Thum, Gregor (Hrsg.): Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 3-525-36295-1 215 S., 19 Abb. € 19,90

: Die Deutschen und der Osten. Feindbild und Traumland. Darmstadt 2007 : Primus Verlag, ISBN 978-3-89678-343-1 158 S., 20 Abb. € 19,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Oliver Loew, Deutsches Polen-Institut Darmstadt

Deutschlands Beziehungen zum Osten sind mannigfach und komplex. Freiwillige und erzwungene Migrationen, Kriege, Besatzungszeiten, verwandtschaftliche Kontakte – all dies führte dazu, dass bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg mehr Einwohner Deutschlands etwas mit dem östlichen Europa zu tun hatten als mit dem Westen des Kontinents. Erst der Massentourismus der Nachkriegszeit und die europäische Integration sollten hieran etwas ändern. Allerdings war die Perzeption des Ostens ungleich verteilt. Neben den überaus zahlreichen Erfahrungen einfacher Menschen (Arbeiter, Soldaten) standen die so oft durch die preußisch-deutsche Brille gefilterten, überheblichen, paternalistischen oder zumindest höchst partiellen Perspektiven der Eliten, die den kulturellen Resonanzkörper des Ostens aufgrund ihrer traditionell nach Westen gespitzten Ohren kaum wahrnahmen.

Der Osten schien zwar fremd und fern zu sein, war aber aufgrund seiner vermeintlichen Fremdheit und Exotik oft auch Ziel irrationaler Sehnsüchte. Zwei neue Bücher über die deutsche Wahrnehmung des Ostens operieren bereits im Titel mit dem Begriff „Traumland“: Wolfgang Wippermanns Werk stellt das von fiktiven Bildern narrativ überlagerte östliche Gefilde dem Topos „Feindbild“ gegenüber und will deutsche „Geostereotype“ untersuchen, während Gregor Thum in dem von ihm herausgegebenen Sammelband filigraner die eigenartige Verquickung „von Nähe und Exotik“ (S. 8), von „Angst und Arroganz“ (S. 189) herausarbeiten möchte.

Thum und seine sieben Mitautoren (darunter nur eine Autorin) wollen deutsche Wahrnehmungen, Bilder und „Vorstellungen über den Osten“ (S. 11) darstellen. Der „Osten“ wird hierbei sehr weit verstanden und umfasst Russland sowie „Zwischeneuropa“ als Übergangszone zu Mittel- und Westeuropa, mithin den „deutschen Osten“ der einst deutschen oder deutsch besiedelten oder der deutschen Interessenzone zugehörigen Teile Ostmittel- und Südosteuropas.

In seinem eigenen Beitrag erläutert Thum zunächst die Begriffsgeschichte des Phänomens, das erst mit der Konstruktion einer preußisch-deutschen „Ostmark“ an der Wende zum 20. Jahrhundert greifbar wird. Deutsche Großmachtpolitik, Annexionsträume im Ersten Weltkrieg, die Grenzkämpfe nach dessen Ende und die völkische Grundierung nationaler Zeitläufe in der Zwischenkriegszeit erlaubten die Umdeutung zum „deutschen Osten“. Besonders erhellend ist in diesem Zusammenhang die Einbeziehung der modernen Kolonialforschung. Nach Jahrzehnten der kolonialpolitischen Propaganda, vor allem auch der Konstruktion kolonialer Sehnsuchtshorizonte, konnte der „deutsche Osten“ nach dem Verlust der Kolonien zur neuen Projektionsebene kolonialer Phantasien werden, was Thum auch durch Zitate Adolf Hitlers belegt (S. 194f.). Unberücksichtigt bleibt jedoch, dass die Kolonialrhetorik bereits seit Friedrich II., spätestens aber seit den Paulskirchendebatten von 1848 das deutsche Bild vom Osten prägte. Parallel zur Kolonialexotik trauerte man nach 1919, vor allem aber nach 1945 in Deutschland dem Osten als „verlorenem Paradies“ nach – einem Paradies mit Elchen, Waldeinsamkeit und heiler Welt. Dieses nach Zerstörung und Vertreibung weitgehend frei konstruierbare „konservative Traumland“ (S. 207) sei, so Thum in seinem bemerkenswert gut geschriebenen Beitrag, erst durch die Flut der authentischen Bilder nach 1989 überlagert und in Frage gestellt worden.

Es ist gut, dass Thums Blick nach Osten in diesem Sammelband durch die Ergebnisse weiterer Forschungen regional erweitert und methodisch zugespitzt wird. Gerd Koenen schildert auf der Grundlage seines Buches von 20051 „deutsche Ostorientierungen in der Weltkriegsphase“. Er hebt hervor, dass durch die Geschehnisse und Folgen des Ersten Weltkriegs erstmals der „Westen“ als „gemeinsames Set von Zielen und Prinzipien“ (S. 26) im Gegensatz zu Deutschland und Sowjetrussland konstruiert werden konnte. Deutschland und Russland hätten sich – nicht zuletzt durch die dichterische Vermittlung Dostojewskis – zu gegenseitigen Bezugsgrößen entwickelt und für „das jeweils andere Land, Volk und Reich als das natürliche Objekt und Komplement eigener Größenphantasien und universaler Selbstberufungen“ gedient (S. 38).

Vejas Gabriel Liulevicius konzentriert sich auf die Jahre des Ersten Weltkriegs. Durch die Fronterfahrungen von Millionen von Deutschen sei der Osten in der deutschen Wahrnehmung zu einem „Kriegsland [...], einem apokalyptischen Raum“ geworden (S. 47). Diese These wird allerdings nur durch zwei zeitgenössische Kriegsbücher deutscher Autoren gestützt, bietet also noch viel Raum für weitere Forschung. Eine Leerstelle besetzt Karl Schlögel: Er porträtiert den heute vergessenen Erfolgsautor Edwin Erich Dwinger, der mit seinen autobiographisch geprägten Russlandromanen in der Zwischenkriegszeit ein breites Publikum erreichte. Leider bleibt hier jedoch unklar, wie Dwingers Schilderungen des Ostens „als Schule der Grausamkeiten und der Verrohung“ (S. 72) konkret aufgenommen wurden. Rezeptionsgeschichtlich ergiebiger ist Eduard Mühles Darstellung des „europäischen Ostens“ beim Historiker Hermann Aubin.2 Auch Aubins Blick auf den Osten war maßgeblich durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs geprägt; er sah die besetzten Landstriche als „weite eintönige Fläche“ an, „die zivilisatorisch geradezu ‚leer’ erschien“ (S. 114). Erst als Aubin 1929 an die Universität Breslau berufen wurde, schaltete er sich in die Ostforschung ein und war entscheidend an der Entstehung neuer Meistererzählungen vom Osten beteiligt, so von der angeblich ein Jahrtausend währenden deutschen Expansion in den „Ostraum“. Im „Dritten Reich“ politikberatend tätig, war Aubin auch nach dem Zweiten Weltkrieg als Hamburger Ordinarius „mit anhaltender Herablassung“ (S. 134) am Osten interessiert.

Besonders breitenwirksam war (und ist) die filmische Vermittlung von Bildern des Ostens. Kristin Kopp legt am Beispiel des Heimatfilms „Ich denke oft an Piroschka“ von 1955 sehr plausibel und unter Anlehnung an die Colonial Studies die kompensatorischen Absichten des Films dar: Der im Ungarn der Zwischenkriegszeit spielende Streifen „imaginiert [...] mittels einer individualisierten Liebesromanze ein Osteuropa, das sich nach deutscher Präsenz sehnt“ (S. 152). Und Jan C. Behrends widmet sich – auch er durch eine einschlägige Monographie ausgewiesen3 – der „Produktion des Sowjetuniondiskurses“ (S. 166) in der DDR. Die Bilder, die im „neuen Ostdeutschland“ über den Osten verbreitet wurden, waren – kaum überraschend – schablonenhaft und gerieten nach 1989 ganz schnell in Vergessenheit. Stefan Troebst schließlich zeigt, dass nicht nur der „deutsche Osten“ und das ferne Russland den Deutschen als Projektionsflächen dienten, sondern dass sich auch eine Region wie Mazedonien insbesondere in der Zwischenkriegszeit dafür anbot, als hier wie dort revisionistische Bestrebungen Parallelen nahe legten.

Wolfgang Wippermann geht das Thema in seinem Buch anders an. Ihn interessieren weniger die kulturwissenschaftlichen Perspektiven, sondern er verfolgt den Ansatz der klassischen Stereotypenforschung: Sein Ziel ist eine „Darstellung der Entstehung, Genese und Funktion des bzw. der deutschen Geostereotypen über den bzw. die Osten“ (S. 9). Wippermanns „Osten“ ist zudem sehr viel weiter gefasst. Am Ende des Buches untergliedert er den „Osten“ im Blick der Deutschen in vier Bereiche: den „religiösen Osten“ quasi als Erwartungshorizont der christlichen Kirchen, den „orientalischen“ Osten mit seinem „Morgenland“-Begriff, den geographisch wie auch immer definierten „europäischen Osten“ und den „politischen Osten“ insbesondere der Neuzeit (S. 121). Es ist allerdings fraglich, ob dieser definitorische Nachschlag den höchst komplexen Binnenstrukturen des Ostens und der deutschen Bilder vom Osten gerecht wird.

In neun Kapiteln verfolgt Wippermann die Entwicklung dieser Bilder. Zunächst präsentiert er im historischen Zeitraffer den „religiösen“ und den „orientalischen Osten“ auf netto 10 Seiten und schlägt den Bogen von der religiösen Funktion Jerusalems über das Parzival-Epos bis hin zu Kaffeekultur und Karl May. Nach diesen positiven Konnotationen folgt die Darstellung der negativen Bilder, des „gefährlichen Ostens“. Wieder ist das Panorama weit gespannt: Elb- und Ostseeslawen, Mongolen, der Kampf des Deutschen Ordens gegen die prußischen Heiden und seine Stilisierung dieses Kampfes, Türken, „Moscowiter“ und Russland sowie der „Slawismus“ als Feindbild der deutschen Linken und Ostjuden werden locker aneinandergereiht. Im Kapitel „Anziehender Osten“ folgen Belege für die konservative deutsche Bewunderung vor allem Russlands und seiner vitalen Kräfte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.

Ein weiterer Topos deutscher Ost-Bilder ist der „Drang nach Osten“. Wippermann stellt den Landesausbau in Mittel- und Ostmitteleuropa knapp dar und widmet sich dann ausführlich und mit vielen Zitaten der modernen Konstruktion einer deutschen „Kolonisationsbewegung“ durch die borussische, nationaldeutsche und völkische Geschichtsschreibung, ergänzt durch den nationalsozialistischen Blick nach Osten mitsamt Ostforschung, „Lebensraum“-Diskurs und Judenvernichtung.

Vier kurze Kapitel beschäftigen sich mit den Vorstellungen vom Osten nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere in Westdeutschland: Antikommunismus, neue Ostpolitik und die Entdeckung Mitteleuropas sind Wippermanns Erzählachsen, die ihn gelegentlich zu problematischen Verkürzungen verleiten. So sei die junge Bundesrepublik „eine ‚Feindbild-Demokratie’ gewesen, die sich ganz wesentlich durch die Abgrenzung vom Kommunismus im Osten definierte“ (S. 88). Ein zentrales Thema wie die Vorstellungen vom Osten in der DDR bleibt leider völlig unberücksichtigt. Dafür gelangen wir dann direkt in die Nachwendezeit, für die Wippermann in der Verunglimpfung der „Ossis“ das „alte Feindbild über den notorisch rückständigen, ja barbarischen Osten“ (S. 101) wiederauferstehen sieht, vor neuen deutschen Gedankenspielen an eine deutsche Dominanz im Osten warnt und gleichzeitig die im Zuge der „Panikmache“ (S. 107) vor Zuwanderung aus dem Osten verschärfte Asylgesetzgebung kritisiert. Schließlich schlägt der Autor den Bogen zum „clash of civilizations“. Der „neue Orientalismus“ sei eine Widerlegung von Huntingtons Thesen, da der Kampf nicht an der Grenze zur orthodoxen Welt ausgebrochen sei, sondern in der Konfrontation mit dem Islamismus liege.

Wippermanns Buch ist ein Parforce-Ritt durch die Stereotypengeschichte, mehr eine politisch argumentierende Essaysammlung denn eine synthetische Monographie. Neben pointierten Urteilen gibt es leider auch zahlreiche Lücken, denn Deutschlands Beziehungen zum Osten waren und sind von großer Mannigfaltigkeit. Gregor Thums Sammelband „Traumland Osten“ ist hingegen ein Buch über die schillernde Vielgestaltigkeit deutscher Vorstellungen vom östlichen Europa. Allerdings bietet es keine umfassende Darstellung, sondern reißt dieses spannende Arbeitsgebiet mit einigen wichtigen und einigen eher unwichtigen Beiträgen nur an. Somit ergänzen sich die beiden Veröffentlichungen, schöpfen das faszinierende Thema aber längst nicht aus. Wünschenswert wäre eine interdisziplinäre Ausweitung der Arbeit an den Beziehungsgeflechten und komplexen Vorstellungen des Ostens im Westen in Richtung Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaft, um Rezeptionsgewohnheiten auf der hochkulturellen Ebene und die Kulturtransferforschung mit zu berücksichtigen.

Anmerkungen:
1 Koenen, Gerd, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 bis 1945, München 2005 (rezensiert von Jan C. Behrends: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-039> 02.10.2007).
2 Vgl. auch Mühle, Eduard, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005.
3 Behrends, Jan C., Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR (1944–1957), Köln 2006 (rezensiert von Ragna Boden: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-215> 02.10.2007).

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