J. Fürst (Hrsg.): Late Stalinist Russia

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Titel
Late Stalinist Russia. Society between Reconstruction and Reinvention


Herausgeber
Fürst, Juliane
Reihe
BASEES/Routledge Series on Russian and East European Studies
Erschienen
London 2006: Routledge
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 98,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maike Lehmann, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Stalinismus der 1930er-Jahre ist von Sheila Fitzpatrick einmal als ‚native habitat' des ‚homo sovieticus' bezeichnet worden.1 Konsens ist mittlerweile, dass Menschen in der Sowjetunion nicht nur Objekte staatlicher Kampagnen waren, sondern auch die Überlebens- und Karrieretechnik der Denunziation von ‚Klassenfeinden' nutzten und somit Teil hatten an der Verstetigung von Unsicherheit und sozialer Mobilität. Es waren die Erfahrungen aus dieser Zeit, die menschliches Handeln und politische Logik auf Jahrzehnte hinaus prägen sollten. Dies eruierte die Forschung der letzten 15 Jahre aber generell eher für die 1930er- Jahre. Der ‚Spätstalinismus' erscheint in dieser Perspektive trotz des Bruches des Zweiten Weltkriegs vor allem als Fortsetzung der Vorkriegszeit.2 Mit ‚Late Stalinist Russia' ist nun ein Sammelband erschienen, in dessen Nachwort Sheila Fitzpatrick feststellt, dass der Spätstalinismus sich nicht nur stark von den 1930er-Jahren unterscheide. Gerade in dieser Periode, konzediert Fitzpatrick, seien neue Konstellationen entstanden, die sich für die Entwicklung der Sowjetunion als dauerhaft prägend erweisen sollten (S. 276ff.). Sind somit die Nachkriegsjahre als ‚natural habitat' des ‚homo sovieticus' zu betrachten?

Der Herausgeberin Juliane Fürst war es darum zu tun, Beiträge zusammenzutragen, die die Neubestimmungen des Stalinismus nach 1945 in den Blick nehmen. Damit sollen nicht nur die Unterschiede und Kontinuitäten zu den 1930er-Jahren sowie die Wurzeln des Tauwetters nach Stalins Tod aufgezeigt werden. Ebenso soll die überkommene Periodisierung der sowjetischen Geschichte, die den Regierungsdaten des jeweiligen Ersten Parteisekretärs folgt, hinterfragt werden. Dabei ist ein Ensemble an Aufsätzen zusammengekommen, das einige interessante neue Einblicke in den Spätstalinismus bietet. Es deckt nicht nur die Hauptthemen der jüngeren Forschung ab, sondern macht begrüßenswerterweise auch ihre Lücken kenntlich.

Den Band eröffnet eine nach chronologischen Kriterien zusammengestellte Sektion mit Aufsätzen zur Geburtenpolitik (Mie Nakachi), dem Schicksal von Invaliden (Beate Fieseler) und der Rolle von Gerüchten (Timothy Johnston) in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dem folgen zwei Panoramen zu bäuerlichen Ausweichstrategien (Jean Levesque) und den Lebensbedingungen in der Stadt (Donald Filtzer). Daran schließt sich ein dritter Teil mit Detailanalysen zu neuen Institutionskulturen an, die Korruption und Klientelismus in ihrer Auswirkung auf die Sowjetordnung analysieren (James Heinzen und Cynthia Hooper). Sodann vereinigt ein Abschnitt zu Generationsfragen Arbeiten zu politischen Einstellungen von Veteranen (Mark Edele), Kriegsheroismus in Kinderbüchern (Ann Livschiz) und abweichenden Jugendkulturen (Juliane Fürst). Der Band schließt in Anschluss an den jüngeren Trend zu Raumtheorien mit zwei Aufsätzen zur Rolle von Stadt- und Lebensräumen: zum nun an Kriegsleistung ausgerichteten Anspruch auf Wohnraum (Rebecca Manley) und zur Besetzung urbaner Räume durch Staat und jugendliche Subkulturen (Monica Rüters).

Der asymmetrische Zuschnitt aus chronologischen, systematischen und theoriegeleiteten Abschnitten mag mehrere Ursachen haben: einerseits in dem Versuch, ähnliche Thematiken, wie etwa die der Kriegsveteranen, auf unterschiedliche Abschnitte zu verteilen; andererseits in der bisherigen Vernachlässigung des Spätstalinismus in der Forschung jenseits klassischer Politikgeschichte. Da ist es auch nicht verwunderlich, dass andere zentrale Bereiche wie Nationalitätenfragen im Vielvölkerreich Sowjetunion unangetastet bleiben, was zumindest der Titel des Bandes verdeutlicht: es soll hier um Russland gehen, nicht um die multiethnische Sowjetunion. Ebenso fehlen Beiträge zur gesellschaftlichen Verhandlung der den Spätstalinismus doch so prägenden staatlichen Kultur- und Wissenschaftspolitiken.

Trotzdem veranschaulichen die hier versammelten Artikel qualitative Veränderungen der Sowjetordnung im Spätstalinismus. Diesen Wandel macht die Herausgeberin in der Einleitung an vier Punkten fest: Erstens war die Sowjetunion eine Nachkriegsgesellschaft, in der das Kollektiv angesichts von Zerstörung, Traumatisierung und dem Versagen des Sozialsystems an Wert verlor. Dabei entstanden sowohl individuelle Überlebensstrategien wie auch eine Reihe von populären Diskursen, die zwar den Rahmen sowjetischer Normen oder Denkstile nicht verließen, sich jedoch jenseits der offiziellen Linie bewegten. Aus diesen Paralleldiskursen ergab sich zweitens eine neue Kontrollbesessenheit des Regimes. Dieser wurden jedoch Grenzen durch eine Bürokratie gesetzt, in der Korruption und Klientelsysteme im Interesse staatlicher Effektivität geduldet wurden. Dadurch erhielt die Sowjetordnung auf Jahrzehnte hinaus einen völlig neuen Zuschnitt. Drittens macht Juliane Fürst die Sowjetunion als eine Gesellschaft von Individuen aus. Neben entstehenden Lebensentwürfen jenseits offizieller Rollenmodelle soll diese Charakterisierung wohl auf eine akteurszentrierte Perspektive verweisen. Denn Individuen, so Juliane Fürst, waren situationsabhängig mal Repräsentanten des Regimes, mal seine Objekte oder gar Opfer. Entgegen der hartnäckigen These von einer Dichotomie Staat versus Gesellschaft ginge es hier eher um einen Dialog zwischen Individuen und Behörden. Und zwar darüber, was das ‚Sowjetische' beinhalten sollte oder konnte. Viertens sei der Spätstalinismus die Wiege vieler prägender Entwicklungen der späten Sowjetunion wie dem Nachlassen des Terrors, der Entwicklung einer Konsumgesellschaft sowie zunehmenden ideologischen Krisen. Vor allem bestimmte nun nicht mehr die "Klasse", sondern Kriegsverdienst und Besitz Status und Perspektiven sowjetischer Bürger. Die Einleitung verdeutlicht so grundlegende Unterschiede zu älteren Perspektiven und vermag den Spätstalinismus tatsächlich nicht nur als eigenständige, sondern auch grundlegende Periode zu kennzeichnen. Gleichzeitig greift sie ältere Sichtweisen auf, wie z.B. in Bezug auf die Trennung zwischen privaten und öffentlichen Sphären (S. 15). Gerade Letzteres wäre aber für die Jahrzehnte nach 1945 neu zu diskutieren.

Der Sammelband ist trotz der üblichen Probleme dieser Publikationsform eine Bereicherung. Gerade die Beiträge von Cynthia Hooper und James Heinzen sind ein Gewinn für die Forschung. So zeigt Hooper, wie bereits nach Kriegsende angesichts des Ausbleibens von in den 1930er-Jahren üblichen Kadersäuberungen Klientelismus, kriminelle Strukturen und ein neues Hierarchie- und Selbstverständnis in den Parteistrukturen entstanden. Denn nach 1945 setzte die Partei nicht mehr auf horizontale Kontrolle z.B. durch Denunziationen, sondern auf interne, nicht-öffentliche, vertikale und somit auch kontrollierbarere Informationskanäle. Deren Manipulation durch nun untereinander solidarische Parteieliten provozierte nicht nur meist erfolglosen Protest, sondern etablierte vor allem staatlich geduldete Netzwerke innerhalb des Parteiapparates und somit eine Zweiklassengesellschaft. Nicht mehr Klassenzugehörigkeit oder Enthusiasmus waren entscheidend, sondern der Status entweder eines "Normalbürgers" ohne Verbindungen oder eines "Kadermitglieds", das durch seine Vernetzung den allgemeinen Regeln nicht mehr unterworfen war. Anhand dieser Neuausrichtung der Sowjetordnung könnte man somit den Spätstalinismus tatsächlich als ‚native habitat' des ‚homo sovieticus' und Wiege eines Systems sehen, das unter Breschnjew zur vollen Blüte kommen sollte. Dies spiegelt sich auch im Beitrag von James Heinzen zum Umgang mit Bestechung innerhalb des Justizapparates und der damit einhergehenden Entleerung des in der Vorkriegszeit so zentralen Kampagnengedankens wider.

Viele Beiträge arbeiten vor allem die Rolle des Krieges als identitäts- wie statusrelevante Erfahrung für die Nachkriegsordnung pointierter heraus als frühere Arbeiten. Zwar war Status auch weiterhin von individueller Arbeitsfähigkeit abhängig, wie der Beitrag von Beate Fieseler zu Kriegsinvaliden zeigt. Fronterfahrung löste aber "Klasse" als hierarchierelevante Kategorie ab, sei dies in Bezug auf Anstellung, Konsumberechtigung oder Wohnraum. Veteranen artikulierten allerdings nun eine ganze Bandbreite von Weltanschauungen und brachten ein neues, dezidiertes Anspruchsdenken in Hinblick auf die sozialen Aufstiegschancen (Edele) zum Ausdruck. Eine neue Anspruchshaltung lässt sich aber auch bei der Nachkriegsgeneration beobachten, wie Juliane Fürst in Anschluss an ältere Arbeiten deutlich machen kann.3 So machte die heterogene jugendliche Subkultur der so genannten ‚stiliagi', die den Führungseliten mit ihrer Vorliebe für westliche Kleidung und Musik suspekt waren, einen neuen Anspruch auf Individualität und Anderssein geltend. Dabei mussten diese Jugendlichen nicht zwangsläufig einen Widerspruch zwischen dem ‚Sowjetischen' und ihrer Begeisterung für westliche Konsumgüter sehen. Wie Subkulturen und Staatsmacht nebeneinander existierten, kommt gerade auch in der raumorientierten Arbeit zur Gorkistraße in Moskau von Monika Rüthers zum Tragen.

Insgesamt vermag der Sammelband den Anspruch auf eine Neubestimmung des Spätstalinismus für die Geschichte der Sowjetunion einzulösen, auch wenn nicht alle Beiträge gleichermaßen überzeugen. Angesichts des Nebeneinanders von Sozial-, Kultur-, Struktur- und Betroffenheitsgeschichten wird der Sammelband zudem für Lehrveranstaltungen von großem Gewinn sein, die sich mit historiographischen Perspektiven auseinandersetzen wollen.

Anmerkungen:
1 In ihrem Klassiker: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, New York & Oxford 1999.
2 Dies mag in dem Mangel an kulturhistorischen Arbeiten zum Spätstalinismus auch nach der Öffnung der Archive begründet sein. Viele junge Forscher sind inzwischen zur Bearbeitung der Nachkriegsjahrzehnte vorgedrungen, widmen sich aber vor allem der Tauwetterzeit. Siehe z.B. das Themenheft der Cahiers de Monde Russe 47/1-2 (2006): Repenser le Dégel. Versions du socialisme, influences internationales et société soviétique. Sous la direction de Larissa Zakharova & Eleonory Gilburd; außerdem: Jones, Polly (Hrsg.), The Dilemmas of De-Stalinization. Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev Era, New York (u.a.) 2006. Zu den raren Pionierarbeiten über Alltag und Lebenswelten des Spätstalinismus zählen: Zubkova, Elena, Russia after the War. Hopes, Illusions and Disappointments, Armonk (u.a.) 1998; Dunham, Vera, In Stalin's Time. Middleclass Values in Soviet Fiction, Durham (u.a.) 1990.
3 Vgl. den vorwiegend auf publizierten Quellen basierenden Aufsatz von: Edele, Mark, Strange Young Men in Stalin's Moscow: the Birth and Life of the Stiliagi, 1945-1953, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 50 (2002), S. 37-61.

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