzudrücken. Dies spiegele sich auch in Kiesewetters Überzeugung, dass es „ökonomisch vergleichbare Abläufe gibt, deren Reihenfolge eingehalten werden muß, wenn Industrialisierung in Gang kommen soll“ (S. 19). Auch die Konzeption der zentralen Untersuchungseinheit Region wurde kritisch hinterfragt, setzt Kiesewetter doch de facto Region und Mittelstaat gleich und definiert den Wirtschaftsraum somit wiederum politisch. Weitere Kritikpunkte beinhalteten die Konzentration auf klassische „Führungssektoren“ wie Eisen- und Textilindustrie und die damit einhergehende Vernachlässigung des tertiären Sektors. Damit werden einige blinde Flecken des quantifizierenden und modernisierungstheoretischen Ansatzes aufgezeigt, die auch zeigen, wie Kiesewetters Idee von Industrialisierung in Debatten der 1970er- und 1980er-Jahre verankert ist.

Nimmt man jüngere Forschungsimpulse mit in den Blick, die in der vorliegenden Überarbeitung nicht aufgegriffen werden, lassen sich einige dieser Kritikpunkte deutlicher fassen. Gleichzeitig werden aber auch zahlreiche Anknüpfungspunkte sichtbar, von denen hier nur drei genannt werden können: das Zusammenspiel von Regionalisierung und Globalisierung, die Bedeutung von Unternehmen/Unternehmern als Akteure der Industrialisierung und schließlich die Interpretation der Industrialisierung als „Institutionelle Revolution“.5

Aspekte der internationalen Vernetzung und Globalisierung spielen in der Darstellung kaum eine Rolle, obwohl sie sich aus heutiger Sicht als Gegenimpuls zur regionalen Betrachtung und zum regionalen Vergleich geradezu aufdrängen dürften. Hier ließe sich die von Kiesewetter in Anlehnung an Sidney Pollard geforderte Loslösung vom Nationalstaat als Orientierungspunkt der Forschung noch weiter treiben – so etwa bei der Frage, inwieweit das Erzgebirge als politische Grenzen überwindende Wirtschaftsregion zu sehen ist. Gerade bei der Konzeption von Raum und Region könnten aktuelle Konzepte eines „spatial turns“ innerhalb der Geschichtswissenschaft, die Kiesewetters Thesen durchaus unterstreichen dürften, neue Perspektiven eröffnen. Ähnliches gilt für neuere akteurszentrierte Ansätze der Unternehmensgeschichte, die das bisher eher konturlose Bild der Akteursgruppe Unternehmer ergänzen könnten, auch wenn aufgrund der staatlich geprägten Quellenüberlieferung die dynamische Rolle der Unternehmer schwierig zu fassen ist. Regionale Unternehmenscluster und Innovationsnetzwerke waren zweifelsohne entscheidende Schrittmacher der sächsischen Industrialisierung.

Auch wenn Kiesewetters Industrialisierungsmodell zahlreiche weitere Faktoren neben die Idee des technischen Fortschritts stellt, bleibt das Konzept industrieller Leitsektoren wie Textilindustrie oder Eisenbahnbau für seine Arbeit zentral. Dadurch werden vor allem auch Handel, Finanzwesen und sonstige Dienstleistungen in ihrer strukturellen und institutionellen Bedeutung vernachlässigt. Zu denken ist hier beispielsweise an den Messestandort Leipzig oder die Elbe als wichtigen mitteleuropäischen Handelsweg, ohne deren Berücksichtigung wichtige Teile der industriellen Entwicklung Sachsens außen vor bleiben. Allerdings betont Kiesewetter mit den politischen Rahmenbedingungen und staatlichen Eingriffen in das Wirtschaftsleben auch zahlreiche Aspekte, die gerade im Sinne einer institutionenökonomischen Interpretation der Industrialisierung zentral sind, die in der Ausbildung und im Wandel von Eigentumsrechten, Normen und Werten prägende Faktoren industrieller Entwicklung sehen.

Gegenüber solchen Grundfragen scheint die Auseinandersetzung zwischen Kiesewetter und Forberger um die Datierung der sächsischen Industrialisierung zweitrangig. Kiesewetters Untersuchungszeitraum 1815-1871 stellt Forberger die Periode 1800-1861 entgegen und hält auch im zweiten Teil seines Werkes an einem Beginn der sächsischen Industrialisierung zur Jahrhundertwende fest. Damit stellt er sich gegen Kiesewetters Einwände, der sowohl das Jahr 1800 mit dem ersten Einsatz von Werkzeugmaschinen in Fabriken als auch das Jahr 1861 mit dem Erlass eines Sächsischen Gewerbegesetzes als Epochenschwellen zurückweist und Forberger insbesondere eine Überbewertung des Textilsektors vorwirft. Kiesewetter sieht dagegen in den Jahren 1825 bis 1834 den industriellen Durchbruch, spricht für die drei Jahrzehnte davor jedoch zumindest von einer „Frühindustrialisierung“ (S. 26). Interpretiert man die Industrielle Revolution als langfristiges, aus zahlreichen Einzelprozessen bestehendes Phänomen, erscheint das Periodisierungsproblem jedoch als Frage der Gewichtung von einzelnen Aspekten. Trotz unterschiedlicher wirtschaftstheoretischer Fundierung, die Kiesewetter und Forberger hier unterschiedliche Prioritäten setzen lassen, schreiben letztlich beide eine Produktionsgeschichte der Industrialisierung.

Unabhängig von der Zeitgebundenheit seiner Schwerpunktsetzung bleibt Kiesewetters Arbeit ein in seiner Grundidee innovatives und gewinnbringend zu lesendes Standardwerk der deutschen Industrialisierungsgeschichte, das einen Einblick in das umfangreiche Material zur sächsischen Industrialisierung ermöglicht, zentrale Prozesse und Strukturen der spezifischen Entwicklung dort aufzeigt und Sachsens Pionierrolle im interregionalen Vergleich eindrucksvoll herausarbeitet. Dass Sachsen als Industrieregion trotzdem in der Forschung noch immer unterrepräsentiert scheint, macht es umso wünschenswerter, dass es in Zukunft bei der Weiterentwicklung wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtlicher Fragestellungen zur Industrialisierung eine wesentliche Rolle spielt. Das vorliegende Buch zeigt das vorhandene Potential hierzu.

Anmerkungen:
1 Ursprünglich Kiesewetter, Hubert, Industrialisierung und Landwirtschaft. Die Stellung Sachsens im regionalen Industrialisierungsprozeß Deutschlands im 19. Jahrhundert, Köln u.a. 1988.
2 Karlsch, Rainer; Schäfer, Michael, Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter, Leipzig 2006, S. 7.
3 Forberger, Rudolf, Die industrielle Revolution in Sachsen 1800-1861. Bd. 2: Die Revolution der Produktivkräfte in Sachsen 1831-1861, 2 Teilbände, Stuttgart 1999/2003.
4 Vgl. beispielsweise Hahn, Hans-Werner, Rezension von: Hubert Kiesewetter, Industrialisierung und Landwirtschaft. Sachsens Stellung im regionalen Industrialisierungsprozeß Deutschlands im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 250, 1990, S. 723f.; Saalfeld, Diedrich, Rezension von: Hubert Kiesewetter, Industrialisierung und Landwirtschaft. Sachsens Stellung im regionalen Industrialisierungsprozeß Deutschlands im 19. Jahrhundert, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 77 (1990), S. 248f.
5 Wischermann, Clemens; Nieberding, Anne, Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004.