D. Tyradellis u.a. (Hrsg.): Die Szene der Gewalt

Cover
Titel
Die Szene der Gewalt. Bilder, Codes und Materialitäten


Herausgeber
Tyradellis, Daniel; Burkhardt, Wolf
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
195 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Kalff, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Wenngleich reale Begegnungen mit Gewalt selten vordergründig die Frage nach deren kultureller Codierung aufwerfen, ist sie bei einer theoretischen Begegnung mit dem Thema durchaus angebracht. Der vorliegende Band setzt sich eingehend mit der Frage nach dem wechselseitigen Verhältnis von Codierung und Gewalt sowie jener nach den jeweilig benutzten materiellen Trägermedien auseinander. Dies geschieht in Form von neun Aufsätzen, die größtenteils eine im Sommer 2005 im Rahmen des Graduiertenkollegs „Codierung von Gewalt im medialen Wandel“ veranstaltete Vorlesungsreihe an der HU-Berlin dokumentieren, bei der namhafte Referenten der Philosophie, Geschichte, Medienwissenschaft und der verschiedenen Philologien vertreten waren.

Sehr deutlich erteilte Foucault 1971 der strukturalistischen These einer vorgängigen sprachlichen Codierung aller Phänomene, einschließlich jenes der Gewalt, eine Absage: Nicht Zeichensysteme, sondern Kräfte stünden sich auf einer Art offenen Bühne gegenüber, auf der „immer dasselbe Stück gespielt“ werde, „jenes Stück nämlich, das Herrscher und Beherrschte unablässig aufführen.“1 Mit dem Modell einer Bühne oder eines Schauplatzes operieren nun gleichfalls die beiden Herausgeber Daniel Tyradellis und Burkhardt Wolf in der Einleitung des Bandes, um der Disparatheit der in den versammelten Aufsätzen benutzen Gewaltbegriffe Herr zu werden. Die verschiedenen Ansätze der Gewaltforschung aus Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft zeichneten sich dadurch aus, „auf ein und demselben Schauplatz“ zusammen zu laufen, auf „eine Szene, die stets von den drei Koordinaten der Materialität, des Codes und des Bildhaften beherrscht wird.“2 Zur Untergliederung erweisen sich die genannten Koordinaten in ihrer Allgemeinheit jedoch als ungeeignet – zum einen erscheinen sie im Grunde themenunspezifisch, oder, um in der mathematischen Terminologie zu bleiben, wie ein Achsenkreuz, in das sich tendenziell beliebige Graphen eintragen ließen. Zum anderen ist mit der Aussage, dass sich die gegebenen Funktionen allesamt in Koordinatensystemen mit x-, y- und z-Achse darstellen ließen, wohl weder mathematisch noch kulturwissenschaftlich allzu viel gewonnen.

Die Aufsätze werden in drei Sektionen präsentiert, deren erste sich mit Theorien der Gewalt befasst, die beiden weiteren mit verschiedenen Schauplätzen, respektive Medientechniken der Gewalt. Dieses Ordnungsprinzip konvergiert erstaunlicherweise nicht mit dem zuvor ins Feld geführten ‚Koordinatensystem‘, ist aber sinnvoller als dieses. Die thematische Fokussierung des Inszenierungs- oder „Aufführungscharakters von Gewalt“ (S. 9), ist nun nicht als Reminiszenz an wie auch immer geartete Performanz-Ideen zu verstehen, sondern bezieht sich ganz im Sinne des eingangs zitierten Passus Foucaults auf die komplexen Beziehungen zwischen Gewalt, Bild, Sprache und Wahrheit.

Jean-Luc Nancy geht in seinem einleitenden Aufsatz „Bild und Gewalt“ der Frage nach, „was das Bild an die Gewalt bindet und umgekehrt“ (S. 33). Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass diese Bindung in ihrer gemeinsamen Bezugnahme zur Wahrheit zu finden sei – sowohl Wahrheit als auch Gewalt zeichneten sich durch die Eigenschaft des Unverhandelbaren aus. Diesem sei eigen, nicht nach Repräsentation, sondern nach reiner Präsenz, oder, wie Nancy es formuliert, nach „Monstranz“ zu streben (S. 39). So gelangt er zu einem gleichermaßen phänomenologischen wie nicht-mimetischen Bildbegriff. In dieser Perspektive „streitet“ das Bild „mit dem Ding und die Rivalität impliziert weniger Nachahmung als Wettstreit“, und zwar einen Wettstreit „um die Präsenz“ (S. 39). Hier macht Nancy offenkundig wie Hans Belting einen älteren Bildbegriff fruchtbar, der hier nicht in historisierter, sondern universalisierter Fassung auftritt. Während nun Wahrheit geradezu gewaltsam nach nicht-mimetischer bildlicher Präsenz strebe, so bemühe sich die Gewalt in bedauerlicher Ermangelung von Wahrheit, dieser zu ähneln, um an deren Nimbus des Zwingenden teilzuhaben. Gewaltverherrlichung ist demgemäß nichts anderes eine unerfreuliche Verwechslung von Wahrheit und Gewalt. Nancys genereller Opponierung von Vernunftordnung und Gewalt ließe sich freilich entgegenhalten, dass auch Kriege im Zusammenhang mit Gewalt stehen, wobei sich diese gemeinhin nicht unter die reinen Affekthandlungen rubrizieren lassen.

Ganz anders sieht der von Michel Foucault entworfene Nexus zwischen Gewalt und Wahrheit aus, dessen Genese Philipp Sarasin unter Rekurs auf Foucaults Nietzsche-Rezeption untersucht. In Frontstellung gegenüber dem Strukturalismus, welcher die Struktur der Sprache selbst für die Hervorbringung wahrnehmbarer Dinge verantwortlich macht, fokussiert Foucault bekanntlich keine diskursive Analyse von Zeichensystemen, sondern vielmehr von Macht- und Kräfteverhältnissen, wie sie sich in Institutionen und Praktiken manifestieren. Mit Nietzsche, aber auch mit Hobbes und Machiavelli teilt Foucault die pessimistische Auffassung der menschlichen Natur, was ihn zur Annahme veranlasst, „dass der Kampf das Ursprüngliche und Letzte“ sei, „was sich über die menschliche Gesellschaft sagen lässt“ (S. 54). Dementsprechend ist es bei Foucault die Gewalt selbst, die Bedeutung konstituiert und daher codierend wirkt.

Überzeugend zeigt Sarasin, wie Foucault Nietzsches Gedankenbewegung unterschlägt, welche die Entstehung von Sprache und somit sprachlicher Konventionen als mediale Voraussetzung von Wahrheit aus einem Kontrakt resultieren lässt. Ein Umstand, aus dem man, wie Sarasin zu Recht bemerkt, ebenso gut hätte folgern können, dass symbolische Ordnungen nicht nur das Ergebnis von Machtkämpfen sind, sondern auch das Medium, in dem sie ausgetragen werden. Die Einbeziehung dieser „gleichursprünglichen“ symbolischen Ordnung (S. 58), in welcher Interessenkonflikte geführt werden, ist Sarasins bedenkenswerter Vorschlag. Denn so berechtigt die Berücksichtigung von Machtgefügen bei der Untersuchung von Dispositiven auch sein mag, so droht die übermäßige Betonung des machtpolitischen cui bono in der Tat eine Art verschwörungstheoretischer Wissenschaftsgeschichte zu begünstigen, die von dem verhandelten Inhalt geradezu absehen kann. Die Rückführung sämtlicher Regeln von Diskursen auf einen universellen Kampf „zwischen Herrschern und Beherrschten“ (S. 49) hat einen Beigeschmack von Monokausalismus.

Eine vergleichbare Tendenz zur Einseitigkeit aus religionswissenschaftlicher Perspektive findet sich in Ulrike Brunottes Aufsatz „Ganzheit und Opfer. Gründungsgewalt in Mythologie und Religionstheorie“, in welchem zwar unter Rekurs auf Vernant verschiedene Narrative wie der babylonischen Schöpfungsmythos „Enuma elis“ und den griechischen Herakles-Mythos überzeugend auf das Verhältnis von Gewalt und Souveränität hin gelesen werden, wobei jedoch aufgrund der Ausarbeitung einer regelrechten ‚Schöpfungsgewalt‘ der Eindruck entsteht, Schöpfungsnarrative träfen im Wesentlichen Aussagen zu Macht- und Herrschaftskonflikten. Dem wäre entgegenzuhalten, dass diese durchaus noch einen darüber hinausgehenden Informationsgehalt besitzen, etwa zu Kosmologie, Naturphilosophie und kulturellen Praktiken. 2

Die aus dem literaturwissenschaftlichen Kontext entstammenden Beiträge neigen ihrerseits dazu, verstärkt Codierung und weniger Gewalt zu verhandeln. Eine Ausnahme bildet hier Tobias Döring, der das Problem der Unterscheidbarkeit von vorgetäuschter und tatsächlicher Gewalt im elisabethanischen Drama anhand von Werken Kyds und Marlowes analysiert. Überzeugend wird das literarische Material mit Realien der Theatergeschichte und Bühnenpraxis, der Rechtsprechung und religiösen Praktiken verwoben.

Sonderbar sind Moritz Baßlers dem germanistischen Kontext zuzuordnende systemtheoretische Erwägungen über das, „was nicht ins Archiv kommt“. Dieser Text ist sehr unpassend unter den Theorien der Gewalt rubriziert, zu denen er wenig beiträgt. Seiner archivbegrifflich unterfütterten Text-Kontext-Theorie ist der denkbar weiteste Archivbegriff zugrunde gelegt, bei dem das Archiv als die „Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit oder als Zeugnis ihrer beibehaltenen Identität bewahrt hat“ fungiert (S. 66). Kurz gesagt, Archiv ist alles, worauf kulturell zugegriffen werden kann. Problematisch erscheint daran die Implikation, dass die Dinge stets das sind, was sie sind – möglicherweise werden sie ja erst durch die Kontextualisierung zu dem, was sie sind. Durch die völlige Vernachlässigung der Transformation von Beständen des ‚kulturellen Archivs‘ sowie die des Problems der Aufnahme in solche kulturellen ‚Korpora‘, sieht sich Baßler gar nicht mit der Frage der Gewalt konfrontiert – weder theoretisch noch gegenständlich.

Bemerkenswert ist der Konsens der Aufsätze dahingehend, dass Gewalt grundsätzlich negativ gefasst und stets in Verbindung, und zwar in oftmals ungeklärte Verbindung zu Macht und Herrschaft gesetzt wird. Am deutlichsten wird dies bei Sarasins Resumé Foucaults – hier führt die Identifikation von Gewalt und Macht zu einer Suche nach einem Ort außerhalb von Machtbeziehungen, die nur vor dem Hintergrund eines negativen Gewalt- und Machtbegriffs funktioniert. Einzig Nancy liefert mit seinem Gedanken der „Gewalt der Wahrheit“ einen Ansatzpunkt, den Begriff positiv zu denken, ohne damit Gewalthandlungen zu legitimieren. Wollte man nun gleichfalls zur Identifikation mit Macht und Herrschaft schreiten, ließe sich vielleicht La Boéthies Idee des Machtentzugs durch schlichten Unglauben an die faktische Existenz dieser herrschaftlichen Macht als eine solche „Gewalt der Wahrheit“ lesen.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die interdisziplinäre Annäherung an das Thema zweifellos positiv hervorzuheben ist, obgleich fraglich bleibt, ob der Anspruch, „das gesamte Spektrum von einer historischen Gewaltsemantik bis zu der im Codierungsverfahren selbst wirksamen Gewalt“ (S. 10) abzudecken, als eingelöst betrachtet werden kann. Die Leistung des vorgelegten Bandes ist sicher nicht in einer systematischen oder theoretisch homogenen Auseinandersetzung mit dem Thema der Gewalt zu sehen. Vielmehr zeichnet er sich durch die Unschärfe des zugrunde gelegten Gewaltbegriffs aus, die nicht zuletzt aus seiner Ausdehnung auf Phänomene resultiert, deren behauptete Gewaltsamkeit angesichts der Vielzahl wesentlich offenkundigerer Gewaltphänomene zuweilen erstaunt. Andererseits ist gerade die Differenziertheit und Komplexität der verhandelten Theorien der Gewalt ein herausragender Zug des Bandes, so dass zu wünschen wäre, dass die Vielschichtigkeit der hier unternommenen theoretischen Zugänge bei der Untersuchung gewaltsamer Ereignisse auch Anwendung fände.

Anmerkungen:
1 Foucault, Michel: Schriften in vier Bänden (Dits et Ecrits). Bd. II. Frankfurt am Main 2002. S. 176.
2 Hier wäre auf Santillana und Dechent zu verweisen, die Mythologeme kurzerhand als ‚Wissenschaft auf mythisch‘ lesen. Vgl. Dechent, Hertha von; DeSantillana, Giorgio: Die Mühle des Hamlet. Ein Essay über Mythos und das Gerüst der Zeit, Wien 1994.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch