P. Kriedte: Taufgesinnte und großes Kapital

Cover
Titel
Taufgesinnte und großes Kapital. Die niederrheinisch-bergischen Mennoniten und der Aufstieg des Krefelder Seidengewerbes


Autor(en)
Kriedte, Peter
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Insituts für Geschichte
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
803 S.
Preis
€ 112,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Ebeling, Bonn

Als 1977 die Studie ‚Industrialisierung vor der Industrialisierung’1 erschien, schlugen die Wellen hoch. Wer von den Älteren erinnert sich nicht gerne an den Berliner Historikertag 1984? Eine Gruppe am Göttinger Max-Planck-Institut hatte die zunehmende Kritik am Paradigma der industriellen Revolution aufgegriffen und verschiedene neue wie auch ältere theoretische Konzepte zu einem umfassenden Konzept über die Voraussetzungen und Bedingungen der modernen Industriegesellschaft kombiniert.2 Im Zentrum stand die von den neo-malthusianischen Thesen Franklin Mendels3 abgeleitete Bedeutung der ländlichen Hausindustrie für den frühneuzeitlichen demographischen Wachstumsprozess, die Modernisierung der Landwirtschaft und die Entstehung eines landlosen Proletariats.4 Das Modell einer spezifischen protoindustriellen Familien- und Haushaltsökonomie konnte den Resultaten der danach zahlreich unternommenen Fallstudien freilich nicht standhalten. Gleiches gilt für andere Bausteine eines ohnehin nicht geschlossenen Konzepts.5 Die Diskussion über Protoindustrie und Proto-Industrialisierung hat sich seitdem deutlich abgekühlt bzw. auf einzelne Themenfelder verlagert. Lediglich Ulrich Pfister hat in den 1990er-Jahren nochmals ein umfassendes Modell vorgeschlagen.6

Dreißig Jahre nach ‚Industrialisierung vor der Industrialisierung’ erscheint nun das zweite Buch von Peter Kriedte zum Krefelder Seidengewerbe.7 Die Einleitung verzichtet dankenswerterweise auf eine Debattenrückschau und auf die Verteidigung eines Begriffs, der längst Eingang in die Schulbücher gefunden hat und immerhin geeignet ist, „ […] systematische Gesichtspunkte und solche, die den Prozeßcharakter der Verdichtung von Gewerberegionen im Verlauf der frühen Neuzeit und des beginnenden 19. Jahrhunderts betonen, zusammenzuführen“ (S. 20). Diejenigen, welche ein explizites theoretisches Konzept erwartet hatten, werden enttäuscht. Bezüge zu einzelnen Theorieelementen findet man im Anmerkungsapparat der Darstellung zur Einordnung der Fallstudie und Gewichtung ihrer Resultate.

Gleichwohl ist das Buch alles andere als eine rein empirische Studie. Die Schwerpunkte orientieren sich an den Besonderheiten des Krefelder Seidengewerbes. Zum einen sind dies die Rolle des städtischen Produktionsstandorts und das Stadt-Land-Verhältnis. Krefeld gehörte als „proto-industriellen Agglomeration“ zu einem neuen Städtetyp, war nach Köln und Aachen die drittgrößte Stadt am linken Niederrhein und hatte von allen preußischen Städten den höchsten Anteil gewerblich Beschäftigter. Die Bedeutung des urbanen Produktionsstandorts hatte im Wesentlichen ökonomische Gründe. Angesichts der herrschaftlichen Gemengelage in der Region übte die preußische Gesetzgebung mit ihrer strikten Trennung von gewerblich-städtischer und agrarisch-ländlicher Sphäre keinen entscheidenden Einfluss auf das Stadt-Land-Verhältnis aus. Die ländliche Hausindustrie blieb aufgrund der besonderen Erfordernisse des Seidengewerbes nur ein ergänzender Faktor. Hochwertige Produkte wurden weiterhin ausschließlich in der Stadt hergestellt. Der ländlichen Hausindustrie wurde in Teilen die Samtbandweberei überlassen, bei der niedrige Arbeitskosten wichtig, eine unmittelbare Kontrolle des Herstellungsprozesses eher zu vernachlässigen, Unterschlagungen und eine konkurrierende Nachfrage von Verlagen aus anderen Standorten in Kauf zu nehmen waren. Die Nachteile wurden durch den Einsatz von Webermeistern (im Krefelder Seidengewerbe Fabrikenmeister genannt) als Unterverleger minimiert, ein typisches Phänomen weiträumiger Verlagssysteme.

Zum zweiten werden die mennonitischen Kaufleute in den Mittelpunkt gerückt, die insbesondere in Gestalt der von der Leyen-Dynastie das Krefelder Seidengewerbe des 18. Jahrhunderts geprägt haben. Als Verleger drangen sie in die Produktionssphäre vor und gaben dem proto-industriellen Kapitalismus seine spezifische Gestalt. Aus der Zugehörigkeit zu einer kleinen, geschlossenen Religionsgemeinschaft resultierte ein hohes Maß an innerem Zusammenhalt, der die Einhaltung von Normen bei Geschäftspraktiken erleichterte und einen Ersatz bot für fehlende institutionelle Regelungen in einem herrschaftsübergreifenden Aktionsraums sowohl im Produktion- wie im Distributionsbereich. Überregionale Heiratsverbindungen stellten ein verwandtschaftliches Netzwerk her, das mindestens für Handelsbeziehungen insbesondere in den Niederlanden genutzt wurde. Relativ rasch fielen dann aber die Grenzen zwischen den protestantischen Konfessionsgruppen. Heiratsverbindungen auf der Ebene der erfolgreichsten Familien aus dem Kreis der Kaufleuteunternehmer in den verschiedenen Standorten der rheinischen Protoindustrie legten die Grundlage für eine neue Führungsschicht, die in der französischen Herrschaftszeit auch ihre Abstinenz von politischen Ämtern aufgab. Bereits zuvor hatte der für die Anfangsphase typische und für die Kapitalbildung wichtige Konsumverzicht sein Ende gefunden.

In Hinblick auf die spezifische Gestalt der Krefelder Protoindustrie waren die staatlich verliehenen Monopolrechte für die von der Leyenschen Unternehmungen einflussreich. Sie bezogen sich auf den Gebrauch von Bandmühlen und damit auf bestimmte Produktsegmente, vornehmlich aber auf die Fixierung eines Nachfragemonopols (Monopson) auf dem Arbeitsmarkt. Die „Allianz zwischen ‚großem Kapital’ und Staat“ zwang konkurrierende Unternehmen zur Betriebsverlagerung, verfestigte die Strukturen des Krefelder Seidengewerbes und wirkte sich auf Dauer nachteilig auf den Modernisierungsprozess aus. Die Fortentwicklung des protoindustriellen Systems unter monopolfreien, konkurrenzorientierten Bedingungen wurde letztlich erst durch den Herrschaftswechsel infolge der französischen Besetzung des linken Rheinlandes erzwungen. Durch den bereits im 18. Jahrhundert eingeleiteten, mit Beginn des 19. Jahrhunderts dann beschleunigten Prozess der Aristokratisierung schied das Wirtschaftsbürgertum des Ancien Régime als Motor der weiteren Entwicklung des protoindustriellen Systems aus. Diese ging in die Hände einer neuen Unternehmerschicht über, wobei eine Entwicklung vom Verleger über den im 18. Jahrhundert sich entwickelnden Mischtyp des Verleger-Manufakturunternehmers zum Fabrikunternehmer keineswegs zwingend war. Die Ablösung der alten, unter Monopol- bzw. Oligopolbedingungen herangewachsenen Großverlage durch kleinere, weniger kapitalkräftige Verlage beförderte zunächst die Auslagerung einzelner Leistungen auf Lohnunternehmungen wie beim Einkauf der Rohseide oder beim Färben. Das von den Altverlegern gepflegte paternalistische Unternehmensmodell zur Vermeidung von Nachfragekonkurrenz verlor mit der Normierung der Arbeitsbeziehungen durch das französische, von Preußen später übernommene Recht seinen Sinn. Die als Arbeiteraristokratie bezeichnete Gruppe der Fabrikmeister musste ihre Vermittlungsposition zwischen Werkstattsystem und Verleger abgeben. In Kleinmanufakturen übernahmen Kontoristen und Werkmeister ihre Aufgaben, im weiterhin auch bestehenden Verlagssystem gingen sie in der Masse der Lohnweber unter.

Das Ancien Régime habe dem Krefelder Seidengewerbe seinen Stempel aufgedrückt, bemerkt Kriedte zur der Bewertung der staatlich garantierten Monopolrechte. Ein Sonderfall war Krefeld gleichwohl nicht. Ähnliche Begünstigungen einzelner Unternehmungen gab es in den anderen protoindustriell geprägten Gebieten der nördlichen Rheinlande und darüber hinaus auch. Da es nicht um Absatzgarantien wie etwa in den preußischen Kernprovinzen sondern hauptsächlich um den ungeteilten Zugriff auf das Arbeitskräftepotential ging, lassen sich diesen Monopolrechten als funktionale Äquivalente auch jene institutionellen Formen an die Seite stellen, die ebenfalls auf ein Angebotsmonopol gegenüber den verlegten Heimarbeitern zielten. Die Feine Gewandtschaft in Monschau ist ein Beispiel dafür. Schon die Durchsetzungskraft des Krefelder Seidengewerbes wie auch etwa der des Monschauer Feintuchgewerbes auf umkämpften Märkten lässt an einer Bewertung institutioneller Faktoren als Wachstumshemmnis zweifeln, wie sie jüngst wieder von Sheilagh Ogilvie vorgenommen wurde.8
Das Buch wird nicht nur auf Jahre wenn nicht auf Jahrzehnte die maßgebliche Darstellung zum Krefelder Seidengewerbe bleiben. Allein die Fülle des herangezogenen seriellen Quellenmaterials legt die Meßlatte für zukünftige Forschungen sehr hoch, auch wenn man sich zu der einen oder anderen Frage noch eine intensivere Nutzung gewünscht hätte (etwa was die Handlungsstrategien der Heimarbeiterschaft und die Frage Klassenbildung jenseits symbolischer Akte angeht). Es liefert einen wichtigen Baustein für eine Typologie der protoindustrieller Regionen und wird hoffentlich die Diskussion neu befruchten.

Anmerkungen:
1 Peter Kriedte, Hans Medick u. Jürgen Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Lande in der Formationsperiode des Kapitalismus (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 53), Göttingen 1977.
2 Zum Diskussionsstand Anfang der 1970er-Jahre siehe Richard u. Charles Tilly, Agenda for European Economic History in the 1970s, in: The Journal of Economic History 31 (1971), S. 184-198.
3 Franklin F. Mendels, Industrialization and population pressure in eighteenth-century Flanders, Diss. Wisconsin 1969, gedr. New York 1981.
4 Eine Vorreiterrolle hatte die Untersuchung von David Levine, Family formation in an age of nascent capitalism, New York 1977.
5 Eine Zusammenfassung der Debatte bis zur Mitte der 1990er-Jahre bei Markus Cerman u. Sheilagh C. Ogilvie, Theorien der Proto-Industrialisierung, in: dies., (Hrsg.), Proto-Industrialisierung in Europa: Industrielle Produktion vor dem Fabrikszeitalter, Wien 1994, S. 9-21; Zur Auseinandersetzung mit der Kritik siehe Peter Kriedte, Hans Medick u. Jürgen Schlumbohm, Die Protoindustrialisierung auf dem Prüfstand der historischen Zunft. Antwort auf einige Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 87-105; dies., Eine Forschungslandschaft in Bewegung. Die Proto-Industrialisierung am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1998/2, S. 9-20.
6 Ulrich Pfister, Die Zürcher Fabriques. Protoindustrielles Wachstum vom 16. zum 18. Jahrhundert, Zürich 1992; siehe auch ders., A general model of proto-industrial growth, in: René Leboutte (Hrsg.), Proto-Industrialization, recent research and new perspectives, Genf 1996, S. 73-92; ders., Proto-industrielles Wachstum: ein theoretisches Modell, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1998/2, S. 21-47; ders., Protoindustrie und Landwirtschaft, in: Dietrich Ebeling u. Wolfgang Mager (Hrsg.), Protoindustrie in der Region. Europäische Gewerbelandschaften vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Bielefeld 1997, S. 57-84; Pfister hat sich auch zu einigen Teilthemen geäußert; siehe zur Rolle der Haushalte ders., The protoindustrial household economy: Toward a formal analysis, in: Journal of Family History 17/2 (1992), S. 201- 232; zuletzt zur Rolle der Institutionen ders., Protoindustrielle Produktionsregimes in institutionenökonomischer Perspektive, in: Karl-Peter Ellerbrock u. Clemens Wischermann (Hrsg.), Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 160-178.
7 Das erste Buch (Eine Stadt am seidenen Faden. Haushalt, Hausindustrie und soziale Bewegung in Krefeld in der Mitte des 19. Jahrhunderts [Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 97] Göttingen 1991) beschäftigte sich mit Krefeld in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
8 Sheilagh C. Ogilvie, State corporatism and proto-industry. The Württemberg Black Forest, 1580-1797, Cambridge 1997; siehe auch: dies, Soziale Institutionen und Proto-Industrialisierung, in: Markus Cerman u. Sheilagh C. Ogilvie (Hrsg.), Proto-Industrialisierung in Europa: Industrielle Produktion vor dem Fabrikszeitalter, Wien 1994, S. 35-49; dies, Soziale Institutionen, Korporatismus und Protoindustrie. Die Württembergische Zeugmacherei (1580-1797), in: Dietrich Ebeling u. Wolfgang Mager, (Hrsg.), Protoindustrie in der Region. Europäische Gewerbelandschaften vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Bielefeld 1997, S. 105-138.

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