J. Andres: Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik

Titel
"Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet". Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Andres, Jan
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Campus Verlag
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gunilla Eschenbach, Deutsches Literaturarchiv Marbach

Die vorliegende Studie entstand im Rahmen des Teilprojekts „Huldigungen. Zum Wandel politischer Kommunikation im 18. und 19. Jahrhundert“ im SFB 584 an der Universität Bielefeld, „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“. Es ist eine germanistische Dissertation mit einer fächerübergreifenden Anlage, die sich einer literaturwissenschaftlichen Kulturwissenschaft verpflichtet sieht. Ausgehend von literarischen Texten betrachtet sie die „gestaltende, produktive Kraft des Ästhetischen im kulturellen Prozess“ (S. 294) und verwendet damit die Texte nicht als bloßes Quellenmaterial, sondern nimmt sie in ihrer ästhetischen Verfasstheit ernst.

Jan Andres vertritt in seiner Dissertation die These von der Ästhetizität des Politischen. Das Ästhetische ist, wie Andres betont, kein bloßes Beiwerk des Zeremoniells, sondern konstitutiv für die symbolische Gestaltung der Politik (S. 13). Sein Untersuchungsgegenstand, an dem er die Rolle der Literatur in der politischen Kommunikation entwickelt, sind panegyrische Kasualgedichte des „langen“ 19. Jahrhunderts. Huldigungsgedichte erscheinen als ästhetisch verfasste politische Sprachhandlungen in einer sich verändernden Öffentlichkeit. Sie sind eingebettet in ein politisches Zeremoniell, das als theatrale Handlung eine performative und eine ästhetische Dimension hat (S. 18).

Neben der Einleitung enthält das Buch neun Kapitel in zwei Teilen mit einem Exkurs sowie ein zusammenfassendes Schlusskapitel, ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister. Der transparenten und schlüssigen Gliederung im Großen entspricht eine klare und gut strukturierte Argumentation im Einzelnen. Im ersten, historisch orientierten Teil entfaltet Andres seine These von der Bedeutung der ästhetischen Form im politischen Zeremoniell am Beispiel des Huldigungsakts und weist einen Wandel im Herrscherlob von einer Anwesenheits-Öffentlichkeit hin zu einer medial vermittelten Lese-Öffentlichkeit nach (S. 124-141). Im zweiten, stärker literaturwissenschaftlichen Teil, fragt Andres nach den Funktionen von Gelegenheitslyrik in der politischen Kommunikation.

Andres konzentriert sich territorial auf das Königreich Preußen, dem wichtigsten deutschen Staat im 19. Jahrhundert, und auf das Fürstentum Lippe, das beispielhaft für die zahlreichen kleinen Fürstentümer steht (S. 11). Seine Quellen entnimmt er exemplarisch aus Zeitschriften, Einzeldrucken und gedruckten Berichten sowie aus Archivalien. Es geht Andres nicht um eine Geschichte der Huldigungen. Er leistet die historische Untersuchung in systematischer Absicht. Das zeigt sich sowohl in den symboltheoretischen als auch in den gattungstheoretischen Überlegungen des zweiten Teils. Andres zeigt, dass das Politische und das Symbolische strukturelle Parallelen aufweisen; beide sind akteursorientiert und performativ. „Das Symbolische ist eine der möglichen Ausprägungen und Konkretisierungen des Politischen, weil das Symbolische den Kommunikationsprozess initiiert, der das Konstituens des Politischen ist.“ (S. 185)

Um diesen Kommunikationsprozess zu erläutern, analysiert Andres im Verlauf seiner Studie ausgewählte Texte, die sehr unterschiedliche Grade an ästhetischer Elaboriertheit haben. Sie reichen von Hölderlins Ode „An eine Fürstin von Dessau“ bis hin zur typischen Gelegenheitslyrik, wie sie in Zeitschriften des 19. Jahrhunderts massenhaft verbreitet wird (bei diesen Beispielen hätte man sich die konsequente Auflösung der Namenskürzel gewünscht). Diese auf den ersten Blick irritierende Zusammenstellung erweist sich als klug gewählt, da Andres konsequent den Text als soziale Handlung und als autonomes Kunstwerk zugleich begreift – und um letzteres zu begründen, erweist sich Hölderlin eben als geeigneter als der fürstentreue Dorfschullehrer. Was Andres in seiner Analyse von Hölderlins Ode herausarbeitet, nämlich dessen religiöse Überhöhung der Fürstin im Sinne des Gottesgnadentums, gilt in ähnlicher Weise auch für die anderen Huldigungsgedichte. Spezifische Formen und Schreibweisen panegyrischer Dichtung begünstigen eine Emotionalisierung und Sakralisierung des Rechtsakts und machen somit den Text zum Bestandteil des ästhetischen Rituals.

Damit knüpft Andres an die Arbeit seines Doktorvaters Wolfgang Braungarts an. Er wendet Braungart an der Literatur der Moderne entwickeltes Theorie-Modell des ästhetischen Rituals auf eine andere Textsorte an und verändert insofern die Blickrichtung, als es ihm nicht um die rituellen Aspekte in der Literatur, sondern um die Rolle von Literatur im politischen Ritual geht. Doch auch in diesem weltlichen Zeremoniell ist die von Braungart gezeigte religiöse Dimension des Rituals präsent. Das kommt in bewussten Aufnahmen sakraler Gattungen und Schreibweisen zum Ausdruck: „Religiöse Praxis und herrschaftliche Praxis werden enggeführt.“(S. 99) Angesichts dieses Fortlebens des Religiösen im Zeremoniell wäre es interessant gewesen zu erfahren, inwieweit auch die konventionellen Huldigungsgedichte auf die Dichterrolle des poeta vates zurückgreifen und damit auf die literarische Tradition von Weissagungen und Herrscherprophetien.

Drei kleine Ergänzungen seien gestattet: Bei dem Lied „Das ganze Preußenlande“ anlässlich der Duisburger Huldigung zu Ehren Königs Friedrich Wilhelm IV. (1840) handelt es sich nicht um eine singuläre Strophenform (S. 87), sondern um eine Imitation der Strophenform des 1793 in der Speyerschen Zeitung erstmals gedruckten „Lieds für den deutschen Untertan“, das später mit dem Text „Heil Dir im Siegeskranz“ zur Kaiserhymne werden sollte. Und bei dem „Volk der Brennen“ handelt es sich, wie Andres richtig vermutet, aber nicht belegen kann (S. 232 und S. 235), um das Volk der Brenner, also der Brandenburger. Das brandenburgische Herrscherhaus wird so bereits in Kasualgedichten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts apostrophiert.

Auch das von Andres erwähnte hebräische Huldigungsgedicht (S. 88) hat Vorläufer im frühen 18. Jahrhundert, etwa in der Huldigung des Schutzjuden Simon Brandes mit einer kabbalistischen Auslegung des 21. Psalms anlässlich der Königskrönung Friedrichs III. im Jahr 1701. Dieser frühe Vergleichstext stützt Andres Interpretation. Hier wie dort ist dem hebräischen Text eine deutsche Erklärung beigefügt, ohne die der Text kryptisch bliebe und seine Funktion nicht erfüllte: „Kryptische Handlungen können aber nicht repräsentativ sein. Mit der Erklärung aber wird der an sich unverständliche Text zur symbolischen Handlung." (S. 89)

Die Arbeit löst ihren kulturwissenschaftlichen Anspruch in vollstem Maße ein. Sie trägt eine kulturwissenschaftliche Fragestellung an Texte heran, ohne deren Literarizität zu zerstören. Im Gegenteil: Gerade dieser ästhetische Mehrwert ist für Andres‘ Argumentation zentral. Positiv ist auch der äußerst kenntnisreiche Umgang mit den verschiedenen Definitionen der geschichts- und literaturwissenschaftlichen Fächer hervorzuheben. Es ist ein großes Verdienst dieser Arbeit, die klaffenden methodischen und terminologischen Lücken zwischen historischer und literaturwissenschaftlicher Arbeit zu verkleinern, wenn nicht zu schließen. Für die zentralen Begriffe Repräsentanz und Symbol werden fächerübergreifende Definitionen entwickelt, so dass ein gemeinsames terminologisches Arbeitsinstrumentarium geschaffen wird. Kein geringes Lob gebührt zuletzt auch dem Campus Verlag für eine ansprechende Gestaltung in Layout und Druck.