M. Giesecke: Die Entdeckung der kommunikativen Welt

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Titel
Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte


Autor(en)
Giesecke, Michael
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
534 S.
Preis
€ 17,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Fahle, Fakultät Medien, Medienkultur, Bauhaus-Universität Weimar

Michael Giesecke, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft mit den Schwerpunkten Kultur- und Medientheorie an der Universität Erfurt, ist ein ausgewiesener Kenner insbesondere der Mediengeschichte der Schrift. Seine frühe umfangreiche Studie zum Buchdruck in der Frühen Neuzeit ist zweifellos eines der detailreichsten historischen Werke zu den Transformationen der typografischen Epoche, deren Vorherrschaft spätestens mit den digitalen Medien in Frage steht.1 Giesecke hat sich auch in den Folgepublikationen stets mit der von ihm so genannten Informationsgesellschaft der neuen Medien beschäftigt, gerade auch dann, wenn er den Buchdruck sowie dessen Vorgeschichte in den Blick genommen hat.2 Chirografie und Typografie sind die bevorzugten Forschungsfelder des Autors, von deren medienhistorischen Lokalisierungen aus er Modelle zur Mediengeschichtsschreibung entwirft, anhand derer er auch die gegenwärtigen Veränderungen begreiflich machen will, die in Absetzung von der mechanisierten Schrift erst verständlich werden.

Es verwundert daher nicht, dass auch das neue Buch von Giesecke eine lange Reise durch verschiedene Stationen medienhistorischer Brüche darstellt, die immer mit der Schrift zu tun haben. Er unterteilt seine Studie in drei große Kapitel, die systematisch aufeinander abgestimmt sind. Das erste Kapitel beschäftigt sich in diachroner Absicht mit dem bereits vom Autor vielfältig untersuchten Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und den Rollen von Oralität und Schriftlichkeit. Das zweite Kapitel strebt eine theoretische Grundlegung medienhistorischen Denkens an, indem Giesecke das von ihm ebenfalls bereits in vorangehenden Texten aufgeworfene Modell der Medienökologie ausführt. Das dritte Kapitel schließlich versteht sich als medienhistorisch angelegter Ansatz eines Vergleichs der Entwicklungen und kulturellen Bedeutung der Schrift in Europa und Japan. Zum Schluss bietet der Autor gerafft einen Ausblick auf die Bedingungen der posttypografischen Medienkultur.

Im ersten Kapitel sind eine Reihe von empirischen Untersuchungen versammelt, etwa über das Verhältnis von Rede, Manuskript und Druck am Hofe, über den Brief als Kommunikationsmedium oder über die Herausbildung des Deutschen als Standardschriftsprache. Kenntnisreich wird das Material entfaltet, ohne dass die Studien eine theoretische Neuorientierung zu der in der Mediengeschichte bekannten Entwicklungsgeschichte der Schrift zwischen Manuskript und Buchdruck, Oralität und standardisierter Schriftlichkeit erfordern. Allerdings versteht Giesecke es, die unterschiedlichen kommunikativen Voraussetzungen der Kulturen des Mittelalters und der Neuzeit anhand verschiedener Beispiele deutlich zu machen. Dies kann auch für gegenwärtige Untersuchungen leitend sein, wenn etwa klar wird, dass es im Mittelalter „kein Kommunikationsmittel [gibt], welches vergleichbar der gegenwärtigen Umgangs- und Standardschriftsprache, in allen Kommunikationsbereichen die Verständigung ausreichend sichern könnte“ (S. 123). Im Mittelalter gab es eine Vielzahl von Werkzeugen, die spezielle Kommunikationsfunktionen erledigten, die Integration durch ein Leitmedium kann hingegen nicht festgestellt werden. Daraus entwickelt sich die interessante, von Giesecke an verschiedenen Stellen gestreifte Frage, wie sich gegenwärtige Kommunikationsverhältnisse darstellen, wenn das Leitmedium der typografischen Schrift an Bedeutung verlieren sollte.

Theoretisch ambitioniert stellt sich daher das zweite Kapitel dar, in dem es um die Systematisierung medienhistorischer Überlegungen geht. Giesecke favorisiert dabei ein Modell der Medienökologie, das lineare Prozesse nur als eine Ablaufform der Informationsverarbeitung begreift und grundsätzlich den Gedanken der Vernetzung kommunikativer Prozesse bevorzugt. Dabei stellt er vor allem auf triadische Modelle ab. Medien unterteilt er etwa in Informationsmedien, Spiegelungsmedien und Vernetzungsmedien, um die oftmals gleichlaufenden Ereignisse von Informationsaufnahme, multisensorieller Verarbeitung und multimedialer Organisation zu verdeutlichen. Verarbeitungsphasen der Kommunikation unterteilen sich in lineare, rekursive und parallele, um die simultane Verdichtung von Sukzession und Kybernetik herauszustellen sowie die Wechselseitigkeit von Produktion und Rezeption zu betonen. Dabei nimmt Giesecke immer wieder Bezug auf außereuropäische Kulturen und ihre Medien, etwa den Tanz in Indonesien oder, im folgenden Kapitel, auf die japanische Schrift, die anders als die europäische, die Trennung von Schrift und Bild bis heute unterläuft. Medien- und kommunikationstheoretisch bewegt sich Giesecke dabei in den Fußstapfen vor allem von McLuhan und Luhmann. Von Ersterem übernimmt er die Idee der Vernetzung, besonders in Absetzung der elektronischen Medien vom Buchdruck, von Letzterem den Gedanken der Funktionalisierung von Kommunikation. Die Verbindung von Vernetzung und Funktionalisierung scheint hierbei die spezifisch abendländische Entwicklung der Medienkultur zu charakterisieren: Nur über die Analyse dieser Verknüpfung erschließt sich ein Zugang zu der besonderen Kommunikationssituation der Posttypografie.

Sind die ersten Modelle noch überzeugend, konfrontiert Giesecke uns im Laufe des Kapitels mit einer Vielzahl von Triaden, die den Eindruck vermitteln, als funktionieren Kommunikationsmodelle nur dann, wenn sie triadisch sind, was zu einer gewissen Starrheit und Überladung des Ansatzes führt. So etwa wenn Giesecke feststellt, dass es drei unterschiedliche Informationstypen gibt, wenn Kulturen als triadische Informationssysteme untersucht werden (was tautologisch ist): Daten der Wahrnehmung, Programme der Verarbeitung und Werte, die die Auswahl der Programme steuern (S. 279). Kommunikationsmodelle dieser Art sind auf Effizienz angelegt, sie sind aber nicht in der Lage, Aspekte der Störung, des Unterlaufens von Kommunikation zu beschreiben. Was ist mit den Daten, die einströmen, sich aber nicht verarbeiten lassen, für die es keine oder nur unausgereifte „Programme“ gibt? Hier scheint sich ein Unterschied zwischen Strömungen der Kommunikations- und der Medienwissenschaft aufzutun. Während Erstere stärker das Funktionieren der Kommunikationsprozesse in den Blick nimmt, beschäftigt sich Letztere mehr mit den Irritationen, Mehrdeutigkeiten, Intransparenzen und Inkommensurabilitäten. Dies ist nicht als Einwand gegen Gieseckes Studie zu verstehen, soll allerdings Zweifel anmelden an möglichen Alleinvertretungsansprüchen von triadischen Medienmodellen, die ihrerseits immer Gefahr laufen, eine abendländische Denkperspektive seit Hegel fortzuschreiben.

Im letzten Kapitel schließlich nimmt Giesecke den Leser auf eine Entdeckungsfahrt nach Japan mit, die aus medienkomparatistischer Perspektive außerordentlich gewinnbringend ist. Zwar weiß man aus einigen einschlägigen Texten, etwa Roland Barthes’ „Das Reich der Zeichen“, bereits um die andere Wahrnehmung der Materialitäten des Alltags und der Kommunikation in Japan, doch ist Gieseckes Studie historisch und theoretisch weit präziser. 3 Es wird deutlich, dass der Produktionsprozess der Kommunikatoren, hier der Schrift, anders als in Europa, nicht vom Kommunikationsprozess zu trennen ist. Hat sich die europäische Kultur auf eine weitgehende Codifizierung der Schrift geeinigt, sind in Japan, wenigstens bis vor kurzem, Strukturen, Rhythmen, Bewegungen des Schreibens Teil der Mitteilung, ist die Trennung zwischen Malen und Schreiben, zwischen Text und Bild weit geringer als in Europa (der Fokus des Kapitels liegt auf dem Japan der Edo-Zeit). Im abendländischen Schriftbild der Neuzeit zählt die Morphologie, nicht die Genese, die in Japan Teil des Inhalts ist. Das Kapitel betrachtet allerdings nicht nur materielle und ästhetische Komponenten der Schriftkulturen auf komparatistische Weise, sondern bezieht andere Faktoren ein, etwa politische Fragen nach dem Urheberrecht sowie kulturelle Ordnungselemente, zum Beispiel die Bewertung von Maschinen, Werkzeugen und Feuerwaffen. Sie verdeutlichen den weiteren Kontext der kommunikativen Welt Japans in die auch das Wissen um die Schrift eingebettet ist.

Das Buch Gieseckes, das den Zuarbeiten Georg Elwerts und insbesondere Shiro Yukawas viel verdankt, ist ein wichtiger Beitrag zur Vertiefung unseres Verständnisses der Schriftkultur und ist besonders in den historischen Detailstudien und kulturvergleichenden Abschnitten gelungen. Die aufgeführten Konsequenzen der posttypografischen Entwicklungen der Gegenwart, die Giesecke im Ausblick beschreibt, können allerdings nicht mehr besonders überraschen und sind inzwischen weitgehend bekannt. Eine Lektüre lohnt sich daher vor allem zur Vertiefung des typografischen Wissens.

Anmerkungen:
1 Giesecke, Michael, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2006.
2 Ders., Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Frankfurtam Main 2002.
3 Barthes, Roland, Das Reich der Zeichen, Frankfurt am Main 1981.

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