K. Herbers u.a. (Hrsg.): Grenzräume und Grenzüberschreitungen

Cover
Titel
Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Der Osten und der Westen des mittelalterlichen Lateineuropa


Herausgeber
Herbers, Klaus; Jaspert, Nikolas
Reihe
Europa im Mittelalter 7
Erschienen
Berlin 2007: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
459 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Härtel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Allerorten wird verglichen, aber warum sollte man überhaupt zwei (oder mehr) Dinge in Relation zueinander setzen und nicht einfach ein jedes für sich betrachten?1 Vor allem zwei Vorteile verspricht ein komparatives Verfahren. Zum einen ermöglicht es der Vergleich, Probleme und Fragen zu identifizieren, die man ohne ihn nicht oder nur schwer erkennte und stellte. Marc Bloch sprach diesbezüglich von der „Entdeckung der Phänomene“.2 Zum anderen befähigt die comparatio den Wissenschaftler dann zur angemessenen „Interpretation“3 vergangener Sachverhalte: Sie lässt – nach Bloch – Ähnlichkeiten verschiedener Milieus hervortreten, die den Blick auf allgemeine Ursachen freilegen. Gleichsam gestattet der Vergleich die Wahrnehmung von Unterschieden und somit die Erkenntnis der besonderen Konstitution der untersuchten Fälle.

In beiderlei Hinsicht – auf heuristischer wie auf inhaltlich-analytischer Ebene – hoffen auch Klaus Herbers und Nikolas Jaspert, vom vergleichenden Verfahren profitieren zu können. Der von ihnen herausgegebene Sammelband „Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich“ vereint 18 Beiträge von Fachleuten der ostmitteleuropäischen Geschichte auf der einen Seite und der südwesteuropäischen Vergangenheit, also der Geschichte der Iberischen Halbinsel, auf der anderen. Bei den Aufsätzen handelt es sich um die schriftlichen Vortragsfassungen einer dreitägigen Tagung, die im Oktober 2004 in Erlangen stattfand und Mediävisten aus Deutschland, England, Frankreich, Polen, Portugal und Spanien versammelte.

„In der Tat ist der Vergleich unser wichtigstes Anliegen“ (S. 10) lassen die Herausgeber in ihrer Einführung wissen. So zählen sie zu ihren expliziten Intentionen erstens das Bemühen, „die Ergebnisse der Forschung zu diesen räumlich und kulturell unterschiedlich beschaffenen Grenzgesellschaften zusammenzuführen“ (S. 11). Zweitens soll dem Mangel an bisherigen vergleichenden Einzeluntersuchungen abgeholfen werden, denn: „Erst der Vergleich ermöglicht die Beantwortung von Fragen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden“ (S. 10). Ergänzend treten drittens transfer- bzw. beziehungsgeschichtliche Überlegungen hinzu, indem in mehreren Beiträgen die „Frage nach dem Wandel von Ideen, Konzepten und Bräuchen bei der Übertragung von einer Kultur in die andere“ (S. 17) verhandelt wird.

Die beiden peripheren Großräume Lateineuropas sollen „unter dem Paradigma der Grenze zueinander in Beziehung“ (S. 10) gesetzt werden. Um eine wechselseitige Zuordnung der regionenspezifischen Beiträge zu ermöglichen, werden weitere untergeordnete Themenbereiche bestimmt, die den Herausgebern zufolge sowohl für die Gesellschaften der Iberischen Halbinsel als auch Ostmitteleuropas „grenzraumtypische Herausforderungen“ (S. 11) darstellen: Jeweils ein Experte für die Geschichte des östlichen Lateineuropa sowie ein Fachmann für die Geschichte der Hispania schreiben zu Themen in den Sektionen Kolonisierung und Herrschaftssicherung, Minderheiten im Grenzraum, Grenzen und kultureller Transfer sowie Kirche und Kultus – Strukturierung und Sakralisierung von Grenzräumen.4

Was sind die Ergebnisse der „komplementär-kontrastiven“ Beiträge (S. 10) bzw. Beitragspaare? Auf heuristischer Ebene sind die Erträge der Vergleichspaare unter den Aufsätzen im Ganzen gering. Vieles steht nebeneinander, ohne dass Verbindungen gezogen werden oder Reflexionen einsetzen. Dies lässt sich insbesondere an Terminologie und Konzeption der Grenze erläutern, die im Sammelband von zentraler, aber vor allem vielfältiger Bedeutung ist.5 Dieses Defizit bestimmt die unterschiedliche Konzeption etlicher Aufsatzpaare und erschwert einen Erkenntnis fördernden Vergleich: In der Erforschung der Geschichte der Hispania dominiert die Auffassung beweglicher und vielfältiger kultureller Grenzen bzw. Grenzlinien, während man sich im Bereich des ostmitteleuropäischen Mittelalters in stärkerem Maße an der Konzeption von Herrschaftsräumen orientiert. Forschungspraktisch bedeutet dies, dass sich Historiker des mittelalterlichen Spanien in selbstverständlicher Weise der zwei Seiten jedweder Grenze bewusst sind. Interessante Überlegungen weiß beispielsweise Jean-Pierre Molénat anzustellen, wenn er den Status von Christen unter muslimischer Herrschaft und umgekehrt von Muslimen in christlich beherrschten Gebieten erörtert. Hingegen ist auffällig, wie die Autoren der ostmitteleuropäischen Aufsätze sich sehr viel stärker an der Vorstellung von sich ausweitenden Räumen orientieren, was den Blick auf eine andere Seite weniger naheliegend erscheinen lässt. So vergleicht z.B. Christian Lübke zwei Stationen der Ausweitung Lateineuropas, das Entstehen einer „Germania Slavica“ und einer „Polonia Ruthenica“, aber versäumt es, von einer anderen Seite – was zumindest im Fall der Begegnung mit dem orthodoxen Christentum möglich wäre – auf die Geschehnisse zu blicken. Nicht einzusehen ist, wieso Matthias Maser, der aufschlussreiche Überlegungen zum Verhältnis von Übersetzungen und interkultureller Kommunikation anstellt, unter anderem muslimische Adaptionen lateinischer Historiografie sowie lateinische Übersetzungen arabischer Historiografie analysieren kann, während Felicitas Schmieder in ihren Überlegungen die Berücksichtigung der Tätigkeit griechischer Missionare, die sich erfolgreich an die Slawen wandten, mit dem Argument zurückweist, dieser Transfer sei nicht Teil des Kulturtransfers an der Peripherie Lateineuropas, sondern vollziehe sich außerhalb.

Die beobachteten Schwierigkeiten in heuristischer Hinsicht wiederholen sich auf der inhaltlich-analytischen Ebene des Vergleichs. Die ungefähre Benennung von gemeinsamen Oberthemen genügt offensichtlich nicht, um die Erörterung des gleichen Phänomens durch zwei Historiker in den von ihnen untersuchten Gebieten zu gewährleisten. So werden in kaum einem der einander zugeordneten Beiträge dieselben Probleme behandelt oder gelangen jeweils lediglich sehr ungleichgewichtig zur Sprache. Von den insgesamt neun Aufsatzpaaren seien zwei hervorgehoben, in denen die Identifikation gleicher Phänomene annäherungsweise glückt. So behandeln sowohl Nora Berend als auch Eduardo Manzano Moreno Fragen der Wahrnehmung und Bedeutung ethnischer Differenz in durch Migrationen geprägten Gesellschaften. Beide Historiker beschreiben die Nutzenerwägungen, mit denen die Herrschenden Vereinbarungen mit Vertretern der Minderheiten schlossen: in Ungarn unter anderem mit Immigranten aus unterschiedlichsten Regionen der lateinischen und griechischen Christenheit, mit Muslimen, Juden und nomadischen Volksgruppen; in al-Andalus mit den Nachkommen gotischer Christen, wobei sich die Gesellschaft weiter in arabische und berberische Muslime teilte. Berend und Manzano Moreno betonen Assimilationsprozesse von unterschiedlicher Intensität und das Entstehen neuer lokaler Identitäten: in Ungarn die allgemeine Ausbildung einer gens monarchie, auf der Iberischen Halbinsel das erneute Berufen der Aufständischen der Omaijaden-Zeit auf eine alte gotische Herkunft. Auf gemeinsame Probleme stoßen auch Jerzy Strzelczyk und José Luis Martín Martín in ihren Überblicken, die Fragen der Kirchenorganisation in Polen und auf der Iberischen Halbinsel gewidmet sind: z.B. die Frage des Umgangs mit älteren Kircheninstitutionen – orthodoxen auf der einen, westgotischen auf der anderen Seite – oder die Folgen der Auswahl ortsfremder Kleriker –, polnischer in den ruthenischen Gebieten, fränkischer in der Hispania. In unterschiedlicher Ausführlichkeit thematisieren beide die Haltung der Kirche bzw. einzelner ihrer Vertreter gegenüber Andersgläubigen.

Was schließlich das dritte Anliegen der Herausgeber, den Beitrag des Bandes zu Beziehungs- und Transfergeschichten, betrifft, gilt es zu differenzieren: Zunächst werden in einzelnen Aufsätzen auch Fragen des kulturellen Austauschs behandelt. Zum Teil offenbaren sich neue Einsichten, wenn z.B. das Nebeneinander einer starren religiösen Trennung, aber eines regelmäßigen Austauschs im sonstigen Alltagsleben konstatiert wird (Christian Lübke; bedingt auch Jürgen Lang zu Spanien), oder eine Schichtenspezifität von Sprachverbreitungen zu bemerken ist (Christiane Schiller über Litauen). Auch stellt sich die Frage, warum trotz räumlicher Nähe und Glaubensübereinstimmung in manchen Fällen keine oder nur geringe Transferprozesse zu beobachten sind, man denke an die deutschen Siedler in Transsylvanien (Nora Berend) oder die fränkischen Immigranten in der Hispania (Pascual Martínez Sopena). Wollte man dann aber in einem zweiten Schritt Beziehungsgeschichten und transferanalytische Beobachtungen in den zwei Peripherien Lateineuropas vergleichen, wäre man mit denselben Schwierigkeiten wie im Falle anderer Phänomene konfrontiert: Die unterschiedlichen Zuschnitte und thematischen Konzentrationen der Beitragspaare stehen einer systematischen Gegenüberstellung entgegen.

Somit bleibt der Ertrag der „Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich“ alles in allem unbefriedigend: Gewiss finden sich einzelne originelle und anregende Aufsätze unter den Beiträgen, aber in der paarweisen Zusammenstellung, die ein komparatives Verfahren ermöglichen soll, funktioniert kaum einer der Doppelbeiträge. Klaus Herbers und Nikolas Jaspert haben mit ihrer Erlanger Tagung einen mutigen Vorstoß ins Feld einer vergleichenden europäischen Geschichtswissenschaft gewagt. Dabei ist wieder einmal deutlich geworden, welch enger Kooperationen und genauer Absprachen es bedarf, um ein Vergleichsprojekt in Gemeinschaftsarbeit zu realisieren. Wie auch immer man in Zukunft vorgehen mag – vieles bleibt vom guten Willen der beteiligten Fachvertreter abhängig und ihrer Fähigkeit, sich auf die Fragen von Historikern jeweils anderer Regionen einzulassen. Schwerhörige, von denen Marc Bloch 1928 sprach und deren missverständlichen Dialog er als Kunstgriff der Komödie, nicht aber als intellektuelle Übung abtat 6, sind wir jedenfalls – eigentlich – nicht.

Anmerkungen:
1 Nur exemplarisch genannt seien für den Bereich der Geschichtswissenschaft: Haupt, Heinz-Gerhard; Kocka, Jürgen (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1996; Schnabel-Schüle, Helga (Hrsg.), Vergleichende Perspektiven. Perspektiven des Vergleichs. Studien zur europäischen Geschichte von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Mainz 1998; Kaelble, Hartmut, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1999. Als mediävistisches Beispiel: Borgolte, Michael (Hrsg.), Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs. Zwanzig internationale Beiträge zu Praxis, Problem und Perspektiven der historischen Komparatistik, Berlin 2001.
2 Bloch, Marc, Pour une histoire comparée des sociétés européennes, in: Revue de Synthèse Historique 46 (1928), S. 15–50; dt.: Für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung der europäischen Gesellschaften, in: Middell, Matthias; Sammler, Steffen (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der ANNALES in ihren Texten 1929 – 1992, Leipzig 1994, S. 121–167, hier S. 126. Zur „Entdeckung der Phänomene“ ebd., S. 126–130.
3 Bloch, Vergleichende Geschichtsbetrachtung, S. 130. Ausführlich zur „Interpretation der Phänomene“ dort S. 130–149.
4 Unter dem Gesichtspunkt der Grenze bzw. des Grenzraumes ist insbesondere im angelsächsischen Raum bereits mehrfach – wenn auch mit anderem geografischen Zuschnitt der Beiträge – vergleichend gearbeitet worden. Vgl. Bartlett, Robert; MacKay, Angus (Hrsg.), Medieval Frontier Societies, Oxford 1989; Power, Daniel; Standen, Naomi (Hrsg.), Frontiers in Question. Eurasian Borderlands, 700–1700, London 1999; Abulafia, David; Berend, Nora (Hrsg.), Medieval Frontiers: Concepts and Practices, Aldershot 2002.
5 Dieser Mangel ist umso beklagenswerter, da Vorstellungen zum mittelalterlichen und neuzeitlichen Grenzverständnis seit langem in der Geschichtswissenschaft verhandelt werden. Vgl. bereits Febvre, Lucien, Frontière, in: Revue de Synthèse Historique 45 (1928). Appendice: Bulletin du Centre International de Synthèse. Section de Synthèse Historique 5, S. 31–44. Leider trägt auch ein Beitrag Nikolas Jasperts im Sammelband, der theoretisch-definitorischen Fragen gewidmet ist, nicht zu einer Konkretisierung bei, sondern belässt es bei einer Vorführung der Vielfalt von Grenzen, ihrer Wahrnehmung und ihrer Funktionen.
6 Bloch, Vergleichende Geschichtsbetrachtung, S. 159.

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